13. Ein wichtiges Indiz
Z wanzig Minuten später hörte man das Quietschen der Reifen des VW-Golfs, das ein ungestümer Polizist auf dem Parkplatz der Diskothek hinterließ.
»So meine Damen, wir sind da. Das Berry’s. Cooler Schuppen sag ich Ihnen. Schauen Sie, die schwarze Tür!« Er zeigte mit der Hand geradeaus. »Sie gehen am besten dort hinein. Der Vordereingang dürfte geschlossen sein. Normalerweise öffnen die erst gegen Abend. Fragen Sie nach Luci. Die weiß so ziemlich über alles Bescheid.«
Die Damen bedankten sich und waren gerade im Begriff, aus dem Auto zu steigen, als eine der Türen mit einem »Da seid ihr ja. So schnell hatte ich mit euch nicht gerechnet« geöffnet wurde. Die Stimme gehörte Rudi, mit dem man zuvor den Treffpunkt vereinbart hatte.
»Auch schön, dich zu sehen«, meinte seine Mutter scherzhaft und ergriff die Hand ihres Sohnes, der beim Aussteigen behilflich war. »Demnach ermitteln wir gemeinsam?«
Hufnagel nickte geflissentlich. »Sieht so aus. Möchte bloß wissen, wie du es angestellt hast, dass Selzer dir hierfür sein Okay gegeben hat.«
»Tja mein Junge, wer hat denn so eifrig geplaudert, dass Nadine für dich den Karren aus dem Dreck ziehen musste? Kannst stolz auf sie sein. Die hat uns wenigstens nicht hängen lassen.«
Hufnagel traute seinen Ohren kaum. »Du machst wohl Witze. Ach, ist jetzt auch egal. Wir haben Wichtigeres zu tun, als zu streiten.« Ohne eine Erklärung marschierte er los und die Rentnerinnen ihm nach.
Man verschwand durch eine Tür.
Na bisgen netter könnte der schon sein, grübelte Maria, sich fortwährend umschauend und sich unbehaglich fühlend. Und dit soll ’ne Disco sein? Wenn ick dit nicht besser wüsste, würde ick meinen, wir kommen gleich in so ’nen Tempel der Lust, wo Weiber an Stangen tanzen. Also ick wes nicht, ob wir hier richtig sind. Ihren Unmut wollte sie jedoch nicht kundtun.
Plötzlich stand ein kräftiger Glatzkopf vor den Frauen und versperrte ihnen den Weg, während Hufnagel wie vom Erdboden verschluckt war. Das Muskelshirt ließ seine wulstigen Arme hervorquellen, die von oben bis unten tätowiert waren. »Wir haben geschlossen«, meinte er mit tiefer Stimme, die furchteinflößend klang und die man gerne wieder vergaß. Dass er den beiden auf die Pelle rückte und sein Schweiß ihre Nasen kitzelte, machte das Ganze erst recht unangenehm.
»Ähm, das hörten wir«, versuchte, Charlotte sich zu äußern, was ihr aufgrund der Situation sichtlich schwerfiel. »Wir wollten Sie nur etwas fragen«, druckste sie mit bebender Stimme und schaute zu ihm hinauf.
»Und was?«
»Och …«, begann Charlotte zittrig und in hohem Ton zu sprechen. »Ähm, na ja, ähm …«
»Das nennen Sie Fragen? Hören Sie, entweder Sie rücken mit der Sprache raus oder ich setze Sie an die frische Luft, so wie ich es mit dem anderen auch gerade getan habe.«
Meint der Rudi? Sie nahm allen Mut zusammen und formulierte einen Satz. »Wir ermitteln in einem Mordfall«, kam es endlich aus ihrem Mund.
»Sie? Sind Sie dafür nicht ein bisschen zu alt?« Seine Stimme wurde weicher, fast so, als hätte er ganz bewusst die harte Nummer abziehen wollen.
Charlotte fasste sich ein Herz und lockerte ihre steife Haltung zu einem lässigen Stehen. »Könnten wir die Unterhaltung in einer etwas angenehmeren Atmosphäre fortsetzen? Hier ist es recht dunkel.«
Der Fremde lachte einnehmend und zeigte seine Zähne, die gepflegt wirkten. »Ja klar. Folgen Sie mir bitte. Also, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, wollte er wissen und begab sich langsamen Schrittes in einen anderen Raum, der wohl als Ausschank gedacht war. »Kommen Sie! Möchten Sie etwas trinken. Kaffee, Tee oder was Härteres?«, fragte er freundlich weiter und vernahm gleichzeitig Marias Stimme, die ihn um Letzteres bat.
Charlottes Blick dahingehend war strafend. »Maria, wir sind im Dienst!«, bemerkte sie schelmisch, jedoch mit einem Lächeln, weil ihr ebenso der Sinn danach stand.
Der Kräftige nahm eine Flasche Grappa aus dem Regal und befüllte drei Gläser. »Na, dann mal Prost«, sagte er und setzte nach, »auf einem Bein kann man nicht stehen.« Und schon waren die Schnapsgläser aufgefüllt, bis Charlotte vehement ihre Stimme erhob. »Guter Mann, wenn das so weitergeht, sind wir betrunken.« In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, da sie nicht wusste, ob sie ihre Angst dahinziehen lassen durfte, oder weil der Schnaps eine gewisse Unbedarftheit nach sich zog. Doch egal, was es war, es beflügelte sie. »Im Moment passiert in unserem schönen Konstanz Schlimmes.«
Sie rückte näher an den Tresen heran, um zu flüstern: »Wissen Sie, man hat letztes Wochenende eine junge Frau grausam ermordet aufgefunden.« Über mehr hatte man Charlotte nicht unterrichtet, was für die Zeugenbefragung auch nicht vonnöten war. »Wie wir inzwischen erfahren haben, war Nike Katzmann wohl am Freitag bei Ihnen zu Gast. Man hat sie erst heute Morgen als vermisst gemeldet. Es gab Streit mit dem Freund. Wissen Sie etwas darüber?« Die Seniorin schwitzte innerlich.
Dem Mann entglitt der Blick. Ohne ein Wort beendete er sein Tun, legte das Küchenhandtuch beiseite, mit dem er ein Glas polierte. »Nike? Nike ist tot? Ne, das glaube ich nicht. Sind Sie sich da sicher?« Er schluckte heftig und schüttelte unentwegt den Kopf. »Das soll ein Scherz sein, oder?«
»Sehen wir aus, als würden wir scherzen? Vermutlich ist sie tot, ja. Sie muss erst noch identifiziert werden«, sagte Charlotte und schwieg einen Augenblick, bis sie zustimmend den Namen der jungen Frau wiederholte und zu der Bekannten sah, die genau wie sie die Antwort mit einer bejahenden Kopfbewegung unterstrich.
Der Glatzkopf schaute angespannt. »Wenn wir die gleiche Person meinen, dann sprechen wir von einer herzensguten Dame, die leider an den falschen Kerl geraten ist. Der Typ ist nichts für sie. Betrügt sie ständig mit den Mädels hier und sie, sie hält trotzdem zu dem.«
Maria wurde wütend. »Und wieso hat sie dann dieses Arschloch getroffen?«
Der Kräftige schien sie nicht zu verstehen und schaute dementsprechend seltsam, bis Charlotte ihn über den Rest informierte.
»Der hat sie auf dem Gewissen?«, fragte er.
»Was meinen Sie mit der ? Sie kennen ihn?«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Charlotte.
»Nein, aber ich hörte, wie die Mädels darüber sprachen. Wer konnte denn ahnen, dass so etwas passiert. Also mal der Reihe nach. Nike ist bei uns Stammgast und sie hatte ständig Streit mit ihrem Typen. Meistens machte jeder sein Ding. Sie redete mit den Girls und er flirtete, was das Zeug hielt. Warum Nike bei ihm blieb, keine Ahnung. Auf alle Fälle schwärmte die Kleine von einem anderen Kerl. Er sei groß, ruhig und liebenswert. Und sie meinte, der würde einen echt coolen Vater abgeben. Mehr weiß ich nicht.«
»Vater? Wollte die ’n Kind?«, erkundigte sich Maria ungläubig.
»Quatsch. Sie ist doch noch in der Lehre, irgendetwas mit Fitness«, widersprach der Mann.
Charlottes Gedanken überschlugen sich. Vater? Hm? »Wissen Sie, wie das Verhältnis zu ihren Eltern war?«
Der Unbekannte verneinte. »So genau kannte ich sie auch wieder nicht. Da sollten Sie mit ihren Freundinnen reden. Allerdings müssten Sie dafür abends kommen. Wobei …«, er schaute nachdenklich eine nach der anderen an, »… oder besser einen jüngeren Kollegen herschicken.«
Maria kochte vor Wut, musste ihm aber recht geben.
»Gut, das werden wir«, meinte Charlotte selbstsicher und blickte sich suchend um.
»Was ist? Suchen Sie was?«, fragte er.
»Ja Rudi, meinen Sohn.«
»Ach, der gehört zu Ihnen?«
»Ja?!«, sagte Charlotte fragend, gleichzeitig betont streng.
»Den habe ich vorhin ausgesperrt«, meinte er schmunzelnd. »Keine Sorge, das war nicht beabsichtigt.«
»Und er hat sich nicht bemerkbar gemacht?«, grübelte die Rentnerin laut.
»Schon möglich, hab ihn nicht gehört. Das Personal kommt für gewöhnlich erst gegen fünf. Da passiert das mal.«
Unterdessen war Charlotte gedanklich beschäftigt, die Schnipsel, die sie soeben zugeworfen bekommen hatte, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Noch ergab alles keinen Sinn, und dennoch wurden ihre grauen Zellen in Bewegung gesetzt. Was meint er mit Vater? Den eigenen, den einer Freundin oder ein werdender?
Die beiden folgten dem Herrn, der sie hinaus führte und mit einem Lächeln zu Hufnagel zeigte, der genervt auf einer Bank saß und mit seinem Handy spielte. Dass er zornig aufblickte und ihnen am liebsten eine Rüge erteilt hätte, sah man ihm schon von Weitem an. Außerdem hatte er kein gutes Gefühl gehabt, die alten Damen alleine zu lassen, wusste er doch nicht, was sie erwartete. Als er sie dann auf sich zukommen sah, war die anfängliche Furcht verblasst.
Hufnagel erhob sich und ging auf die Frauen zu.
»Tut mir leid, Mutter, ich stand plötzlich hinter einer verschlossenen Tür und konnte dich telefonisch nicht erreichen. Alles okay bei euch?«, erkundigte er sich fürsorglich.
Charlotte nickte. »Ja, Junge alles bestens. Der freundliche Herr«, sie zeigte auf diesen, »war so nett, uns ein paar interessante Dinge über diese Nike mitzuteilen. Stell dir vor, sie muss ihren Peiniger gekannt haben. Fragt sich nur woher?« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von dem Fremden, weil er es eilig zu haben schien, ihr aber noch einen Zettel mit der Adresse von Nikes Freundin in die Hand drückte. »Von mir haben Sie das nicht.«
Rudi rollte mit den Augen. »Von einem Dating-Portal, das habe ich dir doch erzählt«, klärte sie der Sohn auf.
»Ja ja, darüber sprachen wir. Nur warum erwähnte er einen Vater?«, sagte sie mehr zu sich als zu ihm.
»Mutter? Alles o. k. bei dir? Soll ich euch ins Wohnheim bringen? Bei dem schönen Wetter könnten wir noch ein paar Meter laufen und den Rest fahrt ihr dann mit dem Bus.«
»Ne, lass mal«, entgegnete Charlotte, weil sie nicht vorhatte, dorthin zu fahren. Immerhin brannte ihr etwas unter den Nägeln, das keinen Aufschub duldete. Sie informierte Rudi über das Gespräch, mit dem er nicht allzu viel anfangen konnte. »Demnach hat er nichts gewusst.«
»Nun, so würde ich das nicht bezeichnen, sagen wir, es fehlt was. Dafür sollten wir Kontakt mit einer der Freundinnen aufnehmen. Wenn du nichts dagegen hast, übernehmen wir das noch.«
Wir? Ick dachte, dit wär’s für heute. Mensch, bei dem schönen Wetter durch die Stadt tingeln, daruff habe ick kenen Bock.
Man verabschiedete sich schließlich und die Rentnerinnen nahmen einen anderen Weg als Rudolf Hufnagel, der ihn grübelnd passierte, während seine Mutter einen erfreuten Eindruck machte, im Gegensatz zu Maria. Also, nüscht mit Rentnerdasein. Dass Charly immer übertreiben muss. Möchte bloß wissen, wat die wieder vorhat.
»Na, Maria, so leise? Sie fragen sich sicher, was mir durch den Kopf geht. Nun, wir statten der Freundin mal einen Besuch ab. Vielleicht kann sie uns den Mann beschreiben, der mit Nike verabredet war. Da die Zeit knapp ist und Sie wie auch ich wissen, dass es drei Tote gibt, ist es unsere Bürgerpflicht, etwas zu unternehmen.«
Doch jedes Gezeter war für die Katz. »Jut, ick halt die Klappe. Wir machen dit so, wie Sie wollen.«
»Dann schlage ich vor, jetzt dorthin zu fahren und die Befragung fortzuführen. Nehmen wir den Bus. Petershausen liegt quasi um die Ecke.«
Eine halbe Stunde darauf stand man vor einem weiß getünchten Haus, das schon bessere Jahre erlebt hatte. Es wirkte heruntergekommen. Der Putz an den Wänden blätterte bereits ab und die wenigen Balkongeländer machten keinen sicheren Eindruck. Man blieb eine Weile vor dem Gebäude stehen und schaute an der Fassade hinauf. Die Fenster in der unteren Etage waren so dreckig, dass man meinen konnte, dass dort niemand mehr wohnte. Vorsichtig lief man einen kleinen Weg entlang, der durch einen mit Unkraut bewachsenen Vorgarten führte. Die wenigen Stufen empor zur Eingangstür, die wie alles andere marode wirkte, waren beklemmend.
Man betätigte eine der drei Klingeln und wartete, bis jemand öffnete.
»Wat und hier wollen Sie rein?«, wollte Maria wissen und schaute Charlotte argwöhnisch an.
»Haben Sie eine bessere Idee?«, fragte sie und betrat den winzigen Hausflur, hinter dessen Tür ein leicht bekleideter Teenager mit Trägertop und kurzem Rock wenig Spielraum für Fantasie ließ.
»Jute Frau, so sollten Sie nicht jedem die Tür uff machen. Dit kann schnell ins Auge jehen«, schoss es aus Maria heraus.
Das Mädchen winkte ab und fragte, was man von ihr wolle, was ihr wiederum von Charlotte bereitwillig erklärt wurde und sie sofort erstarren ließ. »Nike ist tot? Aber ich habe sie doch noch am Freitag gesehen, putzmunter«, sagte sie und starrte die beiden entsetzt an.
»Genau deshalb möchten wir Sie sprechen. Ein freundlicher Herr vom Berry’s erzählte uns, dass Sie sich mit Ihrer Freundin über einen möglichen Verehrer unterhalten hätten. Kennen Sie zufällig den Namen?«
»Ne, darüber reden wir nicht. Für uns zählt nur, wie der aussieht. Namen sind da Schall und Rauch.«
»Aber irgendetwas muss sie Ihnen doch gesagt haben. Ihre Freundin sprach von einem Vater. Erinnern Sie sich noch? Ging es dabei um Nikes Vater?«
Die junge Frau winkte ab. »Ne, der hat ihre Mutter sitzen lassen, als sie mit ihr schwanger war. Wenn Sie mich fragen, hat sie auf ältere Kerle gestanden.«
Maria wurde mutig. »Können Sie den Arsch beschreiben?«
Die Frage erzeugte bei dem Teenager ein Lachen. »Sie sind aber nicht von der Polente, oder?«
Charlotte schmunzelte. »Nein. Sagen wir, wir sind deren ältester Arm.«
Die junge Frau schaute erstaunt.
»Und können Sie?«, hakte Maria nach.
»Langsam, ich muss überlegen. Er war groß, schlank und muss wohl grauhaarig gewesen sein. Er stand am Freitag plötzlich vorm Berry’s, hat mir Nike erzählt. Ich glaube, sie bekam von dem eine WhatsApp, dass er vorm Eingang auf sie warten würde.«
»Demnach können Sie ihn beschreiben?«, schöpfte Charlotte Hoffnung.
»Ne, das nicht. Ich habe ihn am Freitag kurz gesehen. Der stand zu weit weg, als dass ich was über den sagen könnte.«
»Sie haben ihn doch gerade umschreiben können«, bohrte die Rentnerin weiter und schaute sie eindringlich an, so als erwarte sie eine richtige Antwort.
»Hören Sie auf! Ich habe ihn kurz gesehen, weiß, dass er groß und schlank war. Ob er graue, blonde oder grüne Haare hatte, kann ich nicht sagen. Nike erwähnte mal, dass er silbergrau sei und ihr das voll gefallen habe. War’s das jetzt? Ich sollte noch Hausaufgaben machen.« Sie wirkte genervt und spielte an ihren Haaren.
Die Damen gaben sich zufrieden, wenngleich die Personenbeschreibung dürftig ausfiel. Dennoch hatte man einen Anhaltspunkt. Großgewachsene grauhaarige Männer sollten es nicht allzu häufig geben. Die meisten der um die Fünfzigjährigen waren beleibt oder besaßen schütteres Haar. Hier, vorausgesetzt die Beschreibung stimmte, handelte es sich um einen attraktiven Mann, der, so hoffte Charlotte, doch wohl zu finden sei.
»Was passiert denn nun mit Nike? Weiß es ihre Mutter schon? Die wird es zerreißen. Die beiden standen sich recht nahe. Finden Sie das Schwein! Mensch Nike war so ’ne Liebe. Das hat sie echt nicht verdient.«
Charlotte berührte die junge Frau am Arm und entdeckte erst jetzt, dass ihr Oberarm geritzt war. Unter welchem Druck muss sie wohl stehen, dass sie sich selbst verletzt? Sollte ich sie darauf ansprechen? Nein, besser nicht, ich kann nicht jedes Problem lösen.
»Wenn Sie mögen, können Sie Ihre Freundin in der Gerichtsmedizin besuchen und Abschied nehmen. Ich werde mich darum kümmern«, versuchte Charlotte, dem eine weniger gespenstische Note zu verleihen.
Die junge Frau kratzte sich am Arm. »Ne, das ist keine gute Idee. Ich habe das alles schon durch«, sagte sie und bekam Tränen in den Augen. »Ich verlor vor Jahren meinen Bruder. Ein Lkw hat sein Motorrad erwischt und ein paar Meter mitgeschleift. Glauben Sie mir, das Bild verfolgt einen Tag und Nacht.«
Charlotte fand darauf keine passende Antwort, denn gewiss war hier alles gesagt worden, was Linderung versprach. Kein Wort der Welt brachte einen liebenden Menschen zurück. Trost fand man meist nur noch im Glauben, vorausgesetzt man besaß ihn.
Betroffen verabschiedete man sich und verließ das Haus.
***
Zur gleichen Zeit im Polizeirevier der Konstanzer Kripo
Den Kollegen rauchten die Köpfe. Jeder war in seine Arbeit vertieft und recherchierte alles, was annähernd mit großgewachsenen Männern um die fünfzig zu tun hatte. Gab es womöglich vorbestrafte Täter, auf die die Beschreibung passte? Oder lagen Strafanzeigen vor, die auf sexuelle Übergriffe hinwiesen? Beziehungsweise gab es Hinweise auf häusliche Gewalt? Man ging allem nach, was sich bot. Selbst eine Sondereinheit auf den Namen Theresa hatte man gebildet, um schnellstmöglich Ergebnisse zu erhalten. Alles an Personal, was die Konstanzer Polizei derzeit freistellen konnte, war vor Ort.
Man telefonierte, wälzte Akten, sprach mit Kollegen aus anderen Teilen des Landes, um so bald wie möglich hinter das Motiv des Täters zu gelangen. Nichts dergleichen brachte sie voran.
Gerade als Nadine sich resigniert ans Kinn griff und grübelnd in ihren Computer schaute, um zu sehen, ob es eine Zuschrift auf ihre Anzeige im Konstanzer Onlineportal gegeben hatte, rief sie erschrocken auf. »Daniel! Sieh mal!«
Selzer, der soeben ein Telefonat beendet hatte und genervt den Hörer auf die Gabel legte, sah zu ihr hinüber. »Was ist?«
Nadine starrte auf den Bildschirm und begann zu lesen.
Hallo liebe Unbekannte, schön, dass du mir schreibst . Du suchst einen älteren Mann, der dich verwöhnt ? Dann bist du bei mir genau richtig . Bei mir bekommst du alles . Lust auf ein Treffen ?
»Sieht aus, als ob einer angebissen hat«, bemerkte sie scherzhaft, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. »Die Antwort ist eindeutig. Allerdings scheint der sich nicht mit Orthografie auszukennen. Sieh, er setzt die Satzzeichen nicht direkt hinter einen Satz. Überall sind Leerzeichen, was in meinen Augen nicht für einen Menschen spricht, der es gewohnt ist zu schreiben.«
Selzer unterbrach sie. »Oder der formulieren lässt. Hier ist alles möglich. Antworte ihm Folgendes: Hallo, ja genau so einen suche ich. Was meinen Sie mit alles? « Er stoppte: »Tippe Sie klein, begib dich auf sein Niveau!« Selzer stoppte erneut: »Wie du aussiehst, weiß er bereits. Antworte: Gerne können wir uns treffen. Wie wäre es mit einem Kaffee? Das reicht fürs Erste. Das ist direkt und müsste zum Reagieren animieren.«
Nadine befolgte seinen Rat und schickte die Nachricht fort. »Wie ich sehe, kennst du dich bestens aus.« Die Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen, weil sie noch immer sauer war.
Selzer schmunzelte. »Weißt du, wenn man täglich auf Anzeigen antwortet, bekommt man Routine.« Er wartete kurz, bis Nadine ihn wütend ansah, und klärte sie dann auf: »Hab ich das nötig? Mein Herz schlägt nur für dich. Ein Freund sucht schon seit Längerem eine Partnerin und mit dem sitze ich manchmal zusammen. Du glaubst gar nicht, was der für Zuschriften erhält. Als er ein paar Schreiberinnen traf, waren die entweder älter als auf dem Foto oder sogar eine ganz andere Person. In diesem Metier wird skrupellos gelogen. Das Internet ist ein stiller Diener jedweder Fantasie.«
Nadine schaute ihn grimmig an. »Ja ich weiß, du liebst mich und ich bin die Einzige für dich. Nur davon kann ich mir nichts kaufen. Platonische Liebe ist auf Dauer anstrengend, dazu unbefriedigend«, gab sie genervt zur Antwort und hatte partout keine Lust auf eine Vertiefung des Gesprächs. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt und schon gar nicht der passende Ort.