Am Nachmittag meldete ich mich krank, was feige gewesen wäre, wenn ich nicht wirklich krank gewesen wäre. Das Fieberthermometer zeigte 38,7 Grad, und wer war ich, mich über Zahlen hinwegzusetzen?
Ich nahm eine Kopfschmerztablette und legte mich wieder hin. Dreizehn Stunden später, gegen vier Uhr früh, wachte ich auf und stellte mich wieder unter die Dusche, obwohl ich in der Zwischenzeit nur geschlafen hatte.
Ich wartete bis sechs, bevor ich runterging, weil sechs Uhr keine völlig unnormale Zeit war und Mom bestimmt schon in der Bäckerei war, sodass ich weiterhin niemandem begegnen musste. Allerdings hatte ich vergessen, dass Heiligabend war, und wir erschreckten uns beide, als ich in die Küche kam.
»Du hast kurze Haare.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und fuhr mir durchs Haar. »War aber auch Zeit. Du hast schon ausgesehen wie ein Mädchen.« Dann musterte sie mich aufmerksamer. »Du siehst krank aus, Joel. Bist du erkältet?«
»Ja, aber nicht so schlimm.«
Sie ging zum Kühlschrank und kam mit einer Dose Vernors Gingerale zurück, einer Ingwerlimonade, die in der Region als Hausmittel gegen alle möglichen Krankheiten galt. »Meinst du, du bist fit genug für Tante Denise heute Abend?« Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an.
»Nein«, sagte ich, dankbar für die glaubwürdige Ausrede, das Familienessen ausfallen zu lassen. Ich machte das Gingerale auf und trank einen Schluck.
»Das ist schade.« Sie legte die Stirn in Falten und blies den Rauch in die andere Richtung. »Es täte mir sehr leid, wenn du heute Abend allein zu Hause wärst.«
»Wahrscheinlich schlafe ich einfach.«
Sie trank einen Schluck Kaffee. »Wenn es dir schlechter geht, ruf den Arzt. Ich habe Dad gezwungen, heute die letzten Weihnachtseinkäufe mit mir zu machen, aber wir schauen nachher noch mal rein.« Mom zog lange an ihrer Zigarette. »Irgendwelche letzten Wünsche an den Weihnachtsmann? Dad hat dieses Jahr die Spendierhosen an.«
Ich dachte an die Frau im Kaufhaus und machte ein finsteres Gesicht. Ich wusste genau, warum Dad die Spendierhosen anhatte. »Ich brauche nichts.«
»Wirklich nicht?«, hakte sie nach. »Wir wollen, dass dieses Weihnachten richtig schön wird.«
»Egal. Du findest bestimmt was Gutes.«
Dann kam mein Vater herein, der noch den Bademantel anhatte, und gab meiner Mutter einen Kuss auf den Scheitel.
»Ich lege mich besser wieder hin«, sagte ich zu Mom und schlurfte nach oben.
Ich schlief noch ein paar Stunden. Später stand ich auf, spielte Tekken, aß eine Minipizza aus der Mikrowelle und zog mich irgendwann an. Meiner Gesundheit ging es viel besser. Aber mein Kopf war immer noch voll.
Ich holte meine R.E.M.-CD aus dem Auto, in der Hoffnung, Michael Stipe würde mir helfen, meine Gedanken zu klären, aber dann sah ich Mavericks Star-Wars-Bild. Weil ich irgendwas damit tun musste, nahm ich es mit in mein Zimmer.
Falls ich es behalten wollte (und das wollte ich), musste ich ein Versteck dafür finden, weil alles, was mit Star Wars zu tun hatte, bei uns zu Hause verboten war. (Wie ihr vielleicht bemerkt habt, hatten meine Eltern ein Problem damit.) Den Han-Solo-Schlüsselanhänger und den Spritzguss-Millennium-Falken hatte ich im Handschuhfach verstaut, aber etwas so Großes wie das Bild vor meiner Mutter zu verbergen, grenzte an Unmöglichkeit.
Obwohl mein Psychiatrieaufenthalt inzwischen Jahre zurücklag, schnüffelte Mom immer noch gerne in meinem Zimmer herum. Ich versuchte, mich nicht darüber aufzuregen. Ich wusste, dass sie nicht anders konnte. Sie musste sich regelmäßig versichern, dass ihr Sohn nicht wieder Ohrringe oder Lippenstift für seine imaginäre Freundin hortete.
Als meine Mutter damals das grüne Kleid entdeckt hatte und ich in den Teich gesprungen war, hatten meine Eltern mich zum Kinderarzt gebracht, der die Theorie aufstellte, mein Vorrat an Damenkleidung wäre ein Hinweis auf meine aufkeimende Homosexualität, was zufälligerweise der wundeste Punkt meiner Mutter war.
Im Kampf gegen mein mutmaßliches Schwulsein meldeten meine Eltern mich bei einem von der Kirche geleiteten Jungs-Club an, wo ich lernen sollte, supermännlich zu sein.
Jedes Treffen begann mit einem Kapitel aus der Bibel über die kernigsten Typen aus dem Alten Testament, und den Rest der Zeit verbrachten wir mit Holzhacken, An-Seilen-Hochklettern und Hindernisläufen. Ich erinnere mich auch, dass wir sehr viel Fleisch gegessen haben. Die Frauen der Leiter brieten uns Steaks, und das war das Einzige, was mir an dem Programm gefiel.
Als ich mich nach ein paar Monaten immer noch nicht auf wundersame Weise in einen handfesten Holzfäller verwandelt hatte, nahmen mich meine Eltern wieder aus der Gruppe heraus und meldeten mich bei einer anderen an, die »Vorbereitung auf das Mannsein« hieß.
In diesem völlig absurden Kurs redeten wir viel über natürliche körperliche Anziehungskraft, und wie normal es war, Mädchen küssen und Busen anfassen zu wollen. Ich erinnere mich auch lebhaft, dass sie uns dort Fotos einer fast nackten Frau zeigten und uns ein paar Dinge erklärten, die wir, wenn wir älter waren, vielleicht gerne mit einer Frau wie ihr machen würden.
Es war total demütigend.
Nicht lange nach dem Kurs — oder vielleicht gehörte es zur Abschlussprüfung, ich weiß es nicht mehr — landeten auf ungeklärte Weise ein paar Seiten des Unterwäscheteils aus dem Sears-Katalog auf meinem Bett. Weil ich sie für den privaten Gebrauch behielt, müssen meine Eltern gedacht haben, ich wäre aus dem Gröbsten raus, denn sie hörten endlich mit der Schwulen-Hexenjagd auf.
Womit ich sagen will, ich wusste, wie homophob meine Eltern waren, und konnte mir die Reaktion meiner Mutter vorstellen, falls sie Mavericks Bild entdeckte. Ich hatte vielleicht auf dem Schlauch gestanden, was Mavericks Gründe anging, mich so reich zu beschenken, aber ich ging jede Wette ein, dass bei meiner Mutter sofort die Alarmglocken schrillten, und dann säße ich im nächsten Bus zur Konversionstherapie.
Vorsichtig öffnete ich die Rückseite des Rahmens und schob ein Bild der spärlich bekleideten Baywatch-Nixe Yasmine Bleeth über das Bild, das ich aus einer Zeitschrift gerissen hatte. Mom wäre stolz auf mich.
Ich nicht.
Ich war nicht stolz darauf, dass Baby mich für schwulenfeindlich hielt. Ich sah mich selber nicht so. Wenn ich etwas aus den Versuchen meiner Eltern gelernt hatte, mich auf die heterosexuelle Bahn zu lenken, obwohl ich hetero war, dann, dass homophobe Menschen tausendmal furchterregender waren als Schwule und Lesben.
Allerdings hatte ich eine Phobie, was meine Mutter anging, und sie war eindeutig homophob, und wenn es nach mathematischen Regeln ging, hieß das, ich hatte Angst vor ihrer Angst. Aus irgendeinem Grund — vielleicht, weil sie religiös war, vielleicht, weil sie Angst vor Aids hatte, vielleicht, weil sie sah, wie schlecht Schwule behandelt wurden, vielleicht aus einem anderen mir unbekannten Grund — hatte meine Mutter entsetzliche Angst davor, ein schwules Kind zu haben. Was uns hierherbrachte.
Das Telefon klingelte, während ich im Fernsehen herumzappte auf der Suche nach etwas Spannenderem als Talkshows. Ich wusste, noch bevor ich ranging, dass es Mom war.
»Hey, Mom.«
»Habe ich dich geweckt? Hast du was gegessen?«
»Nein und ja. Mir geht’s besser.«
»Gut genug, um heute Abend mit zu Tante Denise zu gehen?«
»Nein, nicht so gut.«
»Na gut. Wir sind bei Chi-Chi Mexikanisch essen«, sagte sie. Dad ließ sich selten überreden, ausländisch essen zu gehen. Offenbar hatte er ein megaschlechtes Gewissen. »Soll ich dir frittiertes Eis mitbringen? Das wäre dann dein Weihnachtsessen.« Sie lachte über ihren eigenen Witz. Sie war bester Laune. Wahrscheinlich hatte sie eine Margarita intus.
»Ja, gerne.«
»Wir haben im Einkaufszentrum jemanden getroffen. Einen deiner alten Ärzte. Jedenfalls glaubt Dad, dass er es war, aber ich dachte, dass er eigentlich einen Schnurrbart hat.«
»Cool«, sagte ich und wollte das Gespräch beenden.
»Er war dort mit seiner Frau und seiner Teenager-Tochter essen, und stell dir vor — die Kleine war schwanger«, erzählte meine Mutter. »Offenbar haben sogar Psychiater verkorkste Kinder. Wie findest du das?«
Ich fand es doof, weil Moms Getratsche auf vielen Ebenen voller Vorurteile war, aber ich hatte keine Lust zu streiten. »Kommt ihr bald heim?«
»In einer Weile. Ich wollte erst sehen, wie viel Geld ich heute loswerde«, sagte sie. Dann legte sie endlich auf.
MTV zeigte die beliebtesten hundert Videos des Jahres 1996, und obwohl ich die Top Five schon gesehen hatte, weil sie schon vor ein paar Tagen gelaufen waren, und wusste, dass »Ironic« von Alanis Morissette auf Platz eins landen würde, schaltete ich nicht um.
Und während ich gedankenverloren Soundgardens »Blow Up the Outside World« sah, löste etwas, was Mom gesagt hatte, in meinem Kopf eine Kettenreaktion aus:
Einer meiner alten Ärzte, der früher einen Schnurrbart hatte, ist Marc Schwartz.
Seine Frau hatte mir an Halloween erzählt, dass sie keine Kinder haben.
Was bedeutete, dass das Teenager-Mädchen, mit dem sie Mom gesehen hatte, nicht ihre Tochter gewesen sein konnte.
Vielleicht war der schwangere Teenager, der bei ihnen war, Baby.
Ich dachte einen Moment über diesen Gedanken nach.
An dem Abend, als Scarlet den Unfall hatte, hatte Marc mich Joel genannt, nicht Solo.
Vielleicht hatte Baby geschlussfolgert, dass ich ihn kannte.
Die Gedankenspirale war gnadenlos.
Marc und Baby waren an dem Abend allein im Pausenraum, während ich Scarlets Erbrochenes wegmachte.
Vielleicht hatte er ihr erzählt, dass er Arzt war. Und welche Art von Arzt er war.
Die Vorstellung machte mich nervös. Sie machte mich paranoid.
Vielleicht hatte Baby keine Lust mehr zu warten, bis ich ihr erzählte, was mit mir los war.
Vielleicht war unser Gespräch im Headlights mein letzter Strohhalm gewesen.
Vielleicht hatte sich Baby mit Marc getroffen, um von ihm die Wahrheit über mich zu erfahren.
Ich wollte nicht glauben, dass es so war, aber als sich die Idee erst mal eingenistet hatte, wurde ich sie nicht mehr los.
Würde Baby so etwas tun? Und falls ja, würde Marc ihr etwas erzählen?
Ich hoffte nicht. Aber ich wusste es nicht.
Das Problem bei Paranoia ist, dass die Ungewissheit einen in den Wahnsinn treibt.
Mein Herz raste.
Ich stellte den Fernseher ab.
Ich tigerte durchs Zimmer.
Ich kam zu einem Schluss.
Ich nahm meinen Autoschlüssel und verließ das Haus.