Als meine Eltern von meiner Beförderung erfuhren, waren sie ganz aus dem Häuschen. Ich glaube wirklich, mein Vater hatte Tränen in den Augen. Mom sagte so was wie: »Ich wusste, dass er es kann!«, was ich ihr zwar nicht abnahm, aber egal. Sie waren glücklich, und ich war glücklich, dass sie glücklich waren, und fast hätten wir Lagerfeuerlieder angestimmt. Auch mein Therapeut war glücklich und gab sein Okay für ein paar Wochen ohne ihn, solange ich mich mit meiner Verantwortung vertraut machte. Er warnte mich gleichzeitig, mich nicht von der »Arbeitswelt« verschlingen zu lassen und weiter auf meine geistige Gesundheit zu achten. Auf dem Weg hinaus sah ich das Hätte-sein-können-Poster an und lächelte.
Und so war zum ersten Mal seit langer Zeit alles dufte zu Hause, und ich muss sagen, es fühlte sich verdammt gut an.
Wie sich zeigte, hatten meine Mitarbeiter ihre gerechte Empörung über meine Beförderung auch bald verdaut (bis auf Baby, aber dazu später), vor allem, weil sie merkten, dass ich als Vorgesetzter ein ganz anständiger Typ war. Wie Scarlet vorausgesagt hatte, veränderte sich bei ROYO Video nicht viel. Ich meine, das ganze Kistenschleppen, das ich sowieso schon getan hatte, gehörte jetzt offiziell zu meinen Aufgaben, aber das war in Ordnung für mich. Wie ihr wisst, war ich froh, wenn ich beschäftigt war.
Außerdem machte es mir Spaß, Leute für meinen alten Job zu interviewen, was Scarlet und ich in der folgenden Woche taten.
Es erinnerte mich an die psychologischen Evaluationsgespräche, nur mit vertauschten Rollen. Wahrscheinlich wollen Arbeitgeber beim Vorstellungsgespräch auch nur wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Bewerber das Gebäude in die Luft sprengt. Mit solchen Gesprächen kannte ich mich aus, und ich fühlte mich der Aufgabe gewachsen, die tauben Nüsse auszusortieren.
Zum Glück bewarben sich keine offensichtlichen Psychopathen für den Job, und Scarlet und ich schränkten die Auswahl auf drei junge Hoffnungsträger ein, die alle NORMAL schienen.
Am Ende machte ein Typ namens Andres das Rennen, der Maverick genannt werden wollte — Tom Cruises Rolle in Top Gun, für die Quizspieler unter euch. Er hatte sogar schon bei Blockbuster gearbeitet, ein klarer Vorteil vor den beiden anderen, die keinerlei Videothekenerfahrung vorwiesen. Doch ehrlich gesagt war klar, was Scarlet am meisten an ihm überzeugte: Maverick war groß, braun gebrannt und durchtrainiert wie ein J.-Crew-Model.
Scarlet leitete das Gespräch. »Warum hast du deinen letzten Videothekenjob gekündigt?«
»Ich habe dort gearbeitet, wenn ich im Sommer bei meiner Großmutter in Puerto Rico war«, antwortete Maverick in spe.
Sie notierte etwas auf seiner Bewerbung. »Ich wusste gar nicht, dass sie in Mexiko Blockbuster haben!«
Maverick sah von Scarlet zu mir, und um ihn wissen zu lassen, dass zumindest einer seiner zukünftigen Vorgesetzten nicht auf den Kopf gefallen war, bemerkte ich: »Puerto Rico ist nicht in Mexiko, Scarlet.«
Aber sie ließ sich von der Berichtigung nicht aus der Fassung bringen. »Ach so, das heißt, du sprichst gar nicht Mexikanisch? Manchmal haben wir mexikanische Kunden, und es wäre nicht schlecht, wenn sie sich mit jemanden verständigen könnten.«
»Eres pendeja«, antwortete er lächelnd. »Das heißt: Ja, ich spreche Mexikanisch.«
Ich wusste, dass es das nicht wirklich hieß. Aber ich hatte das Gefühl, Maverick würde sehr gut ins ROYO-Video-Team passen. Vor allem zu Baby.
Ich bat Baby, ihn einzuweisen, so wie sie es bei mir getan hatte, woran ich sie wahrscheinlich besser nicht erinnert hätte.
»Warum? Damit er in einer Woche auch mein Boss ist?«, gab sie zurück. »Wieso sollte ich je wieder jemanden einweisen, Solo?«
Im Prinzip hatte sie recht, aber ich ging nicht darauf ein.
»Willst du nicht, dass deine zukünftigen Vorgesetzten gut ausgebildet sind?«, antwortete ich stattdessen, und lasst mich sagen, Baby fand meinen Witz nicht komisch.
Seit dem Tag im Headlights fand Baby offenbar gar nichts mehr komisch, was ich sagte. Sie fing an, mich zu behandeln wie alle anderen, und bis dahin war mir nicht klar gewesen, wie anders das war.
Baby lieh keine Videos mehr für uns, um danach darüber zu sprechen. Wir redeten sowieso kaum noch miteinander. Nach dem Headlights war Baby schweigsam geworden. Introvertiert (um einen Therapiebegriff zu benutzen). Sie kam zur Arbeit, arbeitete und ging. Ansonsten sah und hörte ich nichts von ihr.
Na ja, dass ich nichts von ihr hörte, stimmt nicht ganz. Eine Sache hörte ich sehr laut.
Im Oktober am Zahltag kamen alle vorbei, um ihre Schecks abzuholen. Allerdings enthielt der Umschlag diesmal außer dem Scheck auch eine Mitteilung zu dem Halloween-Fest, das die Handelskammer von Royal Oak am Samstag vor Halloween im Stadtzentrum veranstaltete und an dem wir uns beteiligen sollten.
»Müssen wir verkleidet kommen?«, fragte Hannibal.
»Ja. Auf jeden Fall«, sagte Scarlet ein wenig zu aufgeregt. »Wir verkleiden uns alle als die Figuren, deren Namen wir tragen. Meine Eltern sind überzeugt, dass die Kunden die Idee lieben werden.«
Hannibal sah sie skeptisch an. »Deine Eltern wollen, dass ich als Serienkiller, der seine Opfer auffrisst, zur Arbeit komme?«
»Na ja, ist doch Halloween«, gab Scarlet zurück. »Das wird bestimmt lustig!«
»Ich bin einverstanden«, sagte der Pate, wahrscheinlich nur, weil sie sowieso jeden Tag wie ein Gangster aussah und sich null Mühe mit ihrem Kostüm geben musste.
»Du meinst, ich habe nur eine Woche, um mir ein Mary-Poppins-Kostüm auszudenken?«, seufzte Poppins, aber sie war offensichtlich Feuer und Flamme. »Das wird interessant.«
Dirty Harry war weniger begeistert. »Wenn Mom will, dass ich das mache, muss sie mir ein Bigfoot-Kostüm nähen. Ansonsten vergiss es.«
»Wofür brauchst du ein Bigfoot-Kostüm?«, fragte Hannibal und nahm mir die Worte aus dem Mund.
»Hast du nicht Bigfoot und die Hendersons gesehen?«, sagte Dirty verächtlich. »Bigfoot ist Harry.«
»Ich habe Bigfoot und die Hendersons gesehen. Aber ich habe auch Dirty Harry gesehen«, erklärte Hannibal langsam. »Eine Figur namens ›Dirty Harry‹ kommt nur in einem von beiden vor, mein Freund. Und der hat nichts mit Bigfoot zu tun.«
»Dirty Harry ist ein knallharter Cop aus den Siebzigern«, bestätigte Maverick, der nach einer Woche längst mitgekriegt hatte, was für eine Niete Scarlets kleiner Bruder war. »Das weiß echt jeder.«
»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Dirty.
»Doch«, sagten Poppins, der Pate und ich im Chor.
»Na und? Interessiert doch keinen«, gab Dirty zurück. »Hauptsache, Mom macht mir ein Scheiß-Bigfoot-Kostüm.«
»O Gott, du bist so ein Blödmann«, murmelte Scarlet.
»Als hättest du gewusst, wer Dirty Harry ist«, entgegnete er. »Und tu nicht so, als wäre der ganze Kostüm-Scheiß nicht deine Idee. Ich hab gehört, wie du Mom angebettelt hast, weil du unbedingt den nuttigen Fetzen anziehen willst, den du im Halloween-Store in der Mall gekauft hast.«
Scarlet tötete ihren Bruder mit Blicken, womit ziemlich klar war, dass er die Wahrheit sagte. »Halt die Klappe, Scott. Wir machen es so, und damit basta!«
Also akzeptierten wir unseren Halloween-Kostümzwang, und alle gingen zurück an die Arbeit oder ihrer Wege, während Dirty wahrscheinlich nach Hause lief, um sich bei seiner Mami auszuheulen.
Nur Baby ließ sich auf einen Kampf ein. »Das ist total scheiße und lächerlich. Ich mache nicht mit.«
Scarlet ignorierte sie und wandte sich zum Gehen. »Doch, machst du.«
Baby versperrte ihr den Weg. »Mich an Halloween zu verkleiden ist gegen meine Religion.«
Scarlet verschränkte die Arme vor der Brust. »Red keinen Stuss, Baby. Du hast gar keine Religion.«
»Das weißt du nicht.«
»Schön. Welche Religion hast du?«, fragte Scarlet.
»Darauf muss ich nicht antworten«, gab Baby zurück. »Die Frage ist illegal.«
»Ist sie nicht.«
»Hast du schon mal vom Civil Rights Act von 1964 gehört?«, fragte Baby, wohl wissend, dass Scarlet keine Ahnung hatte. »Ich könnte dich wegen der Frage verklagen.«
Scarlet verdrehte die Augen, dann sah sie mich an. »Kümmer du dich darum, Solo.«
Ich sah Baby an und dann Scarlet. »Wie?«
»Du bist auch ihr Vorgesetzter«, erinnerte sie mich. »Sag ihr, sie muss anziehen, was wir ihr vorschreiben.«
Baby riss die Augen auf. Ich auch.
»Ich glaube echt nicht, dass wir ihr das vorschreiben können«, sagte ich leise. »Ich glaube, Baby hat recht, es ist illegal.«
Scarlet sah mich unschuldig an. »Du bist auf ihrer Seite?« Dann lehnte sie sich vor und flüsterte mir ins Ohr. »Komm schon, Solo. Es bedeutet mir echt viel.«
Habe ich schon mal erwähnt, wie fantastisch Scarlet roch? Ich meine, habe ich bestimmt, aber ich kann es ruhig noch mal sagen. Und habe ich erwähnt, dass Scarlet heute einen Faltenrock trug? Wie der Rock einer katholischen Schuluniform, nur viel, viel kürzer?
Ich sah Scarlet an und dann Baby.
Am Ende sagte ich (und ich verstehe, wenn ihr mich dafür hasst): »Ach komm, Baby. Was ist so schlimm daran?«
Ihr Blick sagte: »Judas!«, und ihr Mund sagte: »Schert euch beide zum Teufel.« Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte davon.
Scarlet hüpfte triumphierend auf der Stelle. »Es wird so lustig!«
»Ehrlich gesagt finde ich, Baby hat recht«, widersprach ich, viel zu spät, um bei Baby zu punkten. »Ich habe auch keine Lust, mich zu verkleiden.«
»Es wird toll, verlass dich drauf! Ich bin so gespannt, wie scharf du als Hans Solo aussiehst.« Sie zwinkerte mir zu. »Und ich glaube, dir wird mein Kostüm auch gefallen.«
Mir fiel ein, wie Baby die Scarlett auf dem Vom-Winde-verweht-Plakat beschrieben hatte.
»Na ja, wenn es gut fürs Geschäft ist …«
Scarlet strahlte mich an, dann machte sie sich auf den Weg. »Es wird ein unvergesslicher Tag. Verlass dich drauf.«