Hier ein Tipp: Wenn ihr eure Kollegen in der Vorweihnachtszeit richtig leiden lassen wollt, dann ist Wichteln eine todsichere Methode.
Für die glücklichen Unwissenden unter euch: Wichteln ist ein vorweihnachtlicher Brauch am Arbeitsplatz, bei dem per Losverfahren bestimmt wird, wer wem ein Geschenk besorgt, egal, ob man sich persönlich nahesteht oder nicht.
So zumindest Poppins’ Erklärung bei der Teamversammlung Anfang Dezember.
»Wir hängen im Pausenraum Weihnachtsstrümpfe auf, einen für jeden. Ihr müsst zwischen heute und dem Dreiundzwanzigsten drei Geschenke in den Strumpf eurer Person stecken, zwei kleinere und ein Hauptgeschenk, die insgesamt nicht mehr als fünfundzwanzig Dollar kosten«, erklärte sie stolz. »Fragen?«
»Ja«, sagte Baby genervt. »Was ist, wenn wir nicht mitspielen wollen?«
Poppins tauschte einen Blick mit Scarlet, die für sie antwortete. »Pech. Ich habe euch um Input bei der Planung von Weihnachtsaktivitäten gebeten, und Poppins war die Einzige, die einen Vorschlag gemacht hat. Wenn’s dir nicht passt, ist das dein Problem.«
Poppins lächelte. »Sonst noch Fragen?«
»Warte mal«, hakte Baby nach. »Willst du mir sagen, dass ich von meinem Arbeitgeber gezwungen werde, meinen hart verdienten Lohn für ein Weihnachtsgeschenk an jemanden auszugeben, den ich vielleicht überhaupt nicht mag?« Sie sah sich um. »Nicht persönlich gemeint, Leute, aber im Moment habe ich dringendere finanzielle Verpflichtungen, als einem von euch irgendwelchen Mist zu kaufen.« Baby legte sich die Hand auf den Bauch, der inzwischen eindeutig Formen annahm. Irgendwann in den letzten Wochen war bei Baby »der Knoten geplatzt« (ihr Ausdruck), und seitdem ließ sich die Schwangerschaft nicht mehr unter ihren Klamotten verbergen. Sie hatte alle XL-T-Shirts aus dem Werbemittelkarton als Umstandsmode beschlagnahmt, und heute trug sie Black Sheep, eine Komödie mit Chris Farley und David Spade.
Scarlet sah Baby nicht an. »Ja, genau das will ich sagen.«
Seit dem Zusammenstoß in der Kammer war das Verhältnis zwischen Baby und Scarlet angespannt. Ich hatte gehofft, die Zeit würde heilen, was immer zwischen ihnen wund war, aber bisher konnte davon keine Rede sein.
Diesmal setzte ich mich für Baby ein, wie ich es schon bei ihrem Protest gegen die Halloween-Verkleidung hätte tun müssen. »Warte mal. Fünfundzwanzig Dollar sind das Maximum, oder? Man muss nicht so viel ausgeben; man darf nur nicht mehr ausgeben.«
Poppins dachte kurz darüber nach. »Ja, ich schätze schon. Auch wenn es irgendwie unfair wäre, wenn jeder Geschenke für fünfundzwanzig Dollar kriegt außer der, den Baby beschenkt.«
»Ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust, fünfundzwanzig Tacken für einen von euch auszugeben«, warf Hannibal ein. »Ich will kein Spielverderber sein, aber meine Mutter hat angefangen, von mir Miete zu kassieren, und ich bin zurzeit auch ziemlich blank.«
Poppins war enttäuscht. »Ach kommt schon, Leute. Es ist Weihnachten.«
»Muss das Geschenk materiell sein?«, fragte der Pate. »Können wir jemandem zum Beispiel auch einen Gefallen schenken? Gefallen kosten nichts, aber sie können viel wert sein.« Sie zog einen Taschenspiegel heraus und prüfte ihren Lippenstift. »Manchmal sogar unbezahlbar.«
»Ich schätze, es müssen nicht unbedingt gekaufte Geschenke sein«, lenkte Poppins ein. »Solange sich die Leute Gedanken machen, ist es in Ordnung, würde ich sagen.«
Anscheinend gingen den anderen die Einwände aus, und wir kamen nicht darum herum, Namen zu ziehen.
Poppins hielt eine Schüssel hoch und warf ein paar Zettel hinein. »Wer will anfangen?«
Maverick, der kein Spielverderber war, hob die Hand. Er griff in die Schüssel, nahm sich einen Zettel, dann grinste er und lehnte sich zurück.
»Ach, was ich vergessen habe — wenn man den eigenen Namen erwischt, muss man noch mal ziehen«, sagte Poppins.
Mavericks Lächeln verschwand. Er warf den Zettel zurück in die Schüssel und nahm einen anderen.
Ich wusste nicht, auf welchen Namen ich hoffen sollte. In den letzten acht Jahren hatte ich fünf Geschenke gekauft, vier davon das Parfum »White Shoulders« für meine Mutter.
Das fünfte Geschenk war eine längere Geschichte, die ich ein andermal erzähle.
Ich beschloss, auf einen Typen zu hoffen, weil ich in Hannibals oder Mavericks Strumpf einfach ein paar Ausgaben von Rolling Stone oder Maxim stecken konnte, während ich bei jemandem wie Poppins keine Ahnung hatte, in welcher Richtung ich mit dem Nachdenken anfangen sollte. Poppins wirkte, als würde sie sich richtig Mühe geben mit den Geschenken, die sie kaufte, und umgekehrt hatte sie wahrscheinlich hohe Erwartungen an ihren Wichtel. Ihren Namen zu ziehen, wäre eindeutig das Worst-Case-Szenario, da ich so gut wie garantiert eine Riesenenttäuschung für sie wäre.
Als ich in die Schüssel griff und den Paten zog, war ich unschlüssig, ob ich mich freuen oder ärgern sollte.
»Der Witz des Spiels ist auch, zu erraten, wer wessen Wichtel ist«, erinnerte uns Poppins, als alle Zettel gezogen waren. »Also denkt daran: niemandem sagen, wen ihr habt!«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, tippte mir Baby auf die Schulter und fragte: »Wen hast du?«
Ich war überrascht. Nicht, weil sie Poppins’ alberne Regel brechen wollte, sondern weil sie eine Unterhaltung mit mir anfing. Ich meine, wir redeten nicht nicht miteinander, aber an dem Tag im Kino, als ich den Sessel verprügelt hatte, hatte Baby ihre Position deutlich gemacht, und bis auf den Zwischenfall mit Scarlet in der Kammer hielt Baby Distanz zu mir.
Doch obwohl wir keine Zeit miteinander verbrachten, dachte ich viel über Baby nach. Und ich dachte darüber nach, was mein Therapeut gesagt hatte, und ich wusste, dass er recht hatte. Ich brauchte einen vertrauten Menschen. Meine Macke hatte auch damit zu tun, dass ich so verdammt lange so verdammt einsam gewesen war. Aber mein Problem war nicht, zuzugeben, dass ich mir emotionale Tiefe mit Baby wünschte. Mein Problem war, immer wenn ich mir vornahm, ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen, stellte ich mir unweigerlich vor, wie sie einen schwarzen Marker zückte und auf meine Tabula rasa SPINNER schrieb — so wie sie an dem Tag, als wir uns kennenlernten, auf mein Namensschild SOLO geschrieben hatte — und mich dann zum Teufel jagte.
Ich wartete, bis der Pausenraum leer war, dann zeigte ich Baby meinen Wichtelzettel.
Ihr klappte der Mund auf. »Ich fasse es nicht, dass du es mir verrätst! Du erzählst mir doch sonst nie was, Solo.«
Es tat ein bisschen weh. Sollte es auch.
»Wen hast du gezogen?«, fragte ich zurück.
Sie grinste. »Als würde ich dir das erzählen.«
»Heißt das, du bist mein Wichtel? Es ist nämlich echt schwer, mich zu beschenken.«
»Was schenkt man einem, der schon alles hat? Das hier, schätze ich.« Sie öffnete ihre Tasche und zog einen rosa Umschlag heraus.
»Was ist das? Eine Weihnachtskarte?«
»Mach ihn auf.«
Ich riss den Umschlag auf und nahm eine Karte aus dickem Papier heraus, auf die zwei gezeichnete Raubkatzen in Abendgarderobe eingeprägt waren. Unter der, die wahrscheinlich das Männchen war, stand Bob, und unter dem Weibchen stand Kat.
»Das sind Luchse. Weil sie Bob und Kat heißen, und Bobcat heißt Luchs.« Baby schüttelte den Kopf. »Das ist das Peinlichste, was ich je gesehen habe.«
Ich zeigte auf die Zeichnung. »Findest du? Die sind doch obercool!« Ich las die Karte. Die Trauung fand am Valentinstag statt.
»Fühl dich nicht verpflichtet zu kommen.« Baby strich sich durchs Haar. »Ich meine, wie du siehst, bist du eingeladen. Aber im Ernst, ich verstehe total, wenn du keine Lust hast, zur Hochzeit von zwei Leuten zu gehen, die sich selbst BobKat nennen. Wenn ich nicht müsste, würde ich auch nicht hingehen.«
»Meinst du, dass sie mich wirklich dabeihaben wollen?«, fragte ich. »Ich habe Kat nur einmal gesehen. Ist es nicht komisch, wenn ich da aufkreuze?«
Baby trat von einem Fuß auf den anderen. »Nein. Ich meine, nicht, wenn du mit mir hingehst.«
»Ach so«, sagte ich. »Ich wäre dein Begleiter?«
»Du musst nicht. Ich würde mich nur zu Tode langweilen, wenn ich allein gehe«, sagte sie schnell. »Und es ist nicht so, dass sie mir zum Valentinstag zurzeit die Bude einrennen.« Sie zeigte auf ihren Bauch.
Ich hatte das Gefühl, Baby reichte mir die Friedenspfeife, und ich würde sie nicht ablehnen. »Wie läuft es eigentlich mit der Schwangerschaft und so? Du hast noch gar nicht erzählt, wie deine Mutter die Neuigkeit aufgenommen hat.«
Baby seufzte. »Ein Vorteil, wenn dich deine Mutter als Teenager gekriegt hat, ist, dass sie dir keine Vorwürfe machen kann, wenn du in der Highschool schwanger wirst.«
»Schön, dass du unter die Optimisten gegangen bist«, witzelte ich.
Baby verdrehte die Augen. »Kat hat gefragt, ob es von dir ist. Ich habe gesagt, natürlich nicht. Da wirkte sie irgendwie enttäuscht.«
»Bitte richte ihr aus, dass ich mich geschmeichelt fühle.«
»Igitt.« Baby schüttelte sich. »Jedenfalls weiß sie es, und sie hat mich nicht umgebracht oder vor die Tür gesetzt, als ich es ihr gesagt habe, also schätze ich, dass bei uns alles in Butter ist.«
»Das ist gut«, sagte ich. Und dann musste ich unbedingt fragen: »Heißt die Einladung, dass bei uns auch alles in Butter ist?«
Baby zuckte die Schultern. »Wir haben uns ja nie gestritten, Solo. Ich meine, du und der Kinosessel, ihr hattet offenbar ein Hühnchen zu rupfen, aber bei dir und mir ist alles klar.«
Das war eine Erleichterung. »Sicher?«
Baby nickte. »Ja. Ich weiß, dass du mir nichts von dir erzählen willst, und deshalb habe ich beschlossen, dass es mir egal ist.«
»Oh.« Überrascht stellte ich fest, dass ihre Worte mir einen Stich versetzten. »Okay.«
Baby sah es mir offenbar an. »Ich will nicht zickig sein, Solo. Ich bin einfach drüber weg.« Sie war offen zu mir. »Anscheinend willst du nicht, dass ich über deinen Mist Bescheid weiß. Das verstehe ich. Ich wünschte, du wüsstest über meinen Mist auch nicht Bescheid, aber dafür ist es eben zu spät. Außerdem, wenn du mir die Wahrheit erzählen würdest, warum du im Headlights ausgeflippt bist, würde ich dir wahrscheinlich noch mehr von meinem Mist erzählen wollen. Und dann würdest du mir noch mehr von deinem Mist erzählen, und dann hätten wir ein schräges Co-Abhängigkeitsverhältnis und müssten uns ständig alles erzählen. Und dann was?« Sie hielt inne. »Was ist, wenn einer von uns irgendwann richtig arschig zum andern ist, und unsere Freundschaft geht kaputt? Ich will niemanden zum Feind haben, der meine dunkelsten Geheimnisse kennt — das Risiko ist viel zu groß.«
Ihre Logik leuchtete mir vollkommen ein. Tatsächlich war es ein gutes Argument gegen alles, was mein Therapeut über Beziehungen und Verwundbarkeit verzapft hatte.
Trotzdem irritierte es mich, wenn Baby es sagte.
»Ich will trotzdem mit dir abhängen, Solo. Wir behalten einfach unsere Probleme für uns und reden lieber über oberflächliche Sachen. Filme zum Beispiel. Auf dem Gebiet habe ich dir noch viel beizubringen.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln, aber ich war nicht glücklich. Zu spät wurde mir klar, wie groß mein Wunsch war, nicht nur oberflächlich mit Baby befreundet zu sein.
»Dann ist ja alles klar.« Ich steckte die Einladung ein. »Sag BobKat, ich komme. Ich schenke ihnen einen Toaster.«
Baby nickte, aber sie lächelte nicht zurück. »Perfekt.«