12. Geschändet
»M
ann, geht’s nicht noch ein bisschen schneller?«, rief Nadine ihrem Kollegen nach, der schnurstracks über den Gang lief und seinerseits den Kopf zu ihr nach hinten streckte. »Anfangs geht’s dir nicht zügig genug und jetzt? Beeil dich einfach!«
Etwa zwanzig Minuten später stand man in der kalten Halle der Rechtsmedizin und sah bedrückt auf die Frauenleiche, die Dr. Ron Hendrick gerade erst obduziert hatte. Ein grünes Tuch deckte den Körper ab.
»Gut, dass du gleich gekommen bist. Also, das Opfer wurde von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen und danach missbraucht. Wie schon bei der ersten Leiche gibt es keine Spermaspuren. Man kann nicht gerade sagen, dass der Täter geplant vorging, dennoch war sein Handel durchdacht.«
Selzer schaute auf den Leichnam und dann auf Hendrick, der weitersprach: »Er hat bewusst eine abgelegene Stelle im Wald gewählt. Entweder trug er die Mordwaffe bei sich, wovon auszugehen ist, oder er ist zufällig im Gelände darüber gestolpert. Es muss ein faustgroßer Gegenstand gewesen sein, vermutlich ein Stein. Die Verletzung am Kopf weist sonst keinerlei scharfe Kanten auf. Weiß man inzwischen, wer sie ist?«
Selzer verneinte. »Uns liegt keine Vermisstenanzeige vor, die passen würde. Seit wann ist sie tot? Was schätzt du?«
»Ich würde sagen, seit Freitag, länger nicht«, meinte Hendrick und legte den Oberkörper der Leiche frei, der eine y-förmige Narbe, welche von der Entnahme der inneren Organe stammte, zeigte. »Möglicherweise war sie Single. Ihr Alter würde ich zwischen neunzehn und maximal fünfundzwanzig eingrenzen.«
Nadine musste ihm unweigerlich recht geben. »Angenommen, Ihre Vermutung trifft zu, dürfte sie spätestens seit heute vermisst werden. Entweder studiert sie oder sie steht in einem festen Arbeitsverhältnis.«
Die Herren stimmten ihr kopfnickend zu, als sie von einem Klingelton, der nach einem alten amerikanischen Telefon klang, gestört wurden. Selzer entschuldigte sich, zog sein Handy aus der Tasche und lief ein paar Schritte von den anderen weg, um das Gespräch entgegenzunehmen. Die Worte, die er verlauten ließ, waren knapp gewählt. »Wir kommen sofort.« Er drehte sich um, beendete das Telefonat und steckte das Mobiltelefon ein. »Noch eine Leiche, wieder eine Frau.«
Andres und Hendrick schauten sich stumm an und wirkten entsetzt.
»Fahren wir«, bemerkte der Arzt sachlich und war bereits im Begriff, sich seiner Kleidung zu entledigen. »Gebt mir fünf Minuten. Ich ziehe mich schnell um.«
***
Etwa zur selben Zeit im Seniorenstift Wolkenlos
Charlotte und Maria hatten gerade das Mittagessen beendet und überlegten händeringend, wie sie den Rest des Tages verbringen sollten. Das Angebot des mondänen Altenstifts sagte ihnen nachmittags nicht zu. Entweder falteten sie Origamischmetterlinge oder sie nahmen an einem zweistündigen Tanzkurs teil. Da Charlotte das Tanzen zwar mochte, aber Maria es hasste, weil sie nie einen Kurs belegt hatte, verzichtete sie der Freundin wegen. Insofern gab es ein mehrstündiges Freizeitloch zu stopfen. Man entschied sich, dem schönen Wetter geschuldet, zu einem Spaziergang. Stellte sich nur die Frage wohin. Andererseits fühlte sich Charlotte berufen, einen Mord aufzuklären, dessen Opfer sie selbst im Wald gefunden hatte. Und jetzt war der passende Moment, das zu tun. Hm, wenn ich Rudi anrufe, um zu plaudern? Bei der Gelegenheit könnte ich ihn fragen, wie der Stand der Ermittlungen ist. Natürlich ganz nebenbei
, dachte sie und schüttelte dabei ein wenig den Kopf, sodass ihre Bekannte erstaunt fragte: »Wat ist los? Oder kriegen Sie langsam nervöse Zuckungen? Wenn ja, sollten Sie dit unbedingt von so ’nem Quacksalber untersuchen lassen.«
Maria trieb sie zur Weißglut. Ihre Bemerkung war überflüssig wie ein Kropf. Charlotte zürnte: »Ich habe es satt, mich für jedes Verhalten rechtfertigen zu müssen. Alte Leute tun das nun mal.«
Maria warf ihre Serviette auf den leeren Teller und spie der anderen zu: »Jetzt regen Sie sich doch nicht gleich so uff. Dit war nicht so jemeint. Kommse mal wieder runter.«
Charlotte begann zu schmunzeln. »Na Ihnen kann man auch jeden Bären aufbinden. Sie glauben wohl alles. Maria, wir sollten was unternehmen.«
Manchmal geht die mir ja schon uf de Ketten.
»Jerne, wenn Sie mir verraten würden, von wat hier die Rede ist, bin ick wie immer zu jeder Schandtat bereit.«
»Wir haben einen Mord aufzuklären, ach was sag ich, zwei«, sprach Charlotte leise, damit man sie nicht hörte.
Maria zögerte. »Wir?
Wann hören Sie endlich uf, Miss Marple zu spielen?«, entgegnete sie pikiert.
Die andere trommelte mit den Fingern auf dem Esstisch. »Sind Sie fertig mit dem Essen? Gut, dann können wir aufstehen.«
Die alten Damen erhoben sich und schritten gemächlich ins Foyer. Es war leer, da die meisten zu Tisch waren und sich die Gelegenheit bot, in Ruhe mit dem Sohn zu telefonieren, der auf seine Mutter äußerst hektisch wirkte und kurz angebunden war. »Ich kann jetzt nicht«, sagte er laut und dann leiser: »Stell dir vor, es gibt eine weitere Tote. Wieder so jung. Gott, langsam werde ich zu alt für diese Scheiße. Es macht keinen Spaß mehr.«
»Rudi, mäßige deinen Ton. Auch wenn nicht immer alles glatt läuft, sollte Anstand ein fester Bestandteil im Leben sein.« Sie stockte kurz und sprach dann im Flüsterton weiter: »Ermordet? Wo hat man sie gefunden?«
»Davon ist auszugehen. In der Nähe der Uni«, antwortete Hufnagel zögerlich, weil er wusste, dass Interna nichts für Außenstehende waren. Wiederum zählte er seine Mutter nicht dazu. Ein kleiner Hinweis ihr gegenüber brachte möglicherweise die eine oder andere stockende Ermittlung ins Laufen.
»Maria, auf zur Universität!«, erklärte Charlotte entschlossen, nachdem sie das Telefonat beendet hatte.
»Universi wat? Ick globe, ick hör nicht richtig. Ne, dafür bin ick zu alt.«
Charlotte lachte. »Maria, nicht so, wie Sie meinen. Rudi hat mir gerade erzählt, dass es ein weiteres Opfer gegeben hat«, sagte sie und fügte traurig an: »Wieder so ein junges Ding. Was sind das nur für Zeiten?«
»Ne oder, klaro, lassen Sie uns ufbrechen. Wenn die Bullen nüscht uf die Reihe kriegen, müssen wir dit halt erledigen. Ick sag’s ja, uf uns Alte is Verlass.«
***
Andres, Selzer und Hendrick betraten den Wald.
Er war dunkler als erwartet, obwohl über den Baumwipfeln die Sonne durchschimmerte. Alles wirkte ein wenig verwildert, was die abgebrochenen Äste nur noch verstärkten. Man drang in den Wald ein und suchte nach einer Lichtung.
»Verdammt, warum können wir nicht auf dem Waldweg gehen?«, fragte Nadine nach ein paar Schritten und dem unentwegten Kampf mit herabhängenden Zweigen, bis sie kurz darauf Hendricks Rufen vernahm: »Hören Sie auf zu debattieren! Weil laut meinem GPS das Opfer hier irgendwo abgelegt worden ist.«
Nadine stoppte plötzlich. »Woher weiß er das?«
»Die Spaziergängerin, die die Leiche gefunden hat, lief wohl gerade ihre übliche Joggingrunde und gab mir die Koordinaten durch«, klärte Selzer sie auf. »Schau mal, dort steht jemand, das könnte die Läuferin sein. Wir haben sie gebeten, am Fundort zu warten.«
Man ging auf die Frau zu, die von Hendrick soeben angesprochen wurde. Gleichzeitig schien sie auf etwas zu zeigen, das im Unterholz versteckt von Ästen lag.
Der Gerichtsmediziner näherte sich dem Gestrüpp und erkannte von Weitem eine Hand, die unter dem Laub herausragte. »Scheiße«, war sein kurzes Statement. Er trat an die Frau heran und schaute hinab. »Leute, ich kann hier nichts ausrichten. Die ist komplett verdeckt. Wann sagtest du, kommt die SpuSi?«, rief er Selzer zu und sah erwartungsvoll zu ihm nach hinten.
»Ich sagte gar nichts. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Gut, schauen wir uns mal um.« Er zog Handschuhe und Füßlinge über, um den Tatort nicht zu kontaminieren, ebenso wie die Kollegin, als plötzlich die Läuferin in Jogginghose und Turnschuhen vor dem Kriminalisten stand und ihn mit prüfendem Blick anstarrte. »Sie
sind von der Polizei?«, fragte die Brünette mit durchdringend tiefgrünen Augen. Sie wirkte entschlossen und zu allem bereit. Der sieht aus wie ein Hippie mit seiner Rastamähne.
»Gut, können wir das hier abkürzen? Meine Mutter liegt im Krankenhaus und ich habe gerade einen Anruf erhalten, dass es nicht gut um sie steht. Vielleicht begleiten Sie mich zum Parkplatz. Reden wir währenddessen.«
Selzer stimmte zu, übertrug jedoch Nadine die Aufgabe, weil er sich den Tatort näher betrachten wollte, der noch nicht untersucht worden war.
Die beiden Frauen liefen zügig nebeneinander her und unterhielten sich, da es die Joggerin eilig hatte.
»Wann genau haben Sie die Leiche entdeckt?«, erkundigte sich Nadine.
»Etwa vor einer Dreiviertelstunde. Ich war gerade dabei, meinen Durst zu löschen, da sah ich diese Hand. Schrecklich sag ich Ihnen. Ich dachte zunächst an liegen gelassenes Spielzeug eines Kindes. Als ich mich bückte«, sie hielt kurz inne, atmete laut, »musste ich mich fast übergeben. Die Finger waren so zierlich, dass ich glaubte, dort läge ein Kind. Als ich näher hinsah, ging ich dann von einer älteren Person aus. Ich rief gleich die Polizei an.«
Nadine hatte Mühe, mit der Dame Schritt zu halten, derart rasch lief sie zum Wagen.
»Entschuldigen Sie, dass ich so hetze. Meine Mutter liegt im Sterben. Krebs wissen Sie. Und da kann es schnell vorbei sein. Ich habe ihr versprechen müssen, sie noch einmal zu sehen. Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Visitenkarte, für den Fall, dass Sie weitere Fragen haben. Ich heiße übrigens Ulrike Feldeisen.« Sie entriegelte ihren Wagen, einen 911er Porsche, mit dem Funkschlüssel und öffnete die rechte Tür. Danach suchte sie im Handschuhfach nach ihrer Geldbörse und zog ein Kärtchen heraus, das sie Nadine übergab. »Wenn Sie anrufen, sagen Sie, dass Sie von der Polizei sind, dann stellt man Sie sofort durch.« Sie reichte ihr die Hand und drückte fest zu. »Auf Wiedersehen, Frau …?«
»… Andres«, beantwortete Nadine die Frage.
Nachdem die Dame in ihren Wagen gestiegen war und dieser mit dem typischen Motorengeräusch eines Porsche davonfuhr, schaute Nadine auf die Visitenkarte mit schwarzer Schrift. Dr. Ulrike Feldeisen, Zahnärztin.
Das hätte ich mir auch denken können. Bei meiner Besoldung reicht es gerade für einen Japaner, den ich nicht einmal habe. Ach was soll’s.
Sie drehte sich um und ging wieder zum Ort des Geschehens, der inzwischen von weiß gekleideten Leuten der Spurensicherung übersät war.
»Mann, wo bleibst du denn?«, wollte Selzer wissen.
Nadine schaute ihn verständnislos an. »Hä? Ich hatte eine Unterredung mit der Zeugin, schon vergessen?«
»Nein, aber ich dachte, sie musste dringend weg.«
Nadine überlegte, ob sie ihn unterrichten sollte, entschied sich allerdings dagegen, da es keinen wichtigen Anhaltspunkt gab. »Musste sie auch. Oder hast du mich vermisst?«, setzte sie scherzhaft an, obgleich ihr die Alberei im Halse stecken blieb. Jetzt war weiß Gott nicht der passende Moment, was ihr Selzer ebenfalls mit einem Kopfschütteln kundtat. »Sorry, war nicht so gemeint. Was kann ich tun?« Nach dem kurzen Gespräch stand sie noch eine Weile regungslos da, bis sie sich der Tatsache stellte, dass man es wieder mit einer Frauenleiche zu tun hatte, bis das Handy klingelte und Hufnagels Nummer zeigte. Sie nahm das Telefonat entgegen. »Wo sind Sie? Die Kollegen warten.«
»Tut mir leid. Ich bin sofort bei Ihnen«, meinte er entschuldigend. »Bitte lachen Sie nicht. Ich habe Kaffee über den Schreibtisch geschüttet, daher wurde es später. Übrigens, es gibt wohl eine Vermisste. Die junge Frau sei heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen, sagen die Kollegen.« Während er sprach, näherte er sich dem Fundort der Leiche.
Nadine Andres schaute skeptisch. »Und da gibt es jetzt schon eine Vermisstenanzeige?«
»Sieht so aus. Die Vermisste heißt Nike Katzmann und macht eine Lehre als Fitnesskauffrau. Als der Betreiber des Fitnessstudios bei ihr daheim angerufen hat und der Freund das Gespräch entgegennahm, war er überrascht, zumal sich die beiden wohl am Samstag das letzte Mal in ihrer Diskothek gesehen haben. Und jetzt kommt’s, Frau Andres! Die jungen Leute haben sich gestritten, weil diese Nike mit einem Älteren angebandelt hat und mit dem sogar vor dem Klub gesichtet wurde.«
Nadine schnaufte laut und zögerte einen Moment mit ihrer Antwort. Erst als Hufnagel sich räusperte, ließ sie verlauten: »Endlich! Ich dachte schon, wir kommen dem Mistkerl niemals auf die Schliche. Gibt es irgendwelche Details? Größe – Alter – Statur?«
Hufnagel stöhnte innerlich. »Nein, wie auch. Aber das lässt sich ja herausfinden. Soll ich mich nach dem Mann mal erkundigen? Ach, da ist noch etwas. Ich, ähm, ich habe mich von meiner Mutter breitschlagen lassen … «
»Zu was?«, wollte Nadine wissen und hörte im Hintergrund eine ihr bekannte Stimme mit Berliner Dialekt. »Ich ahne es. Das erklären Sie dann aber dem Chef.«
»Och Frau Andres, können Sie nicht?«, bettelte er verlegen.
»Mann«, begann Nadine zu schimpfen, aber sie konnte ihrem Kollegen nicht böse sein. »Gut, ich lasse mir etwas einfallen. Bis gleich.« Wieso bleibt das immer an mir hängen?
Man legte auf.
Nadine sah sich um, und in ihrem Kopf flogen die Gedanken nur so umher. Das kann ich Selzer schlecht erklären, warum ausgerechnet DIE beiden hier auftauchen. Besser ich laufe ihnen entgegen und bitte sie, wieder zu gehen. Oh Gott, da sind sie auch schon.
»Verdammt Charlotte, was macht ihr denn hier? Wenn das Daniel mitbekommt, gibt’s Ärger.«
Charlotte, die sichtlich mit der Wärme zu kämpfen hatte, rieb sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Kindchen, wir machen hier lediglich einen Spaziergang. Das ist öffentliches Gelände.«
»Das schon, aber du weißt doch längst, dass es eine dritte Leiche gibt!«, sagte sie mit unmissverständlichem Augenaufschlag.
Maria, die neben der anderen stand und unmerklich zustimmend nickte, sah ihre Bekannte erwartungsvoll an. »Wat schon wieder?«, meinte die Rentnerin wissend.
»Charlotte!«, maßregelte Nadine.
»Jaja, du kennst den Rudi doch. Eine geschickte Frage meinerseits und der quasselt wie ein Kind.«
»Ganz genau«, meinte Nadine leise und zog die alten Damen langsam ein paar Meter vom Geschehen fort. »So, und hier bleibt ihr jetzt! Du siehst doch, was dort vorne los ist.« Ihre Rüge hatte gesessen. »Und wehe, ihr haltet euch nicht daran. Dann lasse ich euch höchstpersönlich ins Seniorenheim fahren. Verstanden?« Das Verstanden
tat ihr zwar leid, aber es musste sein.
Hendrick schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, wollte Selzer wissen, der ihn in diesem Moment beobachtet hatte.
Der Arzt, der am Boden vor der Leiche kniete, schaute zu ihm hoch. »Ach, ich mache das schon ein paar Jahre, meiner Meinung nach wurde sie erwürgt, was sich anhand der Würgemale gut erkennen lässt. Außerdem«, er zeigte auf die Hämatome an den Beinen und am Genitalbereich, »bin ich mir sicher, dass sie missbraucht wurde.«
»Vor oder nach dem Töten?«, fragte Selzer nicht grundlos, weil das erste Opfer ebenfalls nach dem Ableben vergewaltigt worden war.
»Kann ich dir ohne Autopsie nicht sagen. Möglicherweise währenddessen.«
Selzer schluckte. »Wie, du willst behaupten, dass er sie im Laufe der Vergewaltigung getötet hat?«
»Davon ist auszugehen.«
Selzer entglitten sämtliche Gesichtszüge. »Was für ein perverses Arschloch.«
»Du sagst es. Ihr solltet euch schleunigst auf die Suche nach ihm machen. Inzwischen ist es eine Serie von Morden, oder?«
»Ja, leider«, gab ihm Selzer recht und hörte gleichzeitig etwas in der Nähe rascheln. Jemand hatte sich im Wald versteckt, was er zum Anlass nahm, nachzusehen. Beherzt ergriff er die herabhängenden Äste und schob sie beiseite.
Plötzlich vernahm er einen Aufschrei, der ihm ein Lächeln abverlangte, um dann zu sagen: »Hätte ich mir auch denken können. Was suchen Sie denn hier? Und woher …?« Die Frage auszuformulieren, ersparte er sich, weil er die Antwort kannte. »Verdammt Hufnagel. Das hat ein Nachspiel«, setzte er mit einer Drohgebärde an, die seine Kollegin sogleich leise entkräftete. »Sorry Daniel, ich muss wohl Charlotte gegenüber erwähnt haben, dass es eine weitere Leiche gibt.«
»Du? Geht’s noch? Wir sind hier doch nicht auf dem Jahrmarkt, wo jeder nach Belieben mitermitteln kann. Und nur weil die beiden«, dabei sah er zunächst Nadine an und danach die alten Damen, »in der Vergangenheit den einen oder anderen Mordfall mit aufgeklärt haben.«
Jetzt platzte Maria der Kragen. »Dit is allet richtig. Aber schauen Sie sich doch mal die Scheiße an. Drei Mädels liegen nun auf einer kalten Bahre, nur weil die Polizei versagt hat. Unternehmen Sie endlich wat! Och wenn wir alt sind, wir tun wenigstens wat und wenn wir nur unsere faltigen Nasen in Dinge stecken, die uns nüscht anjehen. Sie möcht ick mal sehen, wenn Sie so tattrig sind wie wir. Bestimmt sind Sie froh, dass man Sie noch sieht. Also junger Mann, andern Ton bitte und wir machen uns vom Acker.«
Das hatte gesessen und Selzer fühlte sich wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter eine Rüge erteilt bekam, weil er die Schokoladenfinger an seinem hellen T-Shirt abgewischt hatte. Seine folgende Zurückhaltung ließ die anderen verwundert schauen. »Also gut, dann machen Sie sich halt nützlich. Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie sagen, dass die Polizei noch zu keinem Ergebnis gekommen ist. Von Versagen kann hier aber nicht die Rede sein. Es gibt wohl eine erste Spur. Kontaktieren Sie bitte Ihren Sohn, Frau Kaufmann, und befragen Sie mit ihm ein paar der Zeugen. Geschickterweise machen Sie das besser auf Ihre Weise. Manchmal erfährt eine ältere Dame mehr als ein Polizist.«
Maria zeigte sich beeindruckt, hatte sie mal wieder ihren Kopf durchgesetzt. »Und wo finden wir die Zeugen?«
»Im Berry’s.«
»Sagt mir nix. Wat soll dit sein?«, fragte sie kess nach.
»Die Partyhochburg von Konstanz.«
»Bitte wat? Und da müssen wir alten Weibsen hin? Die globen doch, wir sind plemplem. Haben Sie nüscht Besseres?«
Selzer, der sich dessen bewusst war und hoffte, sich die beiden auf diese Weise vom Hals zu halten, verneinte vehement. »Wenn Sie sich damit überfordert fühlen, können Sie es auch lassen. Allerdings muss ich Sie dann bitten, sich aus den Ermittlungen herauszuhalten und keine weiteren Fragen an Herrn Hufnagel zu stellen. Verstanden?«
Maria war bereit, nachzugeben, als Charlotte mutig das Wort erhob. »Nein Herr Selzer, wir kümmern uns darum. Das ist für uns ein Klacks.«
»Gut, wenn das so ist, verlasse ich mich auf Sie.« So schaffe ich sie mir wenigstens vom Hals. Die beiden können lästig sein
, dachte er mit einem aufgesetzten Lächeln. »Ein Beamter bringt Sie vor Ort.«
»Och, dit ist aber nett. Danke!«, meinte Maria, ohne zu merken, dass Selzer sie auf geschickte Weise loswerden wollte.
Nachdem die Rentnerinnen abgefahren waren, kümmerte man sich wieder um die Tote. Inzwischen hatten die Leute der Spurensicherung alles Beweismaterial eingetütet und beschriftet, wohingegen Hendrick ebenfalls mit seiner Arbeit fertig war und die Leiche zum Abtransport in die Rechtsmedizin freigegeben hatte. Dass er noch heute die Autopsie durchführen würde, stand außer Frage, denn binnen vier Tagen hatte man drei Ermordete zu beklagen. Zudem lag die Vermutung nahe, dass alle Opfer von ein und demselben Täter umgebracht worden waren. Die Zeit schien knapp und jede helfende Hand wurde benötigt, selbst wenn sie von Seniorinnen stammte, die weiß Gott keine Befugnis hatten, offiziell zu ermitteln. Wo kein Kläger, da kein Richter.
Irgendwie würde man auch hier eine plausible Erklärung finden, und wenn sie an den Haaren herbeigezogen werden musste.