Wir schafften die ersten sechs Songs von R.E.M.s Monster, bis wir die Klinik erreichten, und die Fahrt endete zu den letzten Klängen von »Strange Currencies«. Ohne unterwegs mit mir zu reden, hatte Baby den Sitz, die Lautstärke und die Lüftung auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Damit machte sie mir klar, dass sie nicht auf meine Hilfe angewiesen war. Baby kam gut allein zurecht, und es ging nur um diesen einen Gefallen.
Als ich parkte, war Baby schon halb ausgestiegen. »Sie meinten, es dauert ungefähr zwei Stunden. Ich glaube, um die Ecke ist eine Buchhandlung, aber ich weiß nicht, ob du gerne liest. Tut mir leid.« Ich beobachtete im Rückspiegel, wie sie auf den Betonkasten zujoggte, die Glastür aufschob und verschwand.
Dann drückte ich sechsmal auf den nach links zeigenden Doppelpfeil, und aus den Lautsprechern erklang wieder »What’s the Frequency, Kenneth?«.
Von mir war zwar noch niemand schwanger gewesen, aber einmal hatte ich gedacht, es wäre passiert. Unter gestörten Teenagern ist Sex ein verbreiteter Bewältigungsmechanismus, auch wenn die Medikamente, die sie kriegen, gewöhnlich dafür sorgen, dass sie nicht das volle Potenzial ihrer sexuellen Energie ausschöpfen. Die Ärzte behaupten, es sei eine unglückliche Nebenwirkung, dass sie, um die Chemie im Gehirn zu beeinflussen, die unsere Störung verursacht, unsere Sex-Chemie drosseln müssen. Für mich klingt das nach einem bequemen Versuch, labile Jugendliche an der Fortpflanzung zu hindern, aber Paranoia gehört zu meinen Symptomen, also macht aus meiner Verschwörungstheorie, was ihr wollt.
Jedenfalls war ich in der Geschlossenen, weil meine Macke wieder mal akut war. Die meisten meiner vorherigen Aufenthalte hatte ich auf der Kinderstation verbracht, wo die Insassen nach Dingen wie Süßigkeiten und Videospielen lechzten, um sich zuzudröhnen. Doch als die Pubertät einsetzte, konnten Mario Kart und Marsriegel den Anstaltskoller nicht mehr lindern, also wandten wir uns fleischlicheren Muntermachern zu, um uns von den Dramen in unseren Köpfen abzulenken, die wir alle durchlebten.
In der Jugendpsychiatrie waren Jungs und Mädchen zwar getrennt, aber wo ein Wille war, war auch ein Weg, und viele von uns hatten kein Problem damit, heimlich zur Sache zu kommen. Eine Weile lief es toll, aber die Psychiatrie kennt keine Wut wie die einer verschmähten Frau, und als ich ein Mädchen namens Valerie verschmähte, war die Kacke am Dampfen.
Sie war wegen Anorexie in Behandlung, und seit etwa einem Monat trafen wir uns regelmäßig — zweimal die Woche im Besenschrank, während ihre Zimmergenossin Schmiere stand —, bis Valerie dahinterkam, dass ich ihr nicht ganz treu gewesen war (ich hatte auch mit der Zimmergenossin geknutscht), und völlig ausrastete.
Um mich für meine Untreue zu bestrafen, klaute sie eine Flasche Meister Proper vom Wagen der Putzkolonne und trank sie zur Hälfte aus. Ich hatte gerade Gruppentherapie, als eine Krankenschwester Valerie inmitten einer großen Pfütze erbrochenem Allzweckreiniger in meinem Bett fand, mit einem Zettel, auf dem stand, ich hätte sie geschwängert und sitzen gelassen. Und weil sie schon dabei war, behauptete sie auch noch, ich würde aus dem Medizinschrank Schmerzmittel klauen und an andere Patienten verkaufen.
Die nächsten achtundvierzig Stunden waren die Hölle, aber ich erspare euch die Einzelheiten. Jedenfalls wurde Valeries Magen ausgepumpt, und als sie stabil war, kam sie wegen Selbstmordgefahr unter Beobachtung, während ich wie ein Serienmörder verhört wurde, bis alle (Ärzte, Eltern, Polizei, Rechtsanwälte) überzeugt waren, dass Valeries Anschuldigungen ausnahmslos falsch waren.
Zwar gab Valerie schließlich zu, dass ich kein Pillenhehler und sie nie schwanger gewesen war, aber da war es zu spät. Valeries Nahtoderfahrung löste bei mir jede Menge Reaktionen aus, die meinen Klinikaufenthalt um Monate verlängerten.
Während ich in den albtraumhaften Erinnerungen an Valerie schwelgte, wurde plötzlich die Beifahrertür aufgerissen und holte mich in die Gegenwart zurück.
Baby war wieder da. »Du musst reinkommen.«
»Was?«
»Ja, sie müssen sichergehen, dass ich nicht allein hier bin, und sie haben mir nicht geglaubt, dass Han Solo auf dem Parkplatz auf mich wartet.« Dann drehte sie sich um und ging zurück zur Klinik.
»Okay«, sagte ich, obwohl sie schon außer Hörweite war.
Baby saß wieder auf ihrem Platz im Wartebereich, als ich reinkam. Eine Frau hinter einer Plexiglasscheibe winkte mich heran.
»Han Solo, nehme ich an?«
»Ja, das bin ich. Ich meine, das ist nicht mein echter Name …«
»Du brauchst mir nicht deine Lebensgeschichte zu erzählen, Süßer — ich muss dich nur mit eigenen Augen sehen, damit ich weiß, dass sie in Begleitung hier ist.«
»Oh. Okay«, sagte ich. »Ja, ich bin die Begleitung.«
Die Frau nickte und winkte mich weg.
Ich setzte mich neben Baby. Jetzt, da ich hier war, kam es mir unsensibel vor, sie allein zu lassen, außer sie schickte mich fort. Baby beachtete mich nicht, aber da ich mich in Wartezimmern wie zu Hause fühlte, hatte ich kein Problem damit, schweigend dazusitzen.
Ich sah mich um. Der auffälligste Unterschied zwischen dem Familienplanungszentrum und den Wartezimmern, die ich kannte, war das rosa Farbkonzept hier. Der Linoleumboden war rosa. Die Sitzschalen der Stühle waren aus rosa Plastik. Die Tapete hatte ein rosa und malvenfarbenes Muster, und ich hatte den Verdacht, dass der triste graue Teppich an der Tür vor dem jahrelangen Fußgängerverkehr auch einmal rosa gewesen war. Psychiatrische Praxen waren meistens in Schattierungen von Blau und Beige gehalten, wahrscheinlich weil irgendwelche bahnbrechenden Studien ergeben hatten, dass Erdtöne Psychosen heilten. Ich fragte mich, welche Wissenschaft hinter dem verdammten Rosa steckte.
Ich griff nach einer Ausgabe von Entertainment Weekly mit Liv Tyler auf der Titelseite und tat so, als würde ich lesen.
»Ich konnte nicht sagen, wer mich fährt, weil ich nicht weiß, wie du richtig heißt«, sagte Baby irgendwann.
Weil sie mich nicht direkt gefragt hatte, brauchte ich eine Weile, bis ich begriff, dass sie meinen Namen wissen wollte.
»Oh. Ich heiße Joel.«
»Joe?«
»Nein — Joel. Mit einem l. Wie Billy Joel. Nur als Vorname. Mein Nachname ist Teague.«
»Ach so. Cool. Ich kenne niemanden, der so heißt. Na ja, außer Billy Joel. Aber den kenne ich nicht persönlich.« Baby strich sich durchs Haar. »Ich heiße Nicole. Nicole Palmer.«
»Nicht Nikki?«
»O Gott, nein. Ich hasse es, wenn ich Nikki genannt werde. Da ist mir Baby noch lieber.«
»Okay.«
Sie blätterte eine Seite in der Mademoiselle um, dann klappte sie sie plötzlich auf dem Schoß zu. »O Gott. Unsere Namen reimen sich. Nicole und Joel.«
»Stimmt«, sagte ich. Und weil mir eine Ein-Wort-Antwort nicht ausreichend schien: »Joel und Nicole haben die Nase voll.«
»Was?«
»Du weißt schon. Reimt sich.«
»Mann, ist das blöd.« Baby klang genervt.
»Ich weiß. Ich bin ein Blödmann«, gab ich zu. »Ich wollte nur die Stimmung auflockern.«
Ich kehrte zu Liv Tyler zurück, und Baby zur Mademoiselle.
»Wovon?«, fragte sie nach einer Minute.
Ich sah von der Zeitschrift auf. »Was wovon?«
»Joel und Nicole. Wovon haben sie die Nase voll?«
»Ach so.« Ich dachte kurz nach. »Von Rock ’n’ Roll?«
Baby nickte. »Und dann?«
»Spielten sie in Moll.«
»Und dann?«
»Kam der Zoll.«
Baby wartete kurz, dann sagte sie: »Fürs Protokoll.«
Ich grinste. »Das war grauenvoll.«
Ich hatte das Gefühl, Baby grinste fast zurück. »Für David Grohl.«
»Verdammt«, sagte ich. »Ich war echt stolz auf den Übergang von Rock ’n’ Roll zu Moll, aber mit den Foo Fighters hast du den Vogel abgeschossen.«
»Du meinst, ich bin toll.« Und jetzt grinste Baby wirklich. Eins ihrer Halbmondlächeln.
Es war einen Moment still, bevor ich sagte: »Nur fürs Protokoll, ich lese gerne, und ich war schon oft in der Buchhandlung an der Ecke. Die alte Dame, die dort arbeitet, denkt, ich hieße Jimmy.«
»Im Ernst?« Baby sah mich an. »Wer heißt nördlich der Mason-Dixon-Linie noch Jimmy?«
»Genau. Wenn, dann würde ich mich Jamie nennen lassen, weil coole Typen Jamie heißen.«
»Ist doch klar. Ich habe noch nie einen Jamie gesehen, der nicht cool war.«
»Stimmt’s?«
Baby holte tief Luft, ohne auszuatmen. »Ich bin hier, um abtreiben zu lassen.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe, bevor du mich hergefahren hast. Ich schätze, ich hätte es sagen müssen, um dir die Chance zu geben, aus moralischen Gründen abzulehnen.«
Ich klappte die Zeitschrift zu. »Was für moralische Gründe hätte ich gehabt, ein Mädchen zu zwingen, mit dem Taxi zu ihrer Abtreibung zu fahren?«
Ein paar Sekunden später ging eine Tür auf, und eine Frau in einem rosa Kittel kam heraus. »Nummer 1742?«, las sie von ihrem Klemmbrett ab und blinzelte durch die Brille.
Baby nahm ihre Tasche und stand ohne weiteres Wort auf.
»Ich warte hier«, sagte ich.
Sie nickte, und ich sah ihr hinterher, als sie in dem rosa Flur verschwand.