16. Geschundene Seele
D er Unbekannte wählte den gleichen Treffpunkt wie zuvor. Wieder diente das Lokal auf der Höri für sein Stelldichein, zu dem er die Polizistin noch am selben Abend geladen hatte. Liege ihr etwas an dem Date, so habe sie ihm zu folgen, hatte er gesagt und demzufolge die Zusage erhalten.
Mit mulmigem Gefühl trat Nadine ihre Reise an. Zitternd bewegte sie das Lenkrad des Wagens und traf pünktlich am Parkplatz ein, auf dem gleichzeitig mehrere Fahrzeuge einparkten. Zunächst blieben die Insassen in den Pkws sitzen, bis Nadine den ihren verlassen hatte und die Straße überquerte, um auf den Mann, der dort wartete, zuzusteuern.
Unbemerkt verließen die anderen die Autos und gingen ins Restaurant.
Dieses Mal fackelte der Fremde nicht lange herum und gab Nadine zu verstehen, was er verlangte, und dass er mit ihrem vorherigen Auftreten nicht einverstanden war. Er bot ihr nun die Möglichkeit, es wiedergutzumachen. Dementsprechend gönnte man sich nur ein Glas Sekt, um Hemmungen abzubauen.
»Gut, mal sehen, ob du bereit bist. Die letzte Aktion hättest du dir echt schenken können. Hast mich voll verarscht«, meinte er wütend und schaute die junge Frau aus tiefdunklen Augen an. »Mädchen, wenn das heute nicht klappt, kannst du die Sache vergessen. Dann suchst du dir besser einen anderen. Für solche Spielchen habe ich keine Zeit. Es gibt genug Weiber wie dich. Brauchst denen nur einen Geldschein vors Gesicht halten und schon beißen die an.«
Nadine versuchte, seine Aussage zu deuten, indem sie sagte: »Sie sprechen von Professionellen?«
»Nein von normalen Weibern. Es gibt genug Schlampen, die einen Hunderter brauchen. Dafür lassen sie mich zwischen …«, er stoppte kurz, »ach vergiss es, gehen wir oder willst du labern? Entweder du bewegst dich jetzt oder lässt es bleiben. Dann kannst du aber die Kohle vergessen.«
Nachdem der Mann bezahlt hatte, stand er auf, reichte Nadine die Hand und verließ mit ihr das Restaurant, um in das benachbarte Hotel zu laufen. Dass man den beiden folgte, bekam er nicht mit. Selzer blieb vorsichtshalber im Wagen sitzen, weil er nicht wusste, ob der Kerl ihn beim ersten Treffen gesehen hatte.
Ich muss ihn aus der Reserve locken , dachte Nadine, als sie gemeinsam mit dem Mann die Hotellobby betrat und er noch immer ihre Hand hielt. Gleichfalls steuerten sie auf den Fahrstuhl zu. »Bin ich überhaupt Ihr Typ?«, fragte sie und fühlte sich gleichzeitig von ihm in die Ecke gedrängt. »Würde ich dich sonst haben wollen? Ich steh auf solche wie dich. Jung, schlank, schüchtern.« Ihr braucht einen, der euch mal richtig rannimmt, damit ihr nicht immer so einen Mist erzählt. Wie meine Alte, die glaubt auch, sie könnte mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Ihr Weiber seid doch nur für eins zu gebrauchen, dachte er.
Nadine fühlte ihren Hals pochen und das Herz vor Angst hüpfen. Außerdem roch sie sein Aftershave, weil er nahe genug an sie herangetreten war, zudem ihren Hintern tätschelte. Wie gerne hätte sie die Knie gehoben und ausgeholt.
Der Fahrstuhl hatte das oberste Stockwerk erreicht.
Man verließ ihn und mit ihm schritt die Angst wie ein Schatten hinter Nadine her.
Noch immer hielt der Kerl ihre Hand, sodass es sich wie eine Fessel anfühlte. Sie ging mit ihm. »Tolles Hotel, nicht wahr. Sehr lichtdurchflutet«, versuchte sie, sich verbal zu beruhigen.
»Mir egal. Die Zimmer sind gut und erst die Betten«, sprach er mit kühler Stimme.
»Aha, demnach verkehren Sie hier des Öfteren?«
Er sah sie eindringlich an, als wäre ihm das lästig. »Na ja, ein paar Male im Jahr schon. In letzter Zeit zieht es mich mehr in die Natur«, krönte er das Gesagte mit einem fiesen Lächeln.
»Bestimmt besser als in einem Hotel«, log Nadine und fühlte, wie er ihre Hand losließ. »Echt, das wäre mir auch lieber gewesen. Die anderen Weiber fanden es nicht so prickelnd, zierten sich regelrecht. Aber du bist anscheinend gescheiter. Werde in Zukunft solche wie dich suchen. Das darfst du gerne als Kompliment auffassen. Wir sind da!«
Er schloss eine hell gemaserte Tür auf und ging hinein, während sie mit einem Zögern folgte. Die Gefahr ignorierte sie, genauso wie das dezente Summen ihres Handys, was sicher von den Kollegen stammte.
»Verdammt, geh ran!«, schrie Selzer, der inzwischen ebenso das Hotel betreten hatte und ein paar Schritte von Nadine entfernt ungeduldig ausharrte.
»Chef, was sollen wir jetzt machen?«, überlegte Hufnagel, indem er ihn fassungslos anstarrte. »Wir dürfen Frau Andres mit diesem Kerl doch nicht alleine lassen.«
Selzer musste ihm unweigerlich recht geben. »Das weiß ich selbst«, knurrte er, gleichfalls er zur gegenüberliegenden Tür schielte. »Rausholen können wir sie da nicht, aber stören.« Er entfernte sich ein paar Schritte und suchte ein ruhiges Eckchen, bevor er mit dem Zimmerservice telefonierte und eine Flasche Sekt orderte. Dass man es eilig hatte, machte er der Dame unmissverständlich klar.
»Setz dich!«, meinte Nadines Begleiter und näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter. »Möchtest du ein Glas Sekt? Sicher willst du. Du bist bestimmt aufgeregt, Kleines. Musst du nicht. Die Mädels zieren sich anfangs immer.« Er drehte sich im Kreis, weil er etwas suchte. »Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, Sie sollen das Zeug bereitstellen.«
Im selben Moment klopfte es an der Tür.
»Ah, das wird er sein«, rief der Fremde, den Blick auf die Zimmertür gerichtet und schritt auf sie zu. Er wandte den Kopf zunächst Nadine zu, die auf ihr Mobiltelefon sah und ihn rufen hörte: »Lass das! Kannst es später checken.« Danach öffnete er und sah sich einem älteren Mann mit Bauch gegenüberstehen. Das Jackett, welches er trug, schien zu eng. »Wo darf ich Ihnen den Sekt hinstellen?«, fragte der Kellner mit einem unmerklichen Nicken, das der Frau im Zimmer galt.
»Stellen Sie ihn auf den Tisch. Den Rest erledige ich. Und jetzt raus hier.« Sein Ton hatte sich verschärft. Der Zweihunderteuroschein, den er dann auf den Tisch legte, ließ Nadine heftig schlucken. »Wenn du deine Sache gut machst, packe ich das Gleiche noch mal drauf«, waren danach seine Worte.
Selzer hatte sich auf dem Hotelflur in eine Ecke gestellt und harrte ungeduldig aus, bis er seinen Mitarbeiter aus dem Zimmer kommen sah. »Alles okay? Wie geht’s ihr?«, erkundigte er sich besorgt und schielte gleichzeitig zum Ort des Geschehens.
Hufnagel zog das zu enge Kleidungsstück aus und warf es in einen Gitterwagen mit Handtüchern. »Soweit ganz gut. Noch ist nichts passiert. Aber der Typ macht keine halben Sachen, das sag ich Ihnen. Der hat mich gerade in hohem Bogen aus dem Zimmer geworfen.«
Schnell verdientes Geld , dachte Nadine und rechnete nach, wie lange sie für zweihundert Euro arbeiten müsste. Doch es war nicht ihre Welt, die der käuflichen Liebe. Verlockend zwar, aber nicht ihre. Gleichzeitig spitzte sich die Lage zu, weil ihr Begleiter begonnen hatte, sich auszuziehen. »Na, nicht so schüchtern. Komm her! Oder soll ich …?«
Demnach sind die Kollegen im Hotel. Verdammt, wenn ich nicht die Reißleine ziehe, wird es echt brenzlig. Ich muss hier raus. Schleunigst. Besser ich verschwinde. Immerhin hat er einiges verraten, was mutmaßen lässt, dass er der Mörder ist. Ich kann mich dem nicht einfach aussetzen. Gut, die anderen sind zwar da, aber werden sie auch rechtzeitig bei mir sein? Ich sag dem, dass ich mich auf dem WC frisch machen will. Nadine bedankte sich für das Geld und erklärte, was sie vorhabe, was für Zustimmung sorgte.
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte und der Mann im Begriff war, sich hinzulegen, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, dem er nachgehen musste. Über den Stuhl hatte Nadine ihre Jacke gelegt, die sein Interesse erregte. Ein flüchtiger Blick in die Taschen offenbarte ihm Ausweispapiere, die ausreichten, um zu wissen, wer sie war. Du kleine Pissnelke. Wenn die hier ist, ist der Rest auch nicht weit.
Kurz entschlossen zog er sich an und warf die Tür hinter sich ins Schloss, sodass Nadine aufschreckte.
Dass er das Zimmer verlassen sollte, damit war nicht zu rechnen gewesen. Immerhin war man entschlossen, ihn vor Ort in Gewahrsam zu nehmen, da man davon ausging, dass er sich in irgendeiner Form strafbar machen würde. Zumindest wäre er für eine Weile außer Gefecht gesetzt gewesen.
Nadine rief Selzer an, fragte, ob man ihn gesehen hatte, was dieser verneinte. »Scheiße Daniel, wieso seid ihr dann hier? Der Mann hat sich nichts zuschulden kommen lassen, und sich mit einer Frau in einem Hotelzimmer zu treffen, ist nicht strafbar. Und mit seiner Drecks-DNA können wir nix anfangen. Wozu gebe ich mir Mühe, wenn der Rest der Mannschaft versagt?«, fluchte sie, sodass Selzer ihr ins Wort fiel: »Jetzt mäßige mal deinen Ton! Wir haben keine Däumchen gedreht, wir hatten die ganze Zeit das Zimmer im Auge. Er muss gegangen sein, als wir einer älteren Dame mit dem Koffer halfen.«
»Na super. Ich dachte, ich habe es mit Profis zu tun.«
Selzer beendete das Telefonat, um mit den Kollegen vom Parkplatz zu reden. »Habt Ihr das Kennzeichen notiert?«, was man ihm zusicherte. Immerhin etwas.
Der Unbekannte war stinksauer. Zum einen hatte ihn die Kleine zum zweiten Mal versetzt und zum anderen arbeitete sie bei der Polizei. Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte. Dass eine Frau ihn an der Nase herumgeführt hatte, konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
Voller Wut steuerte er seinen Wagen nach Hause, fluchte darin lautstark und warf die Autotür zu, nachdem er geparkt hatte. Er hatte sich extra den Nachmittag freigenommen und dann diese Blamage. Ausgerechnet in jenem Moment lief ihm seine Ehefrau entgegen, die vor Freude strahlte und ihm ein freundliches Hallo entgegenbrachte, das er barsch erwiderte: »Wieso bist du schon zu Hause?«, fragte er mürrisch und wartete nicht einmal ihre Antwort ab. Stattdessen ließ er sie links liegen und ging. Als er wenig später die Küche betrat, setzte er die einseitige Unterhaltung fort, indem er sie ohne triftigen Grund beschimpfte, weil die gute Laune ihn nervte. Außerdem sah er in ihr ein williges Opfer, sich für den entgangenen Sex zu rächen. »Ja und? Wenn du zu Hause bist, könntest du dich wenigstens nützlich machen, stattdessen liest du? Kannst du abends immer noch. Übermorgen ist Karfreitag. Da dürfte wohl genug zu tun sein.« Er starrte sie hasserfüllt an. »Andererseits sollten wir die Zeit nutzen, bis dein Gof kommt.«
Die Gattin zeigte sich entsetzt, derart abfällig sprach er selten von dem Sohn, was sie schmerzte. »Bitte nicht in diesem Ton. Sag mir, was passiert ist«, fragte sie fürsorglich, um ihn zu beschwichtigen, und legte ihre Hand auf die seine, die er fest umgriff, sodass sie es mit der Angst bekam. »Lass das!« Ihre Stimme erstarb.
Danach kam eins zum anderen. Er drückte sie bäuchlings auf den Tisch, riss den Rock hoch, schob ihren Slip beiseite, während er sie festhielt, und öffnete seine Hose. Dass er dabei große Lust verspürte, wusste er längst. Er nahm sich jenen Teil, den eine Frau in seinen Augen in der Ehe zu erbringen hatte. Man war allein und niemand hörte ihr Schreien, ebenso wenig das Leid, das er ihr zufügte.
Nachdem er sie brutal vergewaltigt hatte, ließ er von ihr ab und drohte ihr Sanktionen an, würde sie auch nur ein Wort darüber verlieren.
Danach verschwand er durch die Tür, die laut ins Schloss fiel.
Sie zuckte zusammen, als sie das Schließen vernahm und schlich ins Bad, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche, deren Temperatur sie vollkommen vergessen hatte. Das Wasser war längst kalt geworden. Ihr Unterleib brannte wie Feuer, als hätte ihn jemand zerrissen. Wäre jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, ihn zu verlassen? Doch wohin sollte sie gehen? Etwa ins Frauenhaus? Sie würde wohl eine Weile dortbleiben, bis er sie aufspürte und zurück ins eheliche Heim drängte. Danach ging alles wieder von vorne los, denn er verstand es bestens, sie in die Enge zu drängen und klein zu halten.
Mit der Vergewaltigung hatte er das Fass allerdings zum Überlaufen gebracht. Du musst ihn anzeigen , sagte sie sich und überlegte, was zu tun sei, als sie das Piepen ihres Handys vernahm und es ihr heiß über den Rücken lief. Ihr Mann hatte ihr eine Nachricht mit eindeutigem Inhalt geschickt.
Vergiss nie, wer du bist! MEINE FRAU.
Zeige ich ihn an, muss ich gegen ihn aussagen. Er wird sich da rauswinden. Und geht er ins Gefängnis, kommt er irgendwann wieder auf freien Fuß und wird sich rächen. Dieses Arschloch wird nie aufhören, mich zu stalken. Und wenn ich ihn töte? Aber ich bin keine Mörderin, obwohl ich ihn erwürgen könnte. So wie es ist, kann es nicht weitergehen , grübelte sie unter höllischen Schmerzen, die nicht nachließen. Dass er sich hin und wieder brutal den Sex nahm, damit lebte sie seit Jahren, doch nie hatte er sie vergewaltigt.
Für den Rest des Tages verkroch sie sich im Schlafzimmer. Sie schaffte es gerade noch, das Abendessen zu richten, ein kurzes Gespräch mit dem Sohn zu führen und schlafen zu gehen. An jenem Abend ließ er sie zufrieden.
Während sich am nächsten Morgen Sandra Baumgartner aus dem Bett kämpfte und zu nichts zu gebrauchen war, beobachtete Nadine Andres ihr Haus, um sicherzugehen, dass es von Herrn Baumgartner verlassen wurde.
Die Frage, ob Frau Baumgartner einen Arzt aufsuchen oder den Tag freinehmen sollte, beschäftigte diese. Jedoch entschied sie sich für Letzteres und war froh, alle aus dem Haus zu wissen und sich ihren Tagträumen hinzugeben. Sie träumte von Trennung, einem selbstbestimmten Leben, von den Freundinnen, die sie kaum sah, weil ihr Mann es hasste, wenn man sich traf. Und sie wünschte sich mehr Gemeinsamkeit mit dem Sohn, den sie vernachlässigte, damit der Gatte nicht zu kurz kam. Gleichzeitig war da noch diese Fantasie von Liebe, die sie in sich trug, mit jemandem, der sie wertschätzte. Doch egal, wie sie sich entschied, die Lösung war dieselbe.
Heute, morgen und übermorgen.
Mitten in ihren Gedanken klingelte es an der Haustür, was sie zunächst nicht wahrnahm, bis es erneut ertönte. Sie ging davon aus, dass es der Postbote war, und öffnete ohne Nachfragen die Tür.
Jemand kam ins Haus und sah am Treppengeländer zu ihr hoch. »Hallo? Ist wer da?«, rief eine freundliche Frauenstimme ihr zu und näherte sich Stufe um Stufe, bis eine junge Frau in brauner Lederjacke und blondem längerem Haar vor ihr stand und sie nett fragte: »Guten Tag, mein Name ist Andres. Sind Sie Frau Baumgartner? Ich bin von der Konstanzer Kripo und würde Sie gerne sprechen.«
Sandra Baumgartner schaute sie mit großen, jedoch müden und verheulten Augen an und bejahte dies.
»Geht’s Ihnen nicht gut?«, wollte Nadine wissen.
»Doch doch. Ich habe gestern nur eine traurige Nachricht erhalten. Deshalb bin ich nicht arbeiten gegangen. Sie sind von der Kripo? Was ist passiert, dass Sie zu uns kommen?«, fragte sie überrascht nach.
Nadine biss sich auf die Unterlippe. »Dürfte ich eintreten? Hier auf dem Flur möchte ich das nicht besprechen«, versuchte sie, ihrem Anliegen eine wichtige Note zu verleihen.
»Ja, bitte, treten Sie näher. Sie müssen meinen Aufzug entschuldigen. Ich hatte noch keine Zeit, mich umzuziehen. Mir geht es nicht gut«, antwortete Frau Baumgartner leise und nestelte nervös am Arm, weil der seidene Morgenmantel verrutscht war. Dass darunter ein Hämatom zu sehen war, hatte Nadine längst bemerkt und Rückschlüsse auf eine mögliche Auseinandersetzung gezogen. Das Erkundigen danach vermied sie. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
Die Kriminalistin bejahte und folgte Frau Baumgartner in die Küche, wo sie am Esstisch Platz nahm. Erst als diese sich ebenso gesetzt hatte, begann sie zu reden. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, die im Zusammenhang mit drei Mordfällen stehen.«
Frau Baumgartner entglitt der Blick. »Mord? Hier bei uns?«
»Haben Sie davon nichts gehört?«, fragte Nadine überrascht nach.
Die andere verneinte mit langem Kopfschütteln.
»In der Zeitung gab es kürzlich einen Artikel darüber.«
»Sie meinen …?« Sandra Baumgartner stockte, um sich zu sammeln. »Ja, ich las das, habe es wohl verdrängt. Wissen Sie, ich habe genug eigene Probleme.«
Nadine schaute ernst. »Schlägt Sie Ihr Mann?« Als sie das fragte, sah sie sich die Frau, die ihr gegenübersaß, an. Sie wirkte fahrig, kaute auf der Lippe herum und spielte immerzu am Ärmel. Dass sie sich bei alledem nicht wohlfühlte, sah man genau. Ihr Kopf schien zu glühen.
Ich kann der doch nicht mein Leben ausschütten. Schlagen, wenn es nur das wäre. Das Schwein hat mich vergewaltigt, soll ich ihr das sagen? Dann kann ich mir gleich einen Sarg bestellen. »Nein, wo denken Sie hin? Das würde Manfred nie tun. Wir führen eine gute Ehe. Wissen Sie, er besitzt eine eigene Firma, verdient gut und auch sonst ist er ein fürsorglicher Ehemann.«
Das bringt nichts, ging es Nadine durch den Kopf. »Na dann. Wenn Sie eine gute Ehe führen, können Sie mir sicher sagen, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches an Ihrem Gatten aufgefallen ist.«
Sandra Baumgartner schluckte. »Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht war er anders als sonst, launisch oder kam spät heim. Halt alles, was nicht in Ihren üblichen Alltag passt.«
Sandra wurde nachdenklich. Stimmt, er kam letzte Woche erst in der Nacht nach Hause. Außerdem war er gereizt und was war gestern? Irgendetwas muss ihm gehörig gegen den Strich gegangen sein. Hm. »Nein«, antwortete sie, »er war wie immer. Ja klar, manchmal war er halt gestresst von der Arbeit, aber das ist normal«, log sie und nestelte weiter an ihrem Ärmel, was Nadine als ein Zeichen von Lügen deutete.
»Gut, wo war Ihr Mann am Sonntag gegen Nachmittag. Bitte überlegen Sie genau«, sagte Nadine streng.
»Sonntag? Warten Sie, um diese Zeit ist er für gewöhnlich im Vereinsheim, ein Bier trinken.«
Die Kriminalistin warf ihr einen finsteren Blick zu. »Da haben wir nachgefragt. Er hat sich den ganzen Nachmittag dort nicht sehen lassen«, drängte sie Frau Baumgartner mit der Antwort in die Enge. Dass Nadine zu einer Notlüge gegriffen hatte, behielt sie für sich.
Oh Gott oh Gott, was sag ich der jetzt? »Am Sonntag, na klar, wie vergesslich ich doch bin. Wissen Sie, sonntags besucht mein Sohn üblicherweise seine Großmutter, da ist er vor 16 Uhr nicht zu Hause. Manfred hat mich tags zuvor gefragt, ob wir uns nicht einen gemütlichen Nachmittag machen wollen. Sie wissen schon, mal ganz ungestört nur wir zwei. Er war hier bei mir.«
»Den ganzen Nachmittag?«, fragte Nadine eindringlich nach.
»Ja, den ganzen Nachmittag«, wiederholte Frau Baumgartner.
Nadine nickte. »Sollten Sie mich anlügen, wird das Folgen haben. Frau Baumgartner, Ihr Mann war also die Zeit über bei Ihnen? Habe ich das richtig verstanden? Sie geben ihm damit ein Alibi. Überlegen Sie sich das gut, denn an jenem Tag wurde eine Frau in der Nähe der Uni ermordet. Merkwürdig ist, dass wir die DNA Ihres Mannes an der Toten feststellen konnten.«
Sandra Baumgartner sah sie fragend an. »DNA? Wie, ich verstehe Sie nicht.«
»Mithilfe der DNA-Analyse sind heute praktisch alle menschlichen Körperzellen wie Blut, Haare, Sperma, Speichel usw. molekulargenetisch auswertbar. Sprich der genetische Fingerabdruck, der zweifelsfrei einem Menschen zugeordnet werden kann, wie in diesem Fall Ihrem Mann.«
Sandra runzelte die Stirn. »Sie meinen, mein Mann soll ein Mörder sein?« Ich würde ihm das sogar zutrauen.
»Ich meine gar nichts. Aufgrund der DNA gehen wir davon aus, dass er die junge Frau erwürgt und währenddessen vergewaltigt hat.« Wieso nimmt sie ihn in Schutz?
Das Schwein. »Bitte was? Währenddessen?« Frau Baumgartner holte tief Luft, blieb aber bei der Aussage.