Am Samstag vor Halloween schloss ich den Laden auf.
Die offizielle Veranstaltung begann erst um zwei, deshalb hätte ich nicht schon morgens um neun als Han Solo verkleidet zur Arbeit kommen müssen, aber ich tat es.
Baby, die ebenfalls Frühschicht hatte, brachte ihr Kostüm in einer Tüte mit wie ein NORMALER Mensch. Sie hatte sich Locken gedreht und das Haar mit Klämmerchen festgesteckt, damit sie einigermaßen wie Jennifer Grey auf der Schachtel von Dirty Dancing aussah, aber abgesehen davon sah sie aus wie immer.
»Ich musste mir den beschissenen Film ansehen«, war der erste Satz, der an dem Morgen aus ihrem Mund kam. Sie stand hinter der Theke, riss Süßigkeitentüten für die Kinder später auf und leerte sie in eine riesige kürbisförmige Schüssel.
»Du hättest dir doch bloß die Schachtel ansehen müssen«, entgegnete ich, ein Tipp, der im Nachhinein zugegebenermaßen überflüssig war.
Baby sah mich böse an. »Das habe ich, Blödmann, aber ich hatte gehofft, im Film kämen irgendwelche Szenen mit Baby im Pyjama vor, damit ich eine Ausrede gehabt hätte, mich nicht zu verkleiden.«
»Und, gab es welche?«
»Nein«, murmelte sie. »Aber da war die Stelle, wo sie ohne nachvollziehbaren Grund eine gottverdammte Wassermelone durch die Gegend schleppt.« Sie verzog das Gesicht. »Ach, und eine verpfuschte Abtreibung kam auch darin vor. Du kannst dir vorstellen, wie toll das war.«
»Ernsthaft?«
»Ja, ernsthaft! Aber keine Angst, Boss. Ich habe den Film trotzdem gesehen. Ich wollte nicht gegen deine Anordnungen verstoßen.« Sie salutierte. »Um vierzehnhundert Uhr werde ich im Kostüm strammstehen.«
Ich kam mir wie ein Arschloch vor. »Ach komm«, seufzte ich. »Du weißt, dass es nicht so ist.«
»Es ist genau so«, zischte sie. »Ich sag dir was, Solo, es ist eine echte Enttäuschung, wie verdammt typisch du bist. Wenn du Boobs McGees Titten siehst, sabberst du wie jeder andere Typ auf der Welt. Ich hatte dich für was Besseres gehalten.« Die nächste Süßigkeitentüte riss sie mit solcher Kraft auf, dass die Bonbons durch die Luft flogen. »Du weißt bestimmt, dass du nur Schichtmanager geworden bist und ich nicht, weil du einen Schwanz hast, den sie kraulen kann, oder?«
Damit erwischte sie einen Nerv. »Na und? Was ist dabei, wenn ich ein typischer Typ bin? Ich finde es vollkommen okay, ein typischer Typ zu sein, Baby.« Tatsächlich war es das, wovon ich immer geträumt hatte.
Baby sah mich angewidert an. »Warum hast du mir diese Sache nicht ersparen können?« Sie fuhr sich durchs Haar, bis ihr einfiel, dass sie Locken hatte, und damit aufhörte. »Warum hast du mir nicht einfach geglaubt, dass ich einen guten Grund habe, mich nicht verkleiden zu wollen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich dachte ich, es wäre keine so große Sache.«
»Aber für mich ist es eine große Sache. Das hätte dir reichen müssen.«
Die Tür ging auf und schnitt unser Gespräch ab. Ein paar Kinder liefen zur Theke und stellten sich vor den Halloween-Aufsteller. »Sie haben ihn, Mom!«, rief der Junge, schnappte sich die Nummer und hüpfte aufgeregt auf der Stelle. »Sie haben Der große Kürbis von Charlie Brown!«
»Guten Morgen!« Baby strahlte die Eltern an, als sie an der Theke vorbeikamen. »Willkommen bei ROYO Video! Melden Sie sich, wenn wir helfen können.«
»Danke«, sagte der Vater. Dann zeigte er auf mich. »Hey! Schickes Kostüm. Möge die Macht mit dir sein.«
Ich lächelte und antwortete aus irgendeinem Grund mit: »Und mit dir.«
Als sie außer Hörweite waren, wandte sich Baby wieder an mich. »Ich will nachher keine einzige Entschuldigung von dir hören. Denk daran. Denk daran, egal was passiert, du hättest es verhindern können, deshalb werden deine Scheißentschuldigungen nicht akzeptiert.« Sie drückte mir den Kürbis mit den Süßigkeiten in den Arm und stampfte davon.
Ich wusste nicht, was ihre Warnung zu bedeuten hatte, aber sie ging mir den ganzen Vormittag durch den Kopf. Es sah Baby nicht ähnlich, leere Drohungen auszusprechen, und warum auch immer man bereuen könnte, ein Mädchen zu zwingen, ein Dirty-Dancing-Kostüm zu tragen, ich rechnete damit, es Punkt 14 Uhr zu erfahren.
Voller Vorfreude auf Halloween kamen die Leute an diesem Samstag schon früh in die Innenstadt, und im Laden herrschte ständig Betrieb — zu viel Betrieb, um Baby zu sagen, dass ich längst bedauerte, mich auf Scarlets Seite geschlagen zu haben. Ja, ich hätte mich dafür einsetzen müssen, dass Baby eine Ausnahme machen durfte. Nein, sie musste mir ihren Grund dafür nicht nennen. Jetzt, da ich Scarlets Minirock nicht mehr vor der Nase hatte, war mir klar, wie bescheuert ich mich verhalten hatte. Ich wollte es wiedergutmachen.
»Du siehst gut aus, mein Freund«, begrüßte mich Hannibal, als sein Dienst anfing.
Ich sah von der Kasse auf. »Danke.« Ich wollte ihm das Kompliment zurückgeben, aber es blieb mir im Hals stecken. Er trug einen orangen Gefängnisoverall und eine abgesägte Hockeymaske, die aussehen sollte wie der Bissschutz von Hannibal Lecter. »Du siehst gruselig aus.«
»Mission erfolgreich«, antwortete er.
Ein paar Minuten später kam Poppins in einer weißen Bluse mit roter Schleife. An ihrem Bowler-Hut steckte eine Feder, und sie hatte einen Schirm dabei.
»Sehe ich nicht in jeder Hinsicht praktisch perfekt aus?«, flötete sie.
»Absolut«, antwortete ich. »Praktisch.«
Minuten später kamen Maverick und der Pate durch den Flur, die sich beide ebenfalls Mühe mit ihren Kostümen gegeben hatten. Das heißt, der Pate war zwar nicht anders angezogen als sonst, aber sie trug eine Fliege dazu und hatte sich eine rote Rose ins Knopfloch gesteckt. Ihr Haar war zurückgegelt und zu einem Knoten frisiert wie bei Lilith aus Frasier, noch so eine Frau, vor der ich Angst hatte. Maverick trug eine ziemlich akkurate Bomberjacke samt Airforce-Aufnähern. Aber eigentlich sah er sowieso wie ein Filmstar aus und konnte sich wie Tom Cruise anziehen, ohne dabei ironisch zu wirken.
Kurz nach allen anderen kehrte Baby aus ihrer Pause zurück und verzog sich gleich wieder, um sich in Schale zu werfen. Ich erwischte sie allein auf dem Flur.
»Hey, Baby. Ich habe nachgedacht … Geh einfach nach Hause und sag, du wärst krank.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum sollte ich?«
»Dann musst du dich nicht verkleiden. Und Scarlet lässt dich in Ruhe, weil ich ihr sage, du hattest dein Kostüm dabei und wolltest es auch anziehen, aber dann musstest du dich übergeben, und ich habe dich heimgeschickt.«
Der Vorschlag schien sie leicht zu amüsieren. »Aha … Es ist also okay, Scarlet anzulügen, um mich da rauszuboxen, aber es ist nicht okay, wenn ich vollkommen legitime persönliche Gründe habe, nicht mitzumachen?«
»In diesem Fall, in diesem Moment, ja«, sagte ich. »Ich versuche dir nur einen Ausweg zu bieten, Baby.« Ich sah auf ihre Schuhe. Es waren Converse. Grün. »Nimm ihn einfach, okay?«
Sie wartete eine Minute, bevor sie sagte: »Okay.«
»Okay?«
»Ja. Okay.«
Ich seufzte erleichtert. »Verstehen wir uns wieder?«
»Ja, Solo. Wir verstehen uns wieder.« Baby presste ein nichthalbmondförmiges Lächeln ohne spitze Winkel heraus und verschwand in der Kammer.
Nachdem das Problem gelöst war, fühlte ich mich besser und kehrte an die Arbeit zurück.
Langsam trudelten Kinder in Kostümen im Laden ein, und Poppins stand am Eingang und verteilte Bonbons und Lutscher.
»Stellt euch ordentlich in die Reihe! Hopp, hopp!«, flötete sie mit britischem Akzent, als ich meinen Platz an der Kasse einnahm. »Und achtet auf eure Manieren. Wir sind keine Dorsche!«
Baseballspieler, Feen, Feuerwehrleute und Monster stellten sich in einer Schlange an und hielten ihre Tüten und Kissenbezüge auf, um ihre Beute in Empfang zu nehmen.
Mit der zusätzlichen Laufkundschaft flogen die Filme nur so von den Regalen, sodass ich nicht viel mit dem Halloween-Trubel zu tun hatte. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich mich über den Anblick der verkleideten Kinder freute. Seit wir aus Virginia weggezogen waren, hatte ich nicht mehr Halloween gefeiert. In Michigan hatte ich keinen, der mit mir loszog, und Süßigkeiten sammeln will man als Kind nicht allein.
Ich bediente mehrere Kunden auf Autopilot — scannte Mitgliedskarten, nahm die Filme aus dem Regal, kassierte Gebühren —, bis auf dem Bildschirm ein Name auftauchte, der mich stutzen ließ.
»Jana Schwartz«, las ich vor. »Sind Sie die Frau von Marc Schwartz?«
»Ja«, bestätigte sie und reichte mir eine Nummer. »Aber ich zahle seine Säumniszuschläge nicht mehr. Er darf nämlich nicht mehr über mein Konto ausleihen.«
»Nein, müssen Sie nicht«, sagte ich und ging zum Regal, um ihren Film herauszusuchen. »Tut er nicht.«
Ich wusste nicht, ob Dr. Schwartz seiner Frau von mir erzählt hatte, aber die Möglichkeit bestand. Nicht, dass ich mich für so besonders hielt, dass alle über mich sprachen Aber wenn ich der Arzt gewesen wäre, der sich um mich kümmern musste, nachdem meine Anstaltsgeliebte versucht hatte, sich mit Meister Proper umzubringen, hätte ich es meiner Frau bestimmt erzählt. Und wenn ich ihm Jahre später in meiner Videothek an der Kasse wiederbegegnet wäre, hätte ich ihr auch davon berichtet, als Follow-up, wie bei Was macht eigentlich …?
Nur für den Fall, dass Jana Bescheid wusste, beschloss ich, mich besonders NORMAL zu verhalten.
»Da ist er … Lügen haben lange Beine.« Ich scannte den Strichcode der Videokassette. »Eigentlich sind in diesen Tagen ja eher gruselige Film angesagt, keine romantischen Komödien.«
Na ja, vielleicht war das nicht besonders NORMAL, aber ich fand, ich hatte wenigstens Punkte für den Versuch verdient.
Sie grinste. »Stimmt. Aber mir war heute nach was Lustigem. Wobei es hier auch ziemlich lustig ist«, sagte sie, als sie sich umsah.
»Ja, oder?« Ich nickte und versuchte, lässig auszusehen. »Voll cool, der Vibe hier.«
»Finde ich auch«, stimmte sie zu, und ich beschloss: Falls sie irgendwas über mich wusste, war sie gut darin, es zu verbergen. »Schau mal, die Kleine da hinten, die als Kürbis verkleidet ist?« Sie zeigte zur Tür.
Ich sah nur einen orangen Zipfel hinter dem Regal verschwinden. »Ja. Ist das Ihre?«
»Oh, nein«, sagte Jana schnell. »Das Kostüm war nur so süß. Ich habe keine Kinder.«
»Entschuldigen Sie.« Ich war einfach davon ausgegangen, dass sie Mutter war. Alle erwachsenen Frauen, die ich kannte, waren Mütter.
»Kein Problem. Das konntest du ja nicht wissen.«
»Was wissen?«, fragte ich.
»Schon gut.« Sie nahm die Videokassette. »Danke. Und schickes Kostüm. Sehr witzig, dass ihr euch als ihr selbst verkleidet habt.«
»Danke«, sagte ich und beschloss, es mit dem Coolsein sein zu lassen. Je mehr ich mich anstrengte, NORMAL zu sein, desto seltsamer benahm ich mich offenbar. »Bringen Sie ihn bis morgen um sieben zurück — ich weiß, dass Sie nicht gern Strafe zahlen.«
Jana nickte und ging.
Weil es sinnlos war, die Nummern in den Regalen zu verteilen, solange die Kinder die Gänge verstopften, rief ich den Paten zur Kasse, um mich abzulösen. Ich wollte mit Scarlet sprechen, bevor sie merkte, dass Baby gegangen war, aber ich hatte sie noch nicht im Laden gesehen. Ich ging nach hinten ins Büro, um nachzusehen, ob sie dort war.
Keine Spur von Scarlet. Stattdessen schnappte ich mir noch ein paar Süßigkeitentüten, um Poppins’ Eimer nachzufüllen, und machte mich wieder auf den Weg nach vorn.
In diesem Moment lief ich Scarlet auf dem Flur in die Arme. Buchstäblich.
»Tut mir leid!«, entschuldigte ich mich automatisch, als ich einen Schritt zurücktrat. Ich hatte die Person, mit der ich kollidiert war, nicht gleich erkannt, weil Scarlet eine Perücke trug.
Und Reizwäsche.
Ich weiß nicht genau, wie ich sonst beschreiben soll, was Scarlet anhatte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nichts mit irgendeinem Originalkostüm aus Vom Winde verweht zu tun hatte, es sei denn Vom Winde verweht war ein gut getarnter Bürgerkriegs-Porno.
Auf dem Kopf trug sie einen weichen grünweißen Hut, der mit einer Schleife unter ihrem Kinn zugebunden war. Die Perücke war dunkelbraun und lockig. Was Mode angeht, ist mein Wortschatz beschränkt, also sage ich es einfach so: Was Scarlet vom Hals abwärts trug, entsprach »meinen wildesten Fantasien«. Ihr Outfit war eine Kreuzung aus einem Badeanzug und den Dingern, die Ballerinas anhaben. Dazu weiße Strümpfe (was das ist, weiß ich), die bis zu den Oberschenkeln gingen und durch eine Art Gürtel mit dem Rest der Wäsche befestigt waren. Außerdem trug sie Stöckelschuhe — extrem hohe, in denen sie größer war als ich. Zusammengefasst sah Scarlet aus wie eine überdimensionierte Sex-Sahneschnitte, und das ist die beste Torte, die es gibt.
Sie fand das Gleichgewicht wieder, indem sie sich an meinem Bizeps festhielt (ich weiß, ich hätte auch einfach Arm schreiben können, aber gönnt es mir an dieser Stelle).
»Hey, Solo. Sieh dich an!«, sagte sie und stemmte die Hand in die Hüfte, wodurch klar wurde, dass sie eigentlich meinte: »Sieh mich an!«
Und ich sah sie an, das könnt ihr mir glauben.
»Wie sind die Kostüme der anderen?«, fragte sie und spähte an mir vorbei.
Anders als deins, wollte ich sagen, aber ich stammelte nur: »Gut.«
»Ach ja?« Sie sah mir in die Augen. »Auch Babys?«
»Ach so. Also, wegen Baby …« Ich musste mich aus meiner sexy Tortenfantasie reißen. »Ich habe sie nach Hause geschickt. Sie war total krank.«
Scarlet sah mich wütend an. »Ist das dein Ernst? Sie behauptet, dass sie krank ist, nur, um sich nicht verkleiden zu müssen? Das ist echt jämmerlich.«
»Nein, sie war wirklich krank. Außerdem wollte sie nicht gehen. Ich musste sie praktisch zwingen.«
Plötzlich ging neben uns die Tür der Kammer auf. »Träum weiter, Solo«, sagte Baby beiläufig, als sie in den Flur trat. »Als könntest du mich zu irgendwas zwingen.«
Wenn mich Scarlets Kostüm überrascht hatte, dann machte mich Babys Kostüm fassungslos.
Sie trug weiße Turnschuhe (kein Schocker), knielange Jeansshorts (kein Schocker) und eine kurze weiße Bluse (auch kein Schocker). Dazu hatte sich Baby auf den nackten ziemlich runden Bauch eine riesige grüne Wassermelone gemalt.
Ich ließ die Süßigkeitentüten fallen.
Baby war schwanger. Immer noch.
(Okay. Kurze Auszeit.
Wahrscheinlich habt ihr es kommen sehen. Ich meine, es gab eindeutig Hinweise darauf, dass Baby sich im letzten Moment gegen die Abtreibung entschieden hatte. Aber bevor ihr euch was darauf einbildet, erinnere ich euch daran, dass ich es bin, der euch die Geschichte erzählt, also habt ihr die Hinweise mir zu verdanken. Im echten Leben gibt es keinen Erzähler, der praktischerweise hier und da Hinweise verteilt. Falls es so wäre, wäre das Schlimme vielleicht nie passiert, und dann hätte ich vielleicht auch nie eine Macke gehabt. Aber den Luxus einer logischen Reihenfolge haben wir in der Gegenwart nicht, er entsteht erst im Nachhinein, wenn wir davon erzählen. Deswegen ist man hinterher immer klüger, deswegen liegt die Zukunft im Nebel und deswegen hatte mich Babys Enthüllung kalt erwischt.
Okay. Gut?
Auszeit zu Ende.)
»Was ist das?« Scarlet zeigte vorwurfsvoll auf Babys Mitte.
»Ich bin dick geworden.« Baby zuckte die Schultern. »Hätte mich mehr übergeben sollen.«
Scarlet starrte sie an. »Du siehst schwanger aus.«
Baby klatschte in Zeitlupe. »Du bist ein richtiger Sherlock Holmes, weißt du das, Scarlet?«
»Baby …«, war das Einzige, das ich herausbrachte. »Baby …«
Sie sah mich an. »Tut mir leid — meinst du meinen Namen? Oder redest du von dem Baby?« Sie zeigte auf ihren Bauch. Dann lachte sie künstlich. »War nur ein Witz, Solo! Du weißt gar nicht, wie lange ich schon warte, den endlich zu machen! Ach, warte, ich kann es dir genau sagen.« Sie tat so, als würde sie an den Fingern abzählen. »Seit zweiundzwanzig Wochen.«
»Hör auf, witzig zu sein, Baby!«, sagte Scarlet. »Weißt du, wie ernst es ist, schwanger zu sein?«
Baby lachte noch mehr. »Ja. Der Ernst der Lage ist vor vier Monaten bei mir angekommen, als ich auf ein Stäbchen gepinkelt habe und es blau wurde.«
»Baby, es tut mir wahnsinnig leid«, sagte ich. Endlich begriff ich, warum sie sich nicht verkleiden wollte. Ich war echt ein Idiot.
Sie hob die Hand. »Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht entschuldigen.«
Ich nickte. Sie hatte recht.
Scarlet sah mich mit großen Augen an. »Es ist von dir?«
Kurz hatte ich Scarlets Anwesenheit vergessen, was nur beweist, wie fassungslos ich war, denn die Anwesenheit von Mega-Sexschnitten vergesse ich normalerweise nicht so schnell.
Ich sah von Scarlet zu Baby und wieder zurück, und ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich meine, natürlich wusste ich, dass das Baby nicht von mir war, aber in diesem Moment wäre ich sogar bereit gewesen, die Vaterschaft auf mich zu nehmen, wenn Baby es so gewollt hätte.
Aber das wollte sie nicht. »Um Gottes willen«, antwortete Baby für mich. »Es ist nicht von Solo, Scarlet. Du kannst in aller Ruhe weiter mit ihm spielen, ohne Angst, dass dir irgendwann ein Baby dazwischenfunkt.« Sie hob die Süßigkeitentüten auf, die ich hatte fallen lassen. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich muss arbeiten.« Baby drehte sich um und ging davon.
»Meinst du, wir müssen was tun?«, fragte Scarlet mich.
»Was denn?«
»Ich weiß nicht. Sie davon abhalten, es den Leuten zu erzählen?«
»Warum?«, fragte ich. »Sie ist schwanger, Scarlet. Das bleibt kein Geheimnis.«
Scarlet trat von einem Bein aufs andere. »Na ja, aber sie will es ja wohl nicht behalten, oder? Warum erzählt man es, wenn man es nicht behält?«
»Woher soll ich wissen, ob sie es behält? Ich habe es ja auch gerade erst erfahren.«
»Sie darf es auf keinen Fall behalten«, entschied Scarlet. »Baby wäre eine grauenhafte Mutter.«
Ich sah sie an, dann sah ich Baby hinterher. »Wie kommst du darauf?«
Wir sahen zu, wie sie hinter die Theke trat und eine Kasse übernahm.
»Was? Bist du anderer Meinung?«, fragte Scarlet zurück.
»Keine Ahnung. Was macht eine gute Mutter aus?« Mein Blick war immer noch fest auf Baby gerichtet.
»Zum Beispiel, dass sie mit der Schule fertig ist.«
Verblüfft ging Poppins auf Baby zu. Ich konnte ihre Lippen lesen, als sie auf Babys Mitte zeigte: »Ist das echt?«
»Baby ist auch irgendwann mit der Schule fertig«, erinnerte ich Scarlet.
»Bist du etwa dafür, dass sie es behält?«, sagte Scarlet irritiert.
Die Hintertür ging auf, und Dirty Harry kam herein und stempelte seine Karte ab.
»Wie läuft’s, Bitches?«, unterbrach er unser Gespräch.
Wir drehten uns um, und ich hätte ihm auf Anhieb am liebsten eine reingehauen.
Dirty Harry war weder als Bigfoot noch als Siebzigerjahre-Cop verkleidet. Er trug von Kopf bis Fuß Nike, wie sonst auch.
»Wo zum Teufel ist dein Kostüm?«, wollte ich wissen und sah ihn böse an.
»Äh, ich habe keins«, antwortete er.
»Warum nicht?«
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Hatte keinen Bock.«
»Mann, Scott!«, schimpfte Scarlet. »Jeder sollte heute verkleidet kommen!«
Er kniff die Augen zusammen und starrte seine Schwester vorwurfsvoll an. »Ach ja? Ich hatte aber keinen Bock. Verkleiden ist schwul.« Dirty zeigte auf mein Kostüm. »Nicht persönlich gemeint.«
»Schon gut«, sagte ich, und dann: »Du bist gefeuert.«
Nach einer kurzen Pause lachte er. »Sehr witzig.« Er versuchte, an mir vorbeizugehen.
Ich versperrte ihm den Weg. »Ich weiß. Ich bin zum Totlachen«, stimmte ich zu. »Du bist trotzdem gefeuert.«
Dirty und Scarlet rissen die Augen auf. »Was?«, sagten beide gleichzeitig.
Ich sah noch einmal nach vorn, wo Baby hinter der Theke einen Film aus dem Regal nahm. Als sie sich streckte, sah die Wassermelone noch größer aus. »Du hattest die dienstliche Anordnung, bei dieser Schicht ein Kostüm zu tragen, und hast dich nicht daran gehalten. Deswegen bist du gefeuert.«
Dirty grinste. »Das meinst du doch nicht ernst.«
»Todernst.«
Er sah zu Scarlet.
»Deine Schwester hat klar gesagt, dass ich das Recht dazu habe. Als Schichtmanager kann ich Leute wegen Insubordination feuern.« Ich ging davon aus, dass Dirty Harry das Wort nicht kannte und deswegen auch nicht widersprechen würde. »Du kannst sofort gehen. Ich schicke dir den letzten Gehaltsscheck mit der Post.«
»Das kannst du bei mir nicht machen, Mann. Vielleicht hast du vergessen, dass der Laden meinen Eltern gehört«, sagte er, bevor er wieder lachte. »Wenn ich will, kann ich dich feuern.«
Aus dem Laden hörten wir Hannibal: »O Mann, ey! Bist du schwanger?« Scarlet drehte sich mit finsterer Miene um. Dann sah sie wieder ihren Bruder an.
»Nein, kannst du nicht, Scott«, sagte Scarlet. »Solo hat recht. Du bist gefeuert.«
Sie nahm ihm den Schlüsselbund aus der Hand und machte den Schlüssel zum Laden ab. »Geh heim.« Die restlichen Schlüssel warf sie ihm wieder zu.
Dirty verzog trotzig das Gesicht. »Mir doch egal. Ich hatte eh keinen Bock, heute zu arbeiten.« Er stampfte zur Tür. Dann rief er zurück: »Wenn ich das meinen Eltern erzähle, bist du gefeuert«, er zeigte auf mich, »und du kriegst Riesenärger«, er zeigte auf Scarlet, »du dumme Nutte.«
Bevor ich ihn erwürgen konnte, zog sich Scarlet einen Schuh aus und warf ihn ihm so fest an den Hinterkopf, dass er fast zu Boden ging.
»Hey!« Er rieb sich den Schädel. Aber statt sich auf sie zu stürzen, schnappte er sich den Schuh und rannte damit aus der Videothek.
»Verdammt!« Scarlet versuchte auf einem Stöckelschuh zu balancieren, aber sie gab es schnell auf und zog ihn aus. »Dann arbeite ich heute eben barfuß.«
»Tut mir leid, dass ich dich nicht vorgewarnt habe«, sagte ich, obwohl es mir ehrlich gesagt kein bisschen leidtat. »Es war nur …«
Scarlet hob die Hand. »Mein Bruder ist ein verwöhnter kleiner Arschclown, und das wissen meine Eltern — sie mischen sich nicht ein, wenn du ihn feuerst. Sie befördern dich höchstens noch mal.«
»Trotzdem.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Mir egal.« Scarlet seufzte. »Aber ich rufe lieber meine Eltern an und erzähle ihnen, was passiert ist, damit sie Bescheid wissen, bevor er angerannt kommt.« Sie warf noch einen Blick auf Baby, bevor sie mit dem zweiten Schuh in der Hand ins Büro ging und die Tür hinter sich schloss.
Als ich allein im Flur stand, brauchte ich einen Moment, um alles zu verarbeiten, was in den letzten zehn Minuten passiert war.
Baby war schwanger, und ich hatte sie praktisch dazu gezwungen, sich vor der ganzen Welt zu outen. Ich hatte ihre Privatsphäre missachtet und ihr Vertrauen missbraucht. Wenn ich daran dachte, was für ein Fiesling ich gewesen war, als ich von ihr verlangt hatte, das Scheißkostüm zu tragen, wurde mir schlecht.
Im Laden tummelten sich immer noch jede Menge Kinder. In einem Gang saß ein kleiner Junge, der als Batman verkleidet war. Er hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht und blockierte den Weg, indem er seine Süßigkeiten um sich ausbreitete. Kurz darauf kam ein noch kleinerer Robin und tat dasselbe.
Batman öffnete ein Kitkat, brach es in zwei Teile und gab Robin ein Stück. Im Gegenzug nahm Robin eine Handvoll seiner Beute und warf sie in Batmans Eimer. Auf einem der Eimer stand JORDAN L. Auf dem anderen stand in der gleichen Schrift DEREK L.
Ich sah ihre Eltern nicht, aber den Kindern machte es offensichtlich nichts aus, allein zu sein. Außerdem waren sie nicht allein. Sie hatten einander. Sie waren zusammen und aßen ganze Hände voll Halloween-Süßigkeiten, ohne eine Sorge auf der Welt.
»Solo, geht es dir gut?« Poppins schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern.
Ich zuckte zusammen. Ich hatte sie gar nicht bemerkt. »Ja. Warum?«
»Weil …« Sie sah mich besorgt an. »Du weinst.«
»Was? Nein.« Ich berührte mein Gesicht. Meine Wangen waren nass.
»Ich habe dich von der Theke aus gesehen«, erklärte sie. »Was ist los?«
Jetzt spürte ich es. Den Druck in den Nebenhöhlen, die laufende Nase, den Kloß im Hals.
Verdammt. Ich weinte wirklich.
Warum weinte ich? Und wie kam es, dass ich es nicht gemerkt hatte?
»Allergie«, log ich. »Ich habe eine Allergie gegen Nougat und habe aus Versehen ein Snickers gegessen.« Die Worte kamen einfach so aus meinem Mund.
Poppins sah mich erschrocken an. »O nein! Musst du ins Krankenhaus? Ich weiß nicht mal, was Nougat ist! Ich wusste nicht, dass man darauf allergisch sein kann!«
Ich auch nicht. »Nein, schon gut. Ich muss nur nach Hause und meine Tabletten nehmen«, sagte ich und ging zur Hintertür.
»Ich kann dich fahren«, beharrte sie.
»Nicht nötig! Sag Scarlet, dass ich krank geworden bin, okay?«
Ich schaffte es zu meinem Wagen und fuhr ein Stück, bis ich nicht mehr konnte. Dann parkte ich in einer Nebenstraße und heulte sehr, sehr lange, überwältigt von einer Flut pharmazeutisch unbehandelter Gefühle, während Michael Stipe in die Leere schrie: »What’s the Frequency, Kenneth?«