Auf dem Rückweg von der Klinik war Baby schweigsam. Sie hatte kein Wort gesagt, seit sie herausgekommen war, bis ich sie beim dritten Lied von Monster fragte, wo sie wohnte.
»Fahr mich einfach zur Videothek, da steht mein Auto«, entgegnete sie.
Damit verwirrte sie mich. »Geht es nicht darum, dass du nach dem Eingriff nicht Auto fahren sollst?«
»Bring mich einfach zur Scheißvideothek. Bitte.«
Ich tat wie geheißen, aber als ich zusah, wie sie vom Parkplatz fuhr, bereute ich, dass ich mich nicht durchgesetzt hatte.
Paranoide Menschen neigen zum Übertreiben und stellen sich immer das schlimmste Szenario vor, und während der nächsten Stunden wurde ich den Gedanken nicht los, dass Baby auf dem Heimweg vielleicht bei einem Autounfall gestorben war. Ich sah vor mir, wie ihr Auto an einem Baum klebte und der Obduktionsbericht eine große Menge Narkosemittel in ihrem Blut nachwies und die Trauergemeinde bei Babys Beerdigung klagte: »Hätte doch jemand auf sie aufgepasst …« Diese Gedanken zermarterten mich so lange, bis ich genug hatte und beschloss, ins Auto zu steigen und nachzusehen, ob sie lebend angekommen war.
Was nicht ganz einfach war, weil ich, wie gesagt, keine Ahnung hatte, wo Baby wohnte.
Laut Telefonbuch gab es zehn Palmers in Royal Oak. Fünf Adressen fuhr ich erfolglos ab, doch vor der sechsten stand ein intakter Honda aus den späten Achtzigern mit einem Pearl-Jam-Aufkleber an der Heckscheibe, und ich seufzte erleichtert, dass ich Baby nicht aus Versehen fahrlässig getötet hatte.
Sobald ich wusste, dass sie heil zu Hause war, dachte ich den Rest der Woche nicht mehr an sie. Es klingt vielleicht unsensibel, aber in der Gruppentherapie lernt man, Menschen und ihre Probleme voneinander zu trennen. Man muss sie voneinander abschotten. Wenn dir zum Beispiel jemand ein unglaublich explosives Geheimnis anvertraut und dich im nächsten Moment fragt, ob du die letzte Folge von Friends gesehen hast, ist es gut, wenn du beide Themen separat durchschiffen kannst. Versteht mich nicht falsch, natürlich fühlt es sich am Anfang seltsam an. Ich weiß noch, bei einer meiner ersten Gruppentherapiesitzungen erzählte ein Junge namens Kyle, dass seine Mutter ihm immer Fensterputzmittel ins Essen gemischt hatte, weil sie die Aufmerksamkeit genoss, die sie bekam, weil ihr Kind chronisch krank war. (Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom — ihr könnt es nachschlagen.) Alle anderen in der Gruppe fanden die Vorstellung so abartig, dass wir wie die Schlosshunde heulten, als wir von seinem Leidensweg hörten. Aber dann, eine Stunde später in der Klinikkantine, aßen wir zusammen Spaghetti und redeten über die MTV Video Music Awards. Ich meine, der Typ hatte uns gerade diese unglaubliche, tragische persönliche Geschichte von sich anvertraut, und dann saßen wir da, aßen Nudeln und unterhielten uns darüber, wie Anthony Kiedis das Video des Jahres vorgestellt hatte, indem er einer Banane einen Blowjob gegeben hatte. Es schien unmöglich, dass diese beiden Momente an einem Tag oder auch nur auf einem Planeten passieren konnten, aber so war es, und irgendwann wurde mir klar, dass Kindesmisshandlung und MTV sich nicht gegenseitig ausschlossen. Jeder hatte verschieden große Päckchen Sonnenschein und Scheiße zu tragen, und man konnte sich nicht immer auf die Scheiße konzentrieren.
Womit ich sagen will: Statt mir den Rest der Woche Sorgen um Baby zu machen, bestand ich meinen Wirtschaftskurs und meinen Englische-Literatur-Kurs und besiegte einen frustrierten Tim Moser gnadenlos in Tekken. (Er schob die Schuld an seinem Versagen auf den Anfang des neuen Schuljahrs.)
Ach, und ich ging zu Dr. Singh.
Ich berichtete ihm von den Anforderungen meines neuen Jobs und versicherte ihm, dass meine Eltern mir genug Raum gaben. Nur Baby und die Abtreibung erwähnte ich nicht, weil das ihre Probleme waren und nicht meine.
»Ich muss sagen, ich bin beeindruckt, wie gut es bei dir läuft«, beglückwünschte mich Dr. Singh, während er sich auf dem Klemmbrett Notizen machte.
»Na ja, es ist bloß ein Job in einer Videothek. Es ist ja nicht so, als hätte ich Krebs geheilt.«
»Noch nicht«, war seine ermutigende Antwort. Dann zeigte er auf das Nie-zu-spät-Poster.
Am letzten Samstag im August waren der Pate und ich für die Morgenschicht eingeteilt. Wir kamen gleichzeitig an, und sie parkte ihren silbernen Mercedes neben meinem alten Chrysler. Sie stieg aus dem Wagen, von Kopf bis Fuß in Schwarz, nahm ihre Sonnenbrille ab und zeigte auf mein T-Shirt.
»Sieben«, sagte der Pate.
Ich sah an mir hinunter. Ich trug ein altes Fußball-Trikot aus einem Secondhandladen. Tatsächlich prangte die Nummer sieben auf meiner Brust.
»Stimmt«, sagte ich, und weil mir nichts anderes einfiel, fügte ich hinzu: »Das ist die Zahl.«
Der Pate starrte mir direkt in die Augen. »Sieben ist eine Glückszahl.« Sie sprach jede Silbe klar und deutlich aus wie eine Linguistin, die sich nicht zu Verschleifungen herabließ.
»Okay«, sage ich.
Dann ging sie an mir vorbei, und ich folgte ihr in den Laden, genauso eingeschüchtert wie bei unserer ersten Begegnung.
Als wir aufgeschlossen hatten, fand ich eine Liste mit Instandhaltungsaufgaben, die Scarlet uns hingelegt hatte, weil sie davon ausging, dass nicht viel los wäre, denn Montag war Feiertag und die meisten Leute fuhren über das lange Wochenende an die Großen Seen.
»Wie wollen wir das aufteilen?«, fragte ich den Paten. Sie saß auf einem Barhocker und feilte sich die bereits perfekten Fingernägel. »Was willst du übernehmen?«
»Ich mache keine Hausarbeit«, antwortete sie.
Weil ich mich mit furchteinflößenden Frauen nicht anlegte, sagte ich: »Super« und machte mich an die Arbeit. Den Morgen verbrachte ich damit, Glühbirnen auszuwechseln, die Aufsteller für demnächst erscheinende Videos zusammenzustecken und die Kammer mit dem Warenlager aufzuräumen, was eine ziemlich zeitaufwendige Aufgabe war und mich zu meiner Erleichterung mehrere Stunden lang vom Paten fernhielt.
Die Kammer war nur dem Namen nach eine Kammer, in Wirklichkeit war sie fast so groß wie der Pausenraum. Hier lagerten die Vorräte (Süßigkeiten, Getränke et cetera) und jede Menge anderes Gerümpel. Zeug wie alte Filmaufsteller, Deko für verschiedene Feiertage, Büromaterial und eine Spinnenpopulation. Aber eigentlich war es nicht schwer, Ordnung hineinzubringen (bis auf die Spinnen). Am meisten Arbeit machten am Ende die unzähligen Pappkartons, die zerlegt werden mussten, bevor sie in die Papiertonne kamen.
Es war ein Idiotenjob, und er machte mir nichts aus. Nach ungefähr der Hälfte legte ich eine Pause ein, setzte mich auf einen Barhocker und riss mir eine Dose total unerfrischender lauwarmer Cola auf. Ich stellte fest, dass meine Finger mit lauter kleinen Schnittwunden übersät waren, wie man sie sich holt, wenn man mit bloßen Händen Berge von Pappkartons zusammenfaltet. Ich stellte die Cola ab und sah mir meine Hände genauer an.
Früher hatte ich schöne Hände gehabt. Als ich klein war, sagte meine Mutter immer, der liebe Gott hätte gute Fingernägel an einen Jungen verschwendet. »Das kommt von dem ganzen Wackelpudding, den du isst. Von Wackelpudding werden die Fingernägel fest, weil Wackelpudding aus Pferdehufen gemacht wird.« Ich habe ihre Behauptung nie überprüft, aber ich aß wirklich viel Wackelpudding, und ich hatte wirklich schöne Nägel, daher klang es plausibel für mich.
Crystal sagte dasselbe (dass ich schöne Hände hatte, nicht das mit dem Wackelpudding). Aus irgendeinem Grund liebte sie meine Hände. Sie wollte sie immer halten oder mir eine Maniküre machen. (Ich ließ sie ein paarmal.) So war es immer bei uns, seit ihrem ersten Besuch, am Abend nach dem Feuer im Brennofen.
Nach all der Aufregung, die ich mit der Verbrennung der Briefe ausgelöst hatte, gingen wir an jenem Abend alle früh zu Bett. Ich konnte noch nicht lange geschlafen haben, als ich von einem Poltern im Wandschrank geweckt wurde. Es war ein Poltern, bei dem die meisten Kinder an Monster, Gespenster oder den grauenhaften Horror-Clown aus Es denken würden, aber weil ich nach dem Schlimmen, das passiert war, keine Angst mehr vor erfundenen Dingen hatte, war meine Neugier stärker.
Als ich die Tür des Wandschranks öffnete, war ich froh und aus irgendeinem Grund nicht überrascht, das Mädchen aus dem Brennofen dort zu sehen. Sie stand auf den Zehenspitzen und kramte in einer Blechdose mit Baseballkarten herum, die oben auf einem Brett stand.
Brandwunden schien sie keine zu haben. Sie war auch nicht voller Ruß. Sie war frisch und sauber, hatte das Haar hochtoupiert und trug jede Menge rosa Lidschatten.
»Wie gut, dass du es bist!«, rief ich aufgeregt.
»Natürlich bin ich es!«, sagte sie.
»Ich habe dich heute im Ofen gesehen«, erklärte ich, weil ich nicht wusste, ob sie mich wiedererkannte.
»Ich weiß.« Sie kramte weiter.
»Warum warst du dort?«
»Ich habe meine Schachtel gesucht. Danke, dass du sie rausgeholt hast!«, sagte sie. »Wenn ich nur auch meine Liste finden könnte …«
»Oh!« Ich lief zum Bett und zog das Blatt unter der Matratze hervor. »Meinst du die hier?«
Sie stellte die Dose mit den Baseballkarten zurück. »Gott sei Dank«, flüsterte sie, nahm mir die Liste aus der Hand und umarmte mich. Sie hatte das grüne Kleid aus der Schachtel an. Ihr Haar roch nach Bubblegum und Babypuder. »Danke, Joel! Vielen Dank!«
»Gern geschehen!« Ich erinnerte mich nicht, dass ich ihr meinen Namen gesagt hatte, aber offenbar hatte ich das. Ihren hatte ich jedenfalls nicht mitbekommen, deshalb fragte ich sie jetzt danach.
»Genau deswegen brauche ich das hier!« Sie hielt die Liste hoch. »Hilf mir, Kleiner. Ich muss einen Namen finden, der gut zu mir passt.«
»Hast du keinen Namen?«
»Na ja, ich hatte einen. Aber es war der falsche Name.« Sie lächelte. »Hast du nie das Gefühl, du hast einen falschen Namen, Joel?«
»Nein. Ich mag meinen Namen. Wie Billy Joel, nur als Vorname, und mein Nachname ist Teague. Beinahe hätte ich Gabrielle geheißen. Die Ärztin dachte erst, ich wäre ein Mädchen.«
»Wie hübsch. Viel schöner als mein Name.« Das Mädchen setzte sich auf den Boden und nahm mich auf den Schoß. »Welcher davon, findest du, passt zu mir?« Sie hielt mir die Liste hin.
Ich las sie noch einmal. »Also, Christine hieß dieses Auto, das Leute ermordet. Kann sein, dass du damit gehänselt wirst«, warnte ich sie. Ich hatte den Stephen-King-Film letzten Sommer gesehen, und seitdem hasste ich den Namen.
»Das ist ein gutes Argument, Kleiner.« Sie lachte durch die Nase. »Christine ist gestrichen.«
»Und Gina gefällt mir nicht wegen dem Song von Bon Jovi«, gestand ich.
»Wirklich? Dir gefällt ›Livin’ on a Prayer‹ nicht? Das ist mein Lieblingssong!« Sie fing an zu singen.
»Ich kannte mal jemanden, der das Lied auch die ganze Zeit gesungen hat«, unterbrach ich sie. »Es war ganz schön nervig.«
Sie lachte wieder und wuschelte mir durchs Haar. »Schon gut. Jetzt reicht es mit den Namen, die du blöd findest. Welchen findest du gut?«
»Na ja, ich mag Ricki, aber dann nennen sie dich vielleicht Zicki-Ricki.«
Wieder lächelte sie. »Gestrichen!« Sie zeigte auf den ersten Namen. »Was hältst du von Breanne?«
Ich sagte nichts. Von allen Namen war mir bei Breanne am unbehaglichsten.
»Joel? Was hältst du von Breanne?«
»Das ist unfair.«
»Warum?«
»Ich kenne jemanden, der so ähnlich heißt, und ich will nicht noch jemanden kennen.«
»Meinst du nicht, es wäre schön, eine Freundin namens Breanne zu haben?«
»Nein.«
»Na gut, dann nicht Breanne«, versprach sie mir. Ich war erleichtert. »Dann bleiben übrig: Carol, Belinda, Tara und Crystal.«
»Ich finde Crystal am besten.« Ich drehte mich zu ihr um. »Kristalle sind schön, also klingt er am schönsten.«
»Hallo, ich heiße Crystal«, testete sie. »Nennen Sie mich Crystal. Freut mich, dich kennenzulernen, ich bin Crystal.« Sie grinste. »Ich glaube, wir haben einen Gewinner.«
Ich lächelte, aber dann fiel mir etwas ein. »Wir ziehen in ein paar Tagen nach Michigan. Könntest du nicht mitkommen?«
»Kommt darauf an.« Sie klopfte neben sich auf den Boden, und ich kletterte von ihrem Schoß. Crystal faltete die Liste wieder zusammen und stand auf. Dann nahm sie ihre Schuhschachtel von dem Brett über meiner Kleiderstange, legte die Liste hinein und nahm den Nagellack heraus. »Willst du wirklich, dass ich mitkomme?« Sie schüttelte das Fläschchen, setzte sich neben mich und begann, sich die Fingernägel zu lackieren. Die Farbe hieß Emerald City, das konnte ich auf dem Deckel lesen. »Wenn du willst, tue ich es. Aber wenn es zu schwer ist, bleibe ich hier.« Sie schürzte die Lippen und blies den Nagellack trocken.
»Ich will, dass du mitkommst. Ich habe keine Lust mehr, allein zu spielen.«
Crystal griff nach meiner Hand. »Schau dir deine Nägel an!« Sie rieb mit dem Finger über meinen Daumennagel. »Sie sehen aus wie Muschelkalk. Das musst du an dir selbst lieben lernen, okay? Nur wenige Menschen haben Fingernägel aus Muschelkalk.« Dann drückte sie ihre Handfläche auf meine, sodass unsere ausgestreckten Finger aufeinanderlagen. »Die Leute verstehen mich nicht, Joel. Und wenn ich immer bei dir bleibe, kann es sein, dass sie dich auch nicht verstehen.«
Ich spreizte ein paarmal die Finger und drückte sie wieder zusammen, sodass ihre dasselbe taten. »Dann erzähle ich eben niemandem von dir.«
Crystal sah mich an. Ihre Augen waren grün. »Ich kann mich ziemlich gut verstecken.« Sie nahm den Nagellack und lackierte meinen Zeigefingernagel.
Ich lächelte zurück. »Dann ist Michigan nicht mehr so schlimm.«
Als die Kammer sauber war, war ich dreckig.
Ich war nass geschwitzt und voller Staub und Tinte, die immer an alten Pappkartons klebt. Als ich mir das Gröbste abgewaschen hatte, ging ich raus zur Kasse.
Ich war so lange in der Kammer beschäftigt gewesen, dass inzwischen die Schicht gewechselt hatte. Jetzt stand Baby da, wo zuletzt der Pate gestanden hatte.
Ich lächelte, weil ich mich wirklich freute, sie zu sehen. »Wie geht’s dir?«
Sie verengte die Augen. »Ist das … Blut?«
Ich sah an meinem Sweatshirt hinunter und bemerkte jetzt erst die rostroten Schmierstreifen, wo ich mir anscheinend die zerschnittenen Finger abgewischt hatte. »Mist.« Ich zeigte ihr meine Hände. »Ich habe die Pappkartons entsorgt.«
»Hast du kein Kartonmesser benutzt?«
»Es gibt ein Kartonmesser?«
Sie schüttelte den Kopf über mich. »Welche Shirt-Größe hast du?«
Ich sagte medium, und sie wühlte im Schrank herum.
Ich hätte das Schweigen gern mit einer Frage nach ihrer Genesung gefüllt, aber ich wusste nicht, ob das erlaubt war. Jede Form von »Alles wieder gut?« kam mir nach einer Abtreibung irgendwie unangebracht vor.
Als Baby sich wieder umdrehte, hielt sie ein T-Shirt in der Hand. »Die Produktionsfirmen schicken uns immer Gratiskram.« Sie öffnete die Schranktür weiter und zeigte mir die Kartons mit der Aufschrift WERBEMITTEL. »Meistens sind es bloß Kulis und Magnete, aber manchmal sind auch T-Shirts dabei.« Sie faltete es auseinander und hielt es hoch. »Das einzige in medium ist von Reality Bites.«
»Worum geht’s da?«
»Das weißt du nicht?« Baby faltete das T-Shirt auseinander, um mir das Bild von Winona Ryder zu zeigen, die zwischen zwei Typen stand. »Es geht um ein Mädchen in einem Liebesdreieck zwischen einem erfolgreichen Langweiler und einem sexy Loser.« Sie zeigte auf die verschiedenen Charaktere. »Rate mal, für wen sie sich entscheidet?«
Ich sah mir die zwei Kandidaten an. »Ethan Hawke?«
»Yep. Sexy Loser.« Baby warf mir das T-Shirt zu. »Ich schwöre dir, zurzeit gibt es so einen in jedem Film, und der kriegt am Ende immer das Mädchen. Es ist wie eine Epidemie.«
»Eine Epidemie von sexy Losern?« Ich hielt mir das T-Shirt vor die Brust. Es sah aus, als würde es passen. »Das klingt gefährlich.«
Baby runzelte die Stirn. »Gefährlicher als du denkst, Solo. In diesen Filmen werden Arschlöcher glorifiziert. Attraktive, motivationslose Versager und die Frauen, die sie retten — das ist mehr oder weniger der Plot von jedem Film unserer Generation. Es ist so bescheuert«, schimpfte sie. »Nicht jeder faule Sack da draußen ist in Wirklichkeit ein genialer, gequälter Künstler mit grenzenlosem Potenzial. Ein paar davon sind einfach nur Versager, und es sollte nicht die Aufgabe der Frauen sein, sie zu retten.«
Ich sah mir das T-Shirt noch mal an. »Der Film ist also Mist?«
»Nein, er ist gut. Er wäre nur sehr viel besser, wenn Winona Ryder sich am Ende für sich selbst entschieden hätte.« Sie fuhr sich durchs Haar. »Aber schau ihn dir ruhig an. Ich glaube kaum, dass du dich in einen Slacker verwandelst, nur weil du Ethan Hawke zusiehst, wie er einen spielt. Außerdem bist du Lichtjahre reifer als die meisten Typen.«
Lichtjahre reifer als die meisten Typen. Ich wusste nicht, womit ich dieses Kompliment verdient hatte. Aber falls Indy bezeichnend für die Typen war, die Baby kannte, hing die Messlatte relativ tief. Egal. Leute wie ich bekamen solche Worte nicht häufig zu hören, daher würde ich sie nicht hinterfragen. Ich überlegte sogar, ob ich sie mir aufs Kopfkissen sticken lassen sollte.
»Vielleicht leihe ich mir den Streifen mal aus«, sagte ich zu Baby. Dann ging ich mich umziehen.
Für den Rest des Nachmittags blieb Baby für sich. Ich baute im Pausenraum den Aufsteller für Vier lieben dich zusammen, aber dann zog ein Gewitter herauf, und plötzlich brummte der Laden. Baby und ich bemannten beide Kassen, um die Schlange überschaubar zu halten.
Mitten im Andrang legte ein Mann drei Anhänger vor mich auf die Theke und kramte in seinem Portemonnaie nach seiner Mitgliedskarte. Er war Anfang vierzig und hatte dunkles Haar, das an den Schläfen grau wurde. Irgendwas an ihm kam mir bekannt vor. »Hallo, wie geht’s?«, fragte er mich.
»Gut. Und selbst?«
»Gut.« Er zeigte auf Baby. »Hey! Hast du neulich wegen der Säumnisgebühr angerufen?«
Baby bediente ihren Kunden weiter, während sie antwortete: »Wahrscheinlich. Sie sind immer spät dran, Mr Schwartz.«
Er nickte und sah mich an. »Einer der Nachteile, wenn man die Friedhofsschicht hat. Ich bringe immer die Tage durcheinander.«
»Kein Wunder.«
Ich holte die Filme aus dem Regal, die er ausgewählt hatte, und tippte seine Mitgliedsnummer in den Computer. Als ich auf Eingabe drückte, blinkte die Fehleranzeige auf, also tippte ich die Nummer noch mal.
Baby warf einen Blick auf meinen Bildschirm. »Ach so, das habe ich vergessen. Ihre Frau hat Sie aus ihrem Konto geworfen.«
Mr Schwartz grinste. »Im Ernst? Ich dachte, sie macht nur Witze.« Er lachte. »Und jetzt? Zerschneidet ihr meine Karte und ich darf den Laden nie mehr betreten?«
»Solo macht das schon«, sagte Baby und schob mir einen Mitgliedschaftsantrag hin.
»Wir können Ihnen Ihr eigenes Konto einrichten«, bestätigte ich.
Er las mein Namensschild. »Das ist Han Solo, oder?«, fragte er, als gäbe es mehrere Solos da draußen. »Ich liebe Star Wars. Gute Wahl.«
»Danke, Mr Schwartz.«
»Nenn mich Marc«, sagte er. »Seit wann arbeitest du hier?«
»Erst ein paar Wochen«, antwortete ich, während ich seine Adresse auf den neuen Vertrag übertrug. »Ich bräuchte noch einen Ausweis oder so was.«
»Ja, klar«, sagte Marc und griff sich in die Hosentasche. »Wo hast du vorher gearbeitet? Du kommst mir irgendwie bekannt vor.«
»Das ist mein erster Job.«
»Oh. Hmm.« Er reichte mir seine Visitenkarte. »Reicht das? Ich habe meinen Ausweis nicht dabei.«
»Klar.« Ich warf einen Blick auf seine Karte. Das Logo kam mir bekannt vor — der Umriss eines Kopfs im Profil mit einem Pflaster anstelle des Gehirns. Darunter stand:
DR. MARC J. SCHWARTZ
LEITENDER OBERARZT KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE
WELLER-CLAWSON-ZENTRUM
EXPERTEN FÜR GEISTIGE GESUNDHEIT
Oh, verdammt.
Ich hatte Dr. Schwartz gar nicht erkannt. Was verständlich war, weil ich ihn nur mit Schnurrbart, Brille und Arztkittel kannte.
Ich gab ihm die Karte zurück.
»Stimmt was nicht?«, fragte Marc.
»Nein.« Hastig las ich seine Videos ein. »Für neue Mitglieder ist das erste Video umsonst, die anderen beiden machen fünf Dollar fünfundzwanzig.«
Er gab mir einen Zehn-Dollar-Schein, und ich zählte das Wechselgeld ab. »Rückgabe morgen bis sieben Uhr.« Ich schob die Kassetten über die Theke.
Sein Ausdruck veränderte sich, als er mich erkannte. Vielleicht wusste er nicht mehr genau, wer ich war, aber ich merkte, dass er begriff, woher er mich kannte.
»Oh, tut mir leid«, flüsterte er, dann berührte er mit Zeigefinger und Daumen die Lippen und tat so, als würde er einen Reißverschluss schließen.
Es gab unauffälligere Gesten, aber wenigstens sagte er nichts nach dem Motto: »Und, hast du noch Probleme mit deiner Fantasiefreundin?«
Dr. Schwartz nahm die Kassetten und drehte sich um. »Bis dann, Baby. Lass dich von niemandem in die Ecke stellen, okay?« Dann sah er mich noch einmal an. »Nett, dich kennenzulernen, Solo.«
Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ich Leuten wie Dr. Schwartz im echten Leben begegnen könnte, aber ich hätte wohl damit rechnen müssen. Zählte man das Klinikpersonal und die anderen Patienten zusammen, gab es an die hundert Leute in der Gegend, die mich als Psycho outen könnten, und dank der wenig diskreten Art, wie Marc auf unsere zufällige Begegnung reagiert hatte, inzwischen möglicherweise einhunderteins.
Ich warf einen Blick zu Baby, doch sie schien nichts mitbekommen zu haben. Offenbar hatte ich noch mal Glück gehabt. Ich atmete auf. Meine Tabula war immer noch rasa.
Später, als ich Feierabend hatte, fand ich ein Video, das jemand auf die Theke gelegt hatte. Ich wollte es gerade ins System eingeben, als ich den gelben Zettel sah, der daran klebte.
Sag mir, was du davon hältst. — Baby
Ich zog den Zettel ab. Es war Reality Bites.
»Rückgabe bis morgen Abend um sieben.« Baby stand wieder hinter der Theke. »Und glaub nicht, dass ich dir keine Säumnisgebühr berechne, denn das würde ich tun.«
Ich grinste.
»Betrachte es als Dankeschön«, sagte sie. »Fürs Fahren neulich und … du weißt schon, die ganzen bescheuerten Reime im Wartezimmer.« Dann wurde sie ernst. »Ehrlich. Danke.«
Ich verstand, dass sie das Thema unseres Ausflugs damit abschließen und nicht noch einmal aufwärmen wollte, daher nickte ich nur und hielt das Video hoch. »Sexy Loser, ich komme!«
Wahrscheinlich der doofste Kommentar, den ich hätte machen können, aber egal. Ich war um Lichtjahre reifer als die meisten Typen. Außerdem musste Baby lachen, und das war immer ein Sieg.
Ich sah mir den Film abends vorm Schlafengehen an und beurteilte die Handlung im Hinblick auf Babys Kritik. Ich mochte den Film. Er steckte voller Humor und hatte Tiefgang, und anders als Baby störte es mich nicht, dass sich Winona am Ende für Ethan entschied. Vielleicht stehe ich einfach auf Happy Ends.