Ich bin generell kein Fan vom November. Er ist kalt. Er ist grau. Es wird zu viel Football gespielt. Im Kalender ist er am weitesten von dem Zeitpunkt entfernt, ab dem ich gerne wieder draußen bin. Im November wird mir immer klar, dass ich einen Scheibenwischer verloren habe und dass ich noch keine gute Winterjacke habe. Und er ist der Anfang der schlimmsten Zeit des Jahres: die Kette an Feiertagen von Thanksgiving bis Neujahr.
Ich weiß, dass ich mit meiner Meinung in der Minderheit bin, denn die meisten Leute lieben die Feiertage, aber habt Nachsicht mit mir. Familiengeschichtlich ist das Schlimme, das passiert ist, nie so präsent wie in der Weihnachtszeit. Vorher waren die Teagues in dieser Jahreszeit ein fröhlicher, gut aufgelegter Haufen, genau wie alle anderen auch. In Virginia feierten wir Ende November Thanksgiving bei meinen Großeltern, ganz traditionell mit Truthahn, kratzigen Pullovern, dem Fällen des Weihnachtsbaums und dem jährlichen Familienfoto. Und vier Wochen später, an Weihnachten, machten wir das Ganze noch mal.
Aber dann passierte das Schlimme, und wir zogen nach Michigan, weit weg von allem, was früher war. Jetzt gehen wir an Thanksgiving und Weihnachten zu Tante Denise und Onkel Jim, wo wir uns an nichts beteiligen, außer dass wir auftauchen.
Dieses Jahr an Thanksgiving saß Dad in einer zerlöcherten Jogginghose vor dem Fernseher, während Mom im Morgenmantel kettenrauchend die Sonderangebote in der Zeitung durchging, bis wir nur noch fünf Minuten hatten, bevor wir aufbrechen mussten. Dad zog sich in letzter Sekunde eine richtige Hose an und Mom einen Rollkragenpullover, und dann verließen wir mit einem Kürbiskuchen aus dem Supermarkt das Haus.
Weil ich Moms Wunsch, Dev anzurufen, nicht erfüllt hatte, sah ich meinen Cousin seit der Trennung von Scarlet zum ersten Mal. Als Buße für meinen Ungehorsam musste ich Mom versprechen, besonders nett zu ihm zu sein, weil er den Verlust der schärfsten Braut des Planeten (meine Definition) noch immer betrauerte. Ich war also auf geheuchelte Anteilnahme eingestellt, doch als wir bei meiner Tante ankamen, schmückte er gerade mit einer quirligen Brünetten den Weihnachtsbaum, und der Fall hatte sich erledigt.
Sie hieß Tracey und unterrichtete Aerobic. Sie war freundlich und höflich, wie es neue Freundinnen wahrscheinlich immer sind. Ich wusste nicht, ob sie irgendwas mit der Trennung zu tun gehabt hatte, aber gemessen an dem Grad der Vertrautheit zwischen den beiden schien es gut möglich. Während des Essens teilte ich über dem Süßkartoffelauflauf unwillkürlich böse Blicke aus.
Ich meine, nach der Trennung von einer Frau wie Scarlet hätte ich dem Typ jede schmutzige Affäre als ungesunden Bewältigungsmechanismus nachgesehen, aber das hier wirkte anders. Tracey und Devin hielten die ganze Zeit Händchen, knuddelten sich und lösten das fast übermächtige Bedürfnis in mir aus, meinem Vetter in die Nüsse zu treten.
Eine Weile nach dem Kürbiskuchen bemerkte Devin, dass außer Tracey noch andere Menschen im Raum waren, und er wurde meiner Anwesenheit gewahr.
»Hey, Mann. Was geht, Alter?« Stellt euch vor, wie die größte Football-Dumpfbacke redet, und ihr hört seine Stimme. »Wie läuft’s mit deiner Blutkrankheit?«
»Toll«, sagte ich. Und weil ich wusste, dass er keine Ahnung von Anämie hatte, erklärte ich: »Die Transplantation war erfolgreich.«
»Cool, Mann.« Er bat Tracey (oder »Babe«, wie er sie nannte), ihm noch ein Stück Kuchen aus der Küche zu holen. Kaum war sie draußen, wechselte er das Thema. »Du arbeitest immer noch mit Jess, oder?«
»Yep.«
Er spähte in Traceys Richtung. »Wie geht’s ihr?«
»Bestens«, log ich. »Sie liebt ihre neue Bude.« Nachdem Scarlet offiziell bei Devin ausgezogen war, hatte sie sich in den Räumen über der Videothek eingerichtet, einem früheren Maklerbüro, das immerhin über eine Küchenzeile und eine funktionierende Dusche verfügte.
»Freut mich für sie«, sagte Devin, aber ich wusste nicht, ob er es auch meinte. »Redet sie von mir?«
»Nein«, log ich wieder. »Sie ist voll konzentriert auf das Kosmetik-College.«
»Oh. Weißt du, ob sie jemand neuen hat?«
»Na ja, ich habe sie mit ein paar Typen gesehen.« Jetzt hatte ich einen Lauf.
»Echt jetzt?« Er wirkte verwirrt, aber so wirkte Devin meistens. »Na, dann sag ihr schöne Grüße.«
Ich log ein letztes Mal: »Mach ich!«
Genau wie bei Indiana Jones, als er nach Baby fragte, widerstrebte es mir, Devin über seine Ex auf den neuesten Stand zu bringen, vor allem, da er Scarlet ausgetauscht hatte wie eine Klopapierrolle. Die Wahrheit war, dass Scarlet seit der Trennung ziemlich litt. Lasst mich elaborieren:
In der Woche vor Thanksgiving hatte ich eines Nachmittags, als ich zur Arbeit kam, Geschrei gehört. Der Lärm kam aus der Kammer, und die Stimmen waren gedämpft, aber ich verstand jedes Wort, das gesagt wurde.
»Zum letzten Mal, Scarlet, das geht dich nichts an!«, schrie Baby. »Jetzt lass mich endlich in Ruhe!«
»Wie kannst du überhaupt darüber nachdenken, es zu behalten?«, schrie Scarlet zurück. »Du kannst niemals ein Kind großziehen, Baby. Du würdest sein Leben zerstören! Und deins!«
Ich lief zur Kammer und riss die Tür auf. Dort stand Scarlet mit hochrotem Gesicht, funkelnden Augen und verschränkten Armen vor Baby, die die Fäuste geballt hatte und aussah, als wäre sie zwei Sekunden davon entfernt, Scarlet zu ermorden.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte ich.
Niemand beachtete mich.
»Du bist viel zu jung! Du wärst eine grauenhafte Mutter!« Scarlet zeigte mit dem Finger auf Baby, und der Schwung, mit dem sie den Arm ausgestreckt hatte, brachte sie fast aus dem Gleichgewicht.
Jetzt, da die Tür ihre Stimmen nicht mehr dämpfte, hörte ich, dass Scarlet lallte.
Baby sah mich an. »Solo, schaff Doof-Barbie lieber hier weg, bevor ich ihr ein blaues Auge verpasse.«
Weil ich Baby, schwanger oder nicht, alles zutraute, folgte ich ihrem Rat. »Scarlet, kommst du mal kurz mit mir ins Büro?«
»Nein!«, schrie sie. »Das ist mein Laden! Ich war zuerst hier! Mach, dass Baby weggeht!«
Baby zuckte die Schultern. »Aber, Chef, du hast mich heute zur Inventur eingeteilt, und du weißt, dass ich alles tue, was du mir aufträgst.«
Ich stand zwischen ihnen. »Bitte, Baby? Kannst du uns fünf Minuten geben?«
Baby warf ihr Klemmbrett ins Regal und stürmte aus der Kammer.
Nachdem die Tür mit Schmackes zugeschlagen war, fragte ich Scarlet: »Worum geht es hier?«
»Sie!«, schrie Scarlet und zeigte mit der übertriebenen Gestik einer Betrunkenen zur Tür. Sie nahm einen Schluck aus einer Colaflasche — ich konnte mir denken, dass nicht nur Cola darin war — und stellte sie zurück ins Regal.
»Warum regst du dich so darüber auf, dass Baby schwanger ist?« Unauffällig schob ich die Flasche aus ihrer Reichweite.
»Ich will nicht drüber reden.« Scarlet schmollte und setzte sich auf einen Stapel Süßigkeitenkartons.
»Denk noch mal drüber nach.«
»Ich will aber nicht«, sagte sie wie ein Kind, dass kein Gemüse essen will. »Ich will das.« Plötzlich packte sie mich am Gürtel und zog mich an sich, schlang mir die Beine um die Hüften, und bevor ich wusste, was los war, schob sie mir die Zunge in den Mund.
Zugegeben, von den vielen (vielen) meiner Fantasien, in denen Scarlet vorkam, gab es möglicherweise ein paar, die genauso anfingen: allein mit ihr in der Kammer, wo sie mich überrumpelt, indem sie stürmisch über mich herfällt. Ich meine, der Reiz des Szenarios ist nachvollziehbar, oder?
Aber wenn man hinzufügt, dass Scarlet blau war wie eine Feldhaubitze und sich verhielt wie eine Vierjährige, war das Ganze nicht mehr so verführerisch.
»Hey, komm schon.« Sanft befreite ich mich aus ihren Armen. »Nicht so.«
»Wir dürfen. Devin und ich haben Schluss gemacht.« Sie drückte die Beine fester um mich und presste mir wieder die Lippen auf den Mund.
Ihr Lipgloss schmeckte nach Erdbeer, und ich musste jedes Gramm Selbstbeherrschung aufbringen, das ich besaß. Doch ich nahm ihre Hände, legte sie auf ihren Schoß und befreite mich aus der Umklammerung ihrer Beine.
Scarlet lachte. »Glaubst du ernsthaft, der Arsch interessiert mich noch nach allem, was passiert ist?« Sie zog mich wieder an sich. »Komm schon, Solo, wir machen ein Baby.«
»Whoa, whoa, whoa!« Ich riss die Hände hoch wie Stoppschilder und wich ans andere Ende der Kammer zurück. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für einen siebzehnjährigen Jungen furchterregendere Worte gibt als diese, selbst wenn sie aus dem Mund der instinktmäßig perfekten Paarungskandidatin kamen. »Ich gehe mal davon aus, dass hier der Alkohol spricht, Scarlet, denn das ist die schlechteste Idee, die je einer hatte.«
»Warum?«, fragte sie gekränkt. »Baby kriegt auch eins.«
»Das ist kein Wettbewerb, Scarlet.«
Sie war den Tränen nah. »Ich hasse Devin. Ich hasse sein blödes Gesicht.«
»Gut so! Sein Gesicht ist echt blöd. Du kannst ihn hassen, so viel du willst!« Ich war sehr erleichtert, dass das Gespräch auf meinen Cousin zurückkam. »Du darfst nur Baby nicht deswegen anschreien.«
Dann fing Scarlet an, betrunken zu weinen, was meiner Meinung nach das schlimmste Weinen ist.
Ich will nicht unsensibel klingen. Ich weiß, dass Scarlet traurig war, und wenn einer weiß, wie wichtig es ist, Gefühle zuzulassen, dann ich. Aber als Mann mit einer betrunkenen, weinenden Frau rumzuhängen ist eine gefährliche Situation, weil, egal was du tust, du machst es nicht besser (Alkohol blockiert rationales Denken), aber dafür hast du viele Möglichkeiten, es noch schlimmer zu machen (zum Beispiel mit Scarlet ein Baby zu zeugen).
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, deshalb sagte ich mal wieder den ersten Satz, der mir durch den Kopf ging. »Ich weiß, im Moment ist es schwer, aber der einzige Weg, eine Krise zu überwinden, ist, sie zu durchschreiten.«
Die Worte stammten von einem Poster, das im Weller-Clawson-Zentrum vor meinem Zimmer hing und auf dem ein riesiger Felsbrocken mit einem Loch in der Mitte zu sehen war. Das Foto war echt, aus irgendeinem Nationalpark oder so was. Der Fels lag auf einem Weg, und man sah die Silhouetten der Leute, die durch das Loch gingen.
Ich hatte lange nicht mehr an das Bild gedacht, obwohl es ehrlich gesagt das einzige Motivationsposter ist, dass mir je eingeleuchtet hat. Und ich dankte meinem Unterbewusstsein, denn von allen Bildern, die mein Hirn hätte hervorholen können — von Garfield zu Charlie Brown und allen philosophischen Comicfiguren dazwischen —, passte der Spruch auf diesem Poster sogar auf die Situation.
Scarlet jedoch war nicht in der Stimmung für Ratschläge. »Kannst du jetzt einfach gehen, Solo?«
»Yep.« Ich war erleichtert. Und dann sagte ich, weil es stimmte: »Tut mir leid, dass es dir nicht gut geht.«
Ich verließ die Kammer und sah nach Baby.
Sie stand mit Maverick an der Theke und scannte zurückgegebene Videos.
»Hey, geht’s dir gut?«
»Quietschvergnügt«, sagte sie, aber es klang nicht überzeugend.
»Worum ging es denn eben? Worüber hat sich Scarlet so aufgeregt?«
»Keine Ahnung, Solo. Eben zähle ich noch die Kisten mit den Junior-Mints, im nächsten Moment flippt die Ätzkuh aus.«
»Ich gehe mal Nummern aufhängen«, sagte Maverick, der sich offenbar raushalten wollte.
Baby strich sich durchs Haar. »Im Ernst, Solo. Scarlet kam einfach in die Kammer gestürmt und wollte wissen, ob ich das Baby behalte. Und als ich die Aussage verweigerte, fing sie an, mir eine Million Gründe aufzuzählen, warum ich das Baby nicht behalten kann und dass ich die schlimmste Mutter der Welt wäre und so was.« Baby war wütend, und zwar sichtlich wütender als sonst. »Was geht sie das an? Warum interessiert es sie überhaupt?« Sie verschränkte die Arme. »Weißt du, eigentlich wusste ich noch gar nicht, wie ich mich entscheide, aber jetzt überlege ich, ob ich das Baby allein großziehe, nur um Scarlet eins reinzudrücken. Und wenn ich dann die geilste Erziehung der Welt hinlege und mein Kind den Friedensnobelpreis kriegt, kann ich der blöden Kuh sagen, dass sie die Schnauze halten soll.«
»Ja, Rache ist ein toller Grund dafür, ein Kind großzuziehen«, pflichtete ich ihr bei, »wenn sie kalt serviert wird.«
Sie ignorierte meinen Kommentar. »Scarlet hat den Verstand verloren«, stellte Baby fest. »Maverick sagt, sie hat den ganzen Tag im Büro getrunken. Anscheinend hat sie versucht, über ihn herzufallen.«
Aus irgendeinem peinlichen Grund traf es mich, dass ich heute nicht der Erste war, den Scarlet verführen wollte. »Wirklich?«
»Er hat sie abblitzen lassen. Zum Glück.«
Ich warf einen Blick auf das J.-Crew-Model. »Gut gemacht«, murmelte ich, einerseits, weil er das Richtige getan hatte, und andererseits, weil ich hoffte, es hieß, dass er nicht an Scarlet interessiert war. Nicht, dass wir Konkurrenten waren, ich meine nur: falls doch, hätte ich verloren.
»Übrigens muss ich dir wohl nicht sagen, dass es total unzulässig ist, wenn mich meine Chefin wegen meiner Schwangerschaft mobbt«, erklärte Baby. »Für die Gewerkschaft wäre so was ein gefundenes Fressen. Ich könnte sie verklagen.«
»Hast du es vor?«
Sie verzog das Gesicht und zuckte die Schultern. »Klingt anstrengend.«
Plötzlich kam ein lautes Poltern aus dem Flur, gefolgt von einem Schrei.
Ich lief sofort los, und Maverick und ich erreichten gleichzeitig die Kammer. Er öffnete die Tür und dahinter lag ein riesiger Haufen umgeworfener Zwei-Liter-Flaschen und Süßigkeitenkartons. Irgendwo unter dem Gerümpel hörten wir Scarlets Stimme: »Kann mir jemand helfen?«
Wir gruben sie gemeinsam aus, und Maverick hob sie hoch.
»Was ist passiert?«, fragte er, als er sie nach vorne in den Laden trug. »Hast du dir wehgetan?«
»Ich saß ganz normal da, und plötzlich hat sich der Raum gedreht«, sagte sie. »Und dann lag ich auf dem Boden.«
Maverick musterte sie von Kopf bis Fuß. »Tut dir irgendwas weh?«
»Meine Hand«, wimmerte Scarlet mit halb geschlossenen Augen. »Ich fühle mich nicht gut.«
Maverick setzte sie auf die Theke, und sie fiel fast herunter. »Ach Mist. Du blutest.« Er zeigte auf ihre Hand. »Wahrscheinlich hast du dich an einer der Getränkekisten geschnitten. Ein paar haben scharfe …«
Scarlet warf einen Blick auf ihre Wunde und übergab sich auf Maverick.
Baby warf einen Blick auf den vollgekotzten Maverick und lief ins Bad. Wir hörten die vertrauten Geräusche ihres Würgens.
»Tut mir leid«, sagte Scarlet, bevor sie auf die Theke sank.
Maverick und ich starrten uns schweigend an.
»Ich muss mich umziehen«, sagte er irgendwann. »Hast du das unter Kontrolle?« Er zeigte auf Scarlet.
Nein, ich hatte »das« nicht unter Kontrolle. Ich hatte immer noch nicht begriffen, was »das« eigentlich war. Die zehn Minuten, seit mein Dienst angefangen hatte, fühlten sich an wie eine Folge von Melrose Place im Schnelldurchlauf (Mom sah die Serie, nicht ich, okay?). Aber ich sagte nur: »Ja, klar«, und dann sah ich Maverick hinterher, der würgend zur Hintertür stürzte.
Ich tätschelte Scarlets Wange. »Hey, du musst aufwachen!«
Sie stöhnte, aber sie rührte sich nicht.
Ich krempelte die Ärmel hoch und sah mir ihre Hand an. Man konnte nicht sehen, wie tief der Schnitt war, aber ich schätzte, sie brauchte mehr medizinische Versorgung, als ich ihr geben konnte. »Hey, Scarlet. Komm schon, wach auf! Ich muss dich zum Arzt fahren.«
»Was für ein Arzt?«, murmelte sie.
»Was?« Ich versuchte mich zu erinnern, ab wie viel Blutverlust man den Arm abbinden musste, während ich abschätzte, wie viel Blut sie verloren hatte, während ich außerdem überlegte, wie das Abbinden ging. »Ich weiß nicht. Zum normalen Arzt.«
»Ich bin Arzt«, sagte eine Stimme hinter mir. »Was ist denn passiert?«
Ich hatte ganz vergessen, dass während all der Ereignisse der Laden offen war, und war vollkommen verwirrt, als ich mich umdrehte und Marc Schwartz mit zwei Videonummern und einer Packung Mikrowellen-Popcorn an der Theke stand.
Vor ein paar Minuten war ich wie jeden Tag zur Arbeit gefahren und hatte R.E.M. gehört, und jetzt stand ich mit meinem alten Psychiater aus der Anstalt über einer halb ohnmächtigen, halb verbluteten Scarlet. Ich hatte Träume von Dinosauriern gehabt, die sich echter angefühlt hatten.
»Ich meine einen normalen Arzt, keinen Psychiater.« Ich zeigte auf das Blut.
Marc ließ sich nicht abwimmeln. »Psychiater haben auch Medizin studiert, Joel«, informierte er mich. »Habt ihr einen Erste-Hilfe-Koffer?«
Der Verbandskasten stand im Schrank neben den Werbe-T-Shirts, und ich gab ihn Marc. Er zog ein Paar Latexhandschuhe an und riet mir, den Laden kurzfristig zu schließen, bis er die Situation unter Kontrolle hatte, also sperrte ich die Tür ab und drehte das GLEICH ZURÜCK-Schild um.
Wir trugen Scarlet in den Pausenraum und setzten sie auf den Tisch. Marc tränkte einen Gazetupfer mit Desinfektionslösung. »Wie ist das passiert?«, fragte er ganz ruhig, während er ihr mit dem Tupfer die Hand säuberte.
Ich erklärte die Situation in möglichst wenigen Worten.
»Hat sie was genommen? Drogen? Medikamente? Was ist mit ihr los?«
»Ich glaube, sie ist bloß betrunken.«
»War sie auf einer Party oder so was?« Marc nahm noch einen Tupfer.
»Sie hat Liebeskummer«, sagte ich, ohne ins Detail zu gehen.
»Okay.« Er nickte. »Habt ihr Sekundenkleber?«
»Sekundenkleber?«
»Das ist zulässig, versprochen.«
Weil ich neulich erst das Büromaterial in der Kammer sortiert hatte, wusste ich, dass wir bei den Schreibwaren auch Sekundenkleber hatten. Ich vertraute Marcs Versprechen, dass Scarlets blutende Hand damit am besten versorgt wäre (warum auch nicht? Wahrscheinlich träumte ich ohnehin nur), und ging den Kleber holen.
Als ich zurückkam, hatte sich auch Baby zu Marc in den Pausenraum gesellt.
»Hey, Boss, wenn du willst, dass ich weiterarbeite, musst du rausgehen und die Kotze wegmachen.« Baby sah über Marcs Schulter auf Scarlets Hand und war genauso blass wie an dem Tag, als ich sie kennengelernt hatte. »Sonst muss ich mich für den Rest des Tages übergeben, und ich kann nicht versprechen, dass ich es immer aufs Klo schaffe.«
Seufzend reichte ich Marc den Kleber.
»Danke, Joel«, sagte er. »Am bestens nimmst du ein Mittel mit Bleiche, um die Stelle zu desinfizieren. Und achte darauf, dass du Handschuhe trägst.«
Natürlich wusste ich das alles, aber ich erinnerte ihn nicht daran, dass, was das Wegmachen fremder Körperflüssigkeiten anging, das hier nicht meine Jungfernfahrt war.
Es dauerte eine Weile — ich erspare euch die Details —, und als ich fertig war, stand Baby vor dem Pausenraum. Sie sah noch fertiger als vorher aus, weshalb ich annahm, es wäre noch was passiert.
»Hat Scarlet wieder gekotzt?«
»Nein«, sagte sie zerstreut. »Ich denke nur nach.«
Ich hätte gern gewusst worüber, aber an dem Tag im Kino hatte ich das Recht verwirkt, Baby persönliche Fragen zu stellen, deswegen sagte ich nur: »Alles sauber. Du kannst weiterarbeiten, wenn du Lust hast. Oder heimgehen, wenn dir danach ist. Heute ist ein komischer Tag.«
»Oh. Nein. Schon gut. Ich gehe gleich nach vorne.«
»Bist du dir sicher? Du wirkst irgendwie gebeutelt.«
»Wie du gesagt hast«, sie wich meinem Blick aus, »heute ist ein komischer Tag.«
Baby schob sich an mir vorbei und ging in den Laden. Ich wäre ihr gefolgt, wenn Marc nicht aus dem Pausenraum gerufen hätte.
Scarlet schlief auf dem Sofa. Neben ihr stand ein Eimer. Marc saß auf einem Stuhl und schrieb etwas auf.
»Hey, Joel.« Er blickte nicht auf, sondern zeigte auf Scarlet. »Kannst du mir ihren Namen sagen?«
»Scarlet«, sagte ich. »Warten Sie, ist es für ein Rezept oder so was? Dann Jessica.«
»Nein, es ist nicht offiziell. Ich wusste nur nicht, wie ich sie nennen soll. Vielleicht geht es dir auch so?«
»Hier heißt sie Scarlet. Wie Scarlett O’Hara«, erklärte ich.
»Ach ja. Die Filmnamen.« Marc schrieb in seiner unleserlichen Ärzteschrift weiter, dann sagte er: »Deswegen habe ich dich nicht gleich erkannt, als ich dich zum ersten Mal hier sah. Ich kann mir Namen besser merken als Gesichter. Namen und Gesichter zusammen jedenfalls. Aber keine Angst, an dich erinnere ich mich sehr gut. Nicht, dass du denkst, ich hätte dich vergessen.«
»Danke«, sagte ich. »Oder wäre es nicht eigentlich besser, wenn Sie mich vergessen hätten? Ich muss ziemlich verkorkst gewesen sein, wenn Sie mich bei einer Gegenüberstellung nach Jahren immer noch identifizieren können.«
Er schüttelte den Kopf. »In meinem Fachgebiet ist jeder Patient gleichzeitig unvergesslich und Routine.« Marc schrieb weiter. »Wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?«
»Na ja, ich war nicht in der Klinik, also wahrscheinlich ganz gut.«
Er lachte. »Genau daran erinnere ich mich. An deinen Humor.« Marc lächelte, dann steckte er den Deckel auf den Stift. Er hielt mir den Zettel hin, auf dem eine Liste von Warnzeichen einer Alkoholvergiftung stand (wobei er davon ausging, dass Scarlet keine hatte) und ein paar Ratschläge, wie sie die Wunde an der Hand weiterbehandeln sollte. Schließlich gab er mir seine Visitenkarte.
»Ich weiß, du hast gesagt, sie braucht keinen Therapeuten, aber falls sie wissen will, welcher Quacksalber ihr die Wunde zugeklebt hat, kannst du ihr die hier geben.«
»Danke.«
»Ich freue mich, dich ab und zu zu sehen«, sagte er. »Pass auf dich auf, Joel.«
»Ja. Sie auch.«
Dann ging er und lieh sich die Filme aus, wegen denen er hergekommen war.
Ich nahm eine Decke aus der Kommode und deckte Scarlet zu. Sie atmete schwer durch den offenen Mund. Die verbundene Hand lag über ihren Augen. Ich löschte das große Licht, dann las ich Marcs Anweisungen für Scarlet.
Darunter stand noch folgende Nachricht:
Ich habe gehört, Sie machen gerade eine schwere Zeit durch. Falls Sie mal mit einem Therapeuten sprechen wollen, rufen Sie gerne in meiner Praxis an. Falls nicht, bin ich froh, dass Sie ein paar nette Kollegen haben, die sich um Sie kümmern.
Ich lächelte.
Etwas später kam Maverick zurück, und wir wechselten uns damit ab, auf Scarlet aufzupassen und die Unordnung aufzuräumen.
Kurz vor Feierabend wurde sie von allein wieder wach, und Maverick bot an, sie zum Übernachten zu einer Freundin zu fahren, damit sie nicht allein war. Trotz ihrer Versicherung, dass ihr nicht mehr schlecht war, ließ er sie nicht ohne Mülltüte ins Auto. Ich half ihm, sie anzuschnallen, und sah ihnen hinterher.
Eines, was ich in der Therapie gelernt habe, ist, dass die meisten Menschen, die eine Macke haben, erst ihren Tiefpunkt erreichen müssen. Solange der Preis, die Probleme zu verdrängen, nicht höher ist als der Preis, sich damit auseinanderzusetzen, ist es leichter, die Dose vor sich her zu kicken, bis der Bürgersteig endet und man im Graben landet und keine andere Wahl hat, als den langen, mühsamen Wiederaufstieg anzugehen.
Und die andere Lektion, die ich in der Therapie gelernt habe, ist, dass man den Tiefpunkt meistens nicht im freien Fall erreicht. Man spaziert nicht arglos vor sich hin, und plötzlich öffnet sich der Boden. Meistens ist der Abstieg schleichend.
Es ist ein bisschen wie Treibsand. Und normalerweise ist man nicht allein, wenn man hineingerät. Meistens stehen Leute am Rand, die einem Seile zuwerfen und versuchen, einen rauszuholen, bevor man ganz versinkt. Manchmal kommen sie sogar hüfttief herein, um einem zu helfen, und manchmal, wenn man um sich schlägt, reißt man sie mit runter.
In der Zeit vor dem Schlimmen, das passiert ist, war mir nicht klar, dass meine ganze Familie im Treibsand steckte. Hätte ich es gewusst, hätte ich garantiert alles getan, um es zu verhindern.
Ich sage nicht, dass Scarlet im Treibsand steckte. Vielleicht tat sie es, vielleicht hatte sie aber auch einfach nur getrunken, um Dampf abzulassen, und dann waren ein paar Sachen schiefgegangen. Aber falls sie wirklich auf dem Weg nach unten war, hatte Devin wahrscheinlich zumindest teilweise Schuld daran.
Und das war der Grund, warum ich an Thanksgiving, während er mit unseren Vätern darüber sprach, wie schlecht die Lions in dieser Saison spielten, zu Tracey hinüberging und ihr im Vertrauen erzählte, dass ihr Freund wegen mehrerer Geschlechtskrankheiten in Behandlung war.