Als ich am Weihnachtsmorgen aufwachte, lagen mehr Geschenke unter dem Baum, als ich je gesehen hatte.
Mom und Dad saßen im Wohnzimmer und tranken Kaffee, und im Fernsehen lief irgendeine Parade. Der Weihnachtsbaum war spärlich geschmückt, doch unter ihm breitete sich ein Meer bunt eingewickelter Päckchen aus.
Normalerweise konnte ich am Weihnachtsmorgen mit ungefähr sechs Geschenken rechnen, von denen ich zwei abzog, weil ich wusste, dass sie Socken und Unterhosen enthielten. Typischerweise gab es also vier richtige Geschenke von meinen Eltern. Dieses Jahr sah es aus, als hätte sich die Zahl vervierfacht.
»Was ist das denn?«
»Frohe Weihnachten.« Dad grinste wie ein Gebrauchtwagenhändler. »Wird aber auch Zeit, dass du aufstehst, du Faulpelz!«
Ich sah ihn misstrauisch an. »Faulpelz« war kein Wort, das Dad oder sonst jemand unter sechzig benutzte. »Was ist hier los?«
Mom kam zu mir, um mich zu umarmen.
»Wer ist gestorben?«, fragte ich mit einem Anflug von Panik. »Grandma?«
»Alles ist gut«, sagte Dad. »Wir freuen uns einfach, dass du endlich aufgestanden bist, damit du siehst, was der Weihnachtsmann dir gebracht hat.«
Mom legte mir die Hand auf die Stirn. »Geht’s dir heute besser?«
»Ja, mir geht’s gut«, antworte ich und merkte dabei, dass es stimmte. Offenbar hatte ich lange genug geschlafen, um das Fieber und den Kopfwehkater auszukurieren. Allerdings fiel mir bei der Erinnerung an die Migräne alles ein, was gestern passiert war, und ich hatte wieder den doppelten Backstein im Bauch. »Mehr oder weniger.«
»Toll!« Dad grinste.
Überrascht fiel mir auf, dass ich in den drei Tagen, seit ich meinen Vater mit der blonden Frau im Einkaufszentrum gesehen hatte, fast gar nicht darüber nachgegrübelt hatte, was erstaunlich war, weil ich mir normalerweise über Dinge den Kopf zerbrach, die viel weniger bedeutsam waren als die Tatsache, dass ich meinen Vater mit einer anderen erwischt hatte. Mein Therapeut hätte wahrscheinlich gesagt, ich verdrängte es, um mich nicht mit den Konsequenzen auseinandersetzen zu müssen. Aber ich glaubte nicht, dass es daran lag.
Denn als ich meinem Vater gegenüberstand, hatte ich weder das Bedürfnis, ihm in die Eier zu treten, noch ihn anzuschreien oder sonst was in der Art. Ich hatte auch keine Lust, ihn an Ort und Stelle vor meiner Mutter bloßzustellen. Was ich sagen will, ist, dass es mir irgendwie egal war, auch wenn mich das ziemlich illoyal meiner Mutter gegenüber machte.
Realistisch betrachtet wusste ich, dass, falls Dad eine Affäre hatte, es nicht das Schlimmste war, was uns je passiert war — bei Weitem nicht. Es gab nur eine kurze Liste von Dingen, die weltbewegender waren als das, was wir in den letzten neun Jahren durchgemacht hatten, und auch wenn ich nicht kleinreden will, dass mein Vater mit einer fremden Frau rummachte, besaß ich genug Durchblick, um zu wissen, dass es wahrscheinlich okay war, die Auseinandersetzung damit auf nach Weihnachten zu verschieben.
Ich lächelte meinen Vater an, und er entspannte sich sofort.
»Komm, mein Junge«, sagte er. »Mach deine Geschenke auf.«
In der Therapie lernt man, für die kleinen Momente dankbar zu sein, wenn das Leben gerade nicht schrecklich ist. Wenn man so viel mitgemacht hat wie wir, ist es ziemlich schwer, einen Silberstreif am Horizont zu sehen. Das heißt, wenn man mal so was wie Freude empfindet, sollte man es sich unbedingt merken, damit man sich an den Tagen, an denen man sich wünscht, die Welt ginge unter, erinnern kann, dass Freude möglich ist.
Insofern war der Weihnachtsmorgen ziemlich toll.
Ich bekam echt coole Geschenke: ein R.E.M.-T-Shirt, Tekken 2, lauter neue Anziehsachen, ein Paar Doc Martens, einen DVD-Player und einen Computer. Kurz kam mir der Verdacht, sie verschwiegen mir, dass ich unheilbar krank war, und hatten den Scheck von »Make-A-Wish« für mich im Einkaufszentrum auf den Kopf gehauen (Paranoia), aber dann vergaß ich den Argwohn und gestattete mir, das Leben einfach mal zu genießen.
Nach der Bescherung backte meine Mutter Zimtschnecken, und dann setzten wir uns beide an das 500-Teile-Puzzle eines gemalten venezianischen Wochenmarkts, der wahrscheinlich in Wirklichkeit gar nicht existierte, und Dad kam immer wieder vorbei, während er meinen neuen Computer einrichtete.
Solche Momente waren selten — Mom, Dad und ich bewusst zusammen zu Hause und guter Dinge. Normalerweise gingen wir solchen Situationen aus dem Weg, weil beim Zusammensein viel stärker auffiel, was fehlte. Aber aus irgendeinem Grund waren wir an diesem Familienmorgen mit Leib und vielleicht auch mit Seele dabei.
Doch sosehr ich mich bemühte, beim Zusammensetzen eines italienischen Obststands in der Gegenwart zu bleiben, wanderten meine Gedanken immer wieder zu Baby. Wie auch nicht? Weniger als vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit meine größte Angst wahr geworden war, und so was verdaut man nicht in zehn Minuten.
Eigentlich wusste ich natürlich, dass ich Baby nicht übel nehmen durfte, wie sie auf Crystal reagiert hatte. Im umgekehrten Fall hätte ich vielleicht auch nicht anders reagiert. Wäre ich Crystal nie begegnet und Baby hätte mir von ihrer innigen Freundschaft mit jemandem erzählt, den außer ihr niemand sehen konnte, hätte ich mich wahrscheinlich auch verdrückt. Wie jeder NORMALE Mensch.
Aber das hieß nicht, dass ich nicht wünschte, es wäre besser gelaufen. Ich meine, ich wünschte es so stark, dass es wehtat, dass es mir den Magen umdrehte und dass mein Hirn zu explodieren drohte. Ich hätte lügen sollen. Ich hätte eine Geschichte über eine Ex-Freundin erfinden sollen, die mir das Herz gebrochen hatte, indem sie mit meinem besten Freund durchgebrannt war, oder ich hätte einfach die Wahrheit über Valerie erzählen sollen, ohne zu erwähnen, dass wir beide in der Irrenanstalt saßen, weil allein das schon gereicht hätte, einen Teenager zum Wrack zu machen. Im Rückblick war mir klar, dass ich Baby genug Details hätte auftischen können, um ihren Verdacht wegen meiner Macke zu befriedigen, ohne Crystal mit einem Wort zu erwähnen. Ein einziges Mal hätte ich die Geschichte kontrollieren können, statt mich von der Geschichte kontrollieren zu lassen. Aber ich hatte es nicht getan, und ich wusste, warum.
Denn die Wahrheit war, ich hatte Baby nicht anlügen wollen. Wie mir inzwischen klar war, wollte ich nämlich tatsächlich all das, was mein Psychiater mir unterstellt hatte. Ich wollte Nähe und den ganzen Mist. Ich wollte das mit Baby. Ich wollte jemanden, mit dem ich echt sein konnte, und ich wollte, dass diese Person kein Problem mit meiner Macke hatte, also war ich aufs Ganze gegangen und hatte die Wahrheit auf den Tisch gelegt. Und als ich den Ball kicken wollte, hatte sie ihn mir weggezogen.
Mann, das tat weh.
Die Arbeit würde in Zukunft keinen Spaß mehr machen. Auch das entging mir nicht. Ich überlegte, ob ich kündigen und mir einen anderen Job suchen sollte, wo ich mit keinem reden musste. Vielleicht so was wie der Typ, der bei Chuck E. Cheese im Mäusekostüm herumlief. Mit dem redete keiner. Er könnte sonst wer sein — selbst jemand, der mal in der Anstalt gewesen war —; solange er in seinem Mäuseanzug steckte und sich zusammenriss, würde niemand davon erfahren. Außerdem bekam er Gratis-Pizza und konnte Flipper spielen, so viel er wollte, was als Bonus nicht zu unterschätzen war.
Bei ROYO Video zu kündigen schien mir tatsächlich die einzige realistische Lösung des Problems. Baby wäre froh, dass sie nicht mehr mit mir arbeiten musste, und nebenbei erledigte sich auch die Sache mit Maverick. Das mit Maverick war noch etwas, was ich verdrängte, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich mich verhalten sollte. Falls Maverick wirklich in mich verknallt war, würde es ihm vielleicht helfen, sich zu entlieben, wenn Baby ihm erzählte, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Das wäre das einzig Positive an der Geschichte.
Egal.
Meine Eltern und ich wurden mit dem Puzzle in weniger als zwei Stunden fertig, und dann zog sich jeder für den Rest des Nachmittags zurück. Dad legte sich aufs Sofa und machte Mittagsschlaf, Mom rauchte Kette und las alte People-Ausgaben, und ich versteckte mich in meinem Zimmer und spielte Tekken 2, das sich leider kaum von Tekken 1 unterschied.
Das Abendessen am Weihnachtstag holten wir immer vom Chinesen. Im Großraum Detroit gab es jede Menge internationale Restaurants, deren Wirte nicht Weihnachten feierten, also gab es jede Menge Auswahl für Leute wie uns, die an den Feiertagen nicht kochen wollten. Weil mein Vater alles, was über Huhn, Reis und Frühlingsrollen hinausging, zu exotisch fand, machten wir keine größeren Exkursionen in die nicht-amerikanische Küche, aber Chinesisch zu Weihnachten war bei den Teagues schon vor dem Schlimmen Tradition gewesen, und wir hatten nicht viele Traditionen übrig, also beschwerte ich mich nicht, dass ich lieber Thai oder Indisch probiert hätte.
Ich roch das Kung Pao Chicken schon, bevor Dad mich nach unten rief. Als ich ins Esszimmer kam, nahmen er und Mom gerade die weißen Kartons mit den verschiedenen Gerichten aus den Tüten. Wir setzten uns an den Tisch, um gemeinsam zu essen. Kurz darauf klopfte es an die Haustür.
Wir sahen uns wie versteinert an, als könnte jeden Moment die Gestapo bei uns auftauchen. Eigentlich bekamen wir nie Besuch, außer vielleicht von Tante Denise, und Tante Denise klopfte nicht.
»Wer in aller Welt könnte das sein?«, fragte Dad.
»Wahrscheinlich die Zeugen Jehovas«, sagte meine Mutter.
»Ich glaube, die haben an Weihnachten frei, Maureen. Vielleicht die Sternsinger.« Mein Vater ging zur Tür. Er drückte das Gesicht an den Türspion, richtete sich wieder auf, und dann sah er noch mal hinein. »Oder auch nicht.« Dad warf mir einen besorgten Blick zu, bevor er die Tür öffnete. »Kann ich helfen, Miss?«
»Äh, ja«, sagte eine vertraute Stimme. »Tut mir leid, wenn ich an Weihnachten störe, aber wäre es möglich, dass Sie Joel das hier von mir geben?«
Inzwischen war ich bei Dad an der Tür.
Auf der Veranda stand Baby, die ihren Mantel nicht mehr über dem Bauch zubekam, und sie hatte einen Umschlag in der Hand und ein in Alufolie eingewickeltes Päckchen.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
Mein Vater sah von ihr zu ihrem Bauch zu mir und wieder zurück.
»Joel?«, fragte er. »Würdest du uns vorstellen?«
»Dad, das ist Nicole. Wir arbeiten zusammen«, sagte ich, und Baby streckte ihm lächelnd die Hand hin.
Er schüttelte sie und hielt ihr die Tür auf. »Komm doch aus der Kälte herein, junge Dame.«
»Ich bleibe nur eine Minute«, versprach sie und sah mich an.
Ich wich ihrem Blick aus. »Bist du hier, um zu kündigen? Steht das in dem Brief?« Ich zeigte auf den Umschlag. Anscheinend war Baby schneller als ich gewesen.
»Was? Nein.« Sie lachte. »Kat wollte, dass ich euch Kuchen vorbeibringe.« Sie gab mir den in Folie gepackten Teller, und meine Mutter, die inzwischen auch an der Tür stand, nahm ihn mir aus der Hand.
»Ich bin Joels Mutter«, sagte sie reserviert.
Baby nickte. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Willst du nicht reinkommen?« Mom winkte Baby ins Haus, dann flüsterte sie mir ins Ohr. »Kann ich mal kurz mit dir reden?«
»Ich bin nicht der Vater, Mom. Ich schwöre es«, flüsterte ich zurück, und sie entspannte sich.
»Ich wollte Sie wirklich nicht an Weihnachten stören. Ich muss nur dringend mit Joel über etwas reden, was nicht warten kann.«
»Papperlapapp«, sagte mein Vater. »Isst du gern Chinesisch? Wir haben mehr als genug. Iss doch mit.«
Baby sah mich verunsichert an. Und weil ich nicht wusste, weswegen sie hier war, wusste ich auch nicht, was ich sagen sollte.
»Wartet Kat mit dem Essen auf dich?«, fragte ich schließlich.
»Nein. Sie ist mit Bob im Restaurant, um den Schaden zu begutachten«, erklärte sie. »Es ist ein ziemliches Durcheinander.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Mom. Wenn sie wollte, konnte sie hören wie eine Fledermaus.
»In dem Restaurant, wo meine Mutter arbeitet, hat es gebrannt«, sagte Baby mit einem Blick zu mir. »Hat Joel nichts erzählt?«
»Nein«, sagten meine Eltern im Chor.
»Meinst du den Küchenbrand drüben im Headlights?«, fragte Dad.
»Ja«, bestätigte ich, ohne wissen zu wollen, woher er davon wusste (ich hatte einen Verdacht).
»Meine Mutter managt den Laden. Ihr Freund ist der Besitzer«, erklärte Baby.
»Kat ist deine Mutter?« Dad lächelte. »Ich freue mich für sie und Bob!«
Mom und ich sahen ihn finster an.
»Wie oft gehst du dahin, Craig?«, fragte Mom empört.
Dad tat, als hörte er sie nicht.
»Jedenfalls kommt Mom heute erst spät nach Hause«, fuhr Baby fort und sah mich an. »Also, wenn es dir recht ist, ich hätte Zeit.«
Ich wusste nicht, ob Baby mir mit der Satzbetonung eine verschlüsselte Botschaft übermitteln wollte, und wenn ja, welche. »Hast du Lust?« fragte ich.
Ihre Finger spielten mit dem Umschlag, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie schob ihn in die Tasche und nickte.
Wir mussten den vierten Stuhl erst freischaufeln. Da wir nie Besuch hatten, landete dort alles, was wir nicht wegwerfen wollten. Dann holte Dad ein viertes Tischset, und Baby setzte sich neben mich.
»Wie lange arbeitest du schon in der Videothek?«, fragte meine Mutter, als sie Baby die Schachtel mit dem Reis reichte.
»Seit drei Jahren«, antwortete Baby. »Mit fünfzehn habe ich angefangen.«
»Du bist schon achtzehn?«, fragte ich überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte ich gedacht, ich wäre älter als sie.
»Ja. Seit Oktober.«
»Da kannten wir uns schon«, sagte ich. »Du hast deinen Geburtstag gar nicht erwähnt.«
»Hätte ich ihn ankündigen sollen? Einen Kuchen verlangen? Ich bin ja nicht fünf.«
Meine Eltern lachten.
»Als junger Mensch ist das eine lange Zeit im selben Job«, sagte meine Mutter anerkennend. Dann zögerte sie. »Wie kommt es, dass Joel schon dein Vorgesetzter ist, obwohl du viel länger dort arbeitest als er?«
Baby zog die Augenbrauen hoch. »Ja, komisch, oder?« Sie schob sich eine Gabel Reis in den Mund. »Das müssen Sie Scarlet fragen.«
»Sie meint Jessica«, übersetzte ich für Mom. »Devins Ex.«
Mom verzog das Gesicht. »Ach, die. Ich bin kein großer Fan von ihr.«
»Wirklich?« Babys Miene hellte sich auf. »Ich auch nicht.«
Plötzlich hatten Baby und Mom eine Verbindung. »Sie hat meinen Neffen sehr schlecht behandelt. Sein Herz gebrochen.«
»Na ja, ich glaube, er hat sich ganz gut erholt«, erinnerte ich Mom, bevor Baby Mitleid mit Devin bekam, das er nicht verdient hatte.
»Zum Glück«, sagte Mom. »Ich dachte, er kommt nie über den Verlust seines Babys weg.«
Ich hatte mir gerade eine Gabel mit Huhn in den Mund geschoben und musste ein paarmal kauen, bevor ich nachfragen konnte: »Du meinst den Verlust von Scarlet?« Es sah meiner Mutter nicht ähnlich, Frauen »Baby« zu nennen, aber vielleicht versuchte Mom unserem Gast zuliebe cool zu sein.
Mom sah mich überrascht an. »Ach, das weißt du nicht? Ich dachte, Devin hätte sich dir anvertraut.«
»Was?«
»Maureen«, mischte sich Dad ein.
»Er ist alt genug, Craig.« Mom warf Dad einen Blick zu.
Baby warf mir einen Blick zu.
»Darum geht es nicht. Sie ist seine Kollegin«, erinnerte Dad meine Mutter. »Du kannst nicht einfach Dinge aus ihrem Privatleben herumerzählen.«
»Tue ich doch gar nicht«, verteidigte sich meine Mutter. »Ich rede über das Privatleben meines Neffen. Es waren zwei beteiligt, als sie das Baby gemacht haben.«
Baby riss die Augen auf. »Sie meinen, Scarlet war schwanger?«
Ich schluckte runter und starrte Mom an.
Sie nickte. »Jessica wurde schwanger, aber sie wollte das Baby nicht. Also hat sie …« Mom zog die Brauen hoch und schürzte vielsagend die Lippen. »Devin war am Ende.«
»Maureen«, schaltete sich mein Vater wieder ein. »Das geht niemanden was an.«
»Ach du Scheiße«, hörte ich Baby flüstern, und den gleichen Gedanken hatte ich auch.
»Du hättest deine Tante Denise sehen sollen, Joel. Sie war ein Häufchen Elend.« Mom zeigte mit der Gabel auf mich. »Es wäre ihr Enkelkind gewesen, weißt du.«
Baby und ich schwiegen.
»Wenn ihr mich fragt, sollte so was verboten sein«, fuhr Mom fort.
»Dich fragt aber keiner«, bemerkte Dad.
»Die Mädchen machen es sich heutzutage viel zu einfach. Sie bringen sich in Schwierigkeiten, und dann wollen sie die Konsequenzen nicht tragen«, sagte Mom. »Anwesende natürlich ausgenommen. Du hast wirklich ein Lob verdient, Nicole. Offenbar übernimmst du die Verantwortung für dein Verhalten.«
»Mom!«, rief ich. »Hör endlich auf, so zu reden!« Ich sah Baby entschuldigend an, aber sie war in Gedanken offensichtlich noch bei Scarlet.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du mir beim Essen mehr Respekt zeigst, Joel!«, keifte Mom zurück.
»Du kannst es dem Jungen nicht übel nehmen, Maureen«, sagte Dad. »Dir wäre es auch nicht recht, wenn sich die Leute beim Essen über deine Probleme das Maul zerreißen.«
Damit nahm er meiner Mutter den Wind aus den Segeln, die nach kurzem Schweigen das Thema wechselte.
Mehr oder weniger.
»Weißt du schon, was es ist, Nicole?«
»Nein«, antwortete Baby.
»Also«, Mom reichte ihr die Schachtel mit dem Beef Chow Mein, »wenn es ein Junge ist, solltest du viel rotes Fleisch essen. Das hilft bei der Entwicklung seiner Männlichkeit, und das ist heutzutage sehr wichtig.«
»Oh, aha.« Baby griff nach der Schachtel und nahm sich eine kleine Menge.
»Dann denkst du wohl, es wird ein Mädchen.« Mom lächelte und zeigte auf Babys Teller. »Eine rosa Zukunft. Prinzessinnen und Glitzer.«
»Maureen.« Dad seufzte. »Was ist bloß los mit dir?«
»Wieso? Ich dachte nur an das Baby, und kleine Jungs brauchen bestimmte Dinge, damit sie sich gesund entwickeln.« Sie funkelte meinen Vater an.
Dad, der entweder satt war oder meine Mutter satthatte, legte die Serviette auf den Teller und brachte den Teller zur Spüle. »Ich schließe deinen DVD-Player an, Joel. Vielleicht willst du mit deiner Freundin draußen einen Spaziergang machen. Dann habt ihr eure Privatsphäre.«
Kaum war Dad außer Hörweite, machte meine Mutter weiter. »Hast du Bücher über die Schwangerschaft gelesen?«, fragte sie Baby. »Die jüngste Forschung hat ergeben, dass es wohl doch einen Zusammenhang gibt zwischen der Ernährung der Mutter und den Neigungen des Kindes.«
Baby schluckte einen Bissen hinunter. »Das habe ich nicht gelesen.« Sie trank etwas. Und weil sie zu Erwachsenen immer höflich war, fragte sie: »Was für Neigungen meinen Sie?«
Mom sah mich aus dem Augenwinkel an. »Du weißt schon, Mädchen, die sehr burschikos sind, Jungs, die verweiblicht sind. Die Ernährung beeinflusst solche Dinge.«
»Aha.« Baby runzelte die Stirn. »Das habe ich wirklich noch nie gehört.«
»Ja, weil es nicht stimmt«, sagte ich und sah meine Mutter wütend an. Ich trug meinen Teller zur Spüle.
»Doch, es stimmt«, widersprach meine Mutter. »Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man gesunde Kinder großziehen will. Ich erzähle dir nur, was ich gerne gewusst hätte, als ich jünger war.«
Ich kam aus der Küche zurück. »Bist du fertig?«, fragte ich Baby und zeigte auf ihren Teller.
»Klar«, sagte sie, aber sie aß noch schnell drei Bissen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, einer Schwangeren den Teller wegzuziehen, aber mit meiner Mutter am Tisch zu sitzen, wenn sie sich so benahm, war noch schlimmer.
»Wir gehen spazieren«, sagte ich und nahm unsere Jacken.
»Wenn ihr zurück seid, wärme ich den Kuchen auf, den Nicole mitgebracht hat«, rief Mom uns nach, als merkte sie nicht, wie wütend ich war.
Ich schlug die Tür fester zu als nötig.
Wir waren ein paar Schritte gegangen, als Baby fragte: »Hast du vergessen, dass ich hochschwanger bin?« Sie keuchte. »Erst reißt du mir das Essen aus der Hand, und jetzt laufen wir einen Marathon. Was ist los?«
»Tut mir leid. Und das mit meiner Mutter tut mir auch leid.«
Sie musste ein paarmal Luft holen, bevor sie antworten konnte. »Dafür kannst du ja nichts. Aber langsam fange ich an zu verstehen, warum du wegen Maverick so seltsam warst. Die Frau hat offenbar panische Angst vor Schwulen.«
»Du weißt nicht mal die Hälfte.«
»Das glaube ich.« Baby zeigte auf einen kleinen Park mit ein paar überdachten Picknicktischen, und wir gingen hinüber.
Ein paar Minuten saßen wir schweigend da, aber ich konnte mir denken, dass Baby ihren Mut zusammennahm, um mir zu sagen, dass sie mich nie wiedersehen wollte.
Und weil ich der Typ bin, der sich das Pflaster lieber mit einem Ruck abreißt, machte ich es ihr leicht. »Nur damit du Bescheid weißt, ich reiche morgen meine Kündigung ein, dann bin ich in zwei Wochen weg.«
Baby sah mich verblüfft an. »Du kündigst? Warum?«
Ich seufzte. »Na ja. Schließlich können wir nicht mehr zusammenarbeiten, und du arbeitest viel länger in der Videothek als ich, deshalb find ich es nur fair, wenn ich gehe.«
»Warum können wir nicht mehr zusammenarbeiten?«, fragte Baby.
Ich sah sie an. »Jetzt tu nicht so, als hättest du kein Problem damit, was ich dir gestern Abend erzählt habe. Wenn ich gehe, können wir so tun, als wäre gestern Abend nie passiert.«
»Willst du das?«, fragte sie mich. Bevor ich antworten konnte, erklärte sie: »Ich will das nicht.«
»Nein?«
»Nein.«
»Ach. Was willst du denn?«
»Was meinst du?«
»Von mir. Was willst du von mir jetzt, wo du weißt, dass ich eine Vollmeise habe?«, fragte ich. »Ich meine, warum bist du heute Abend hergekommen, wenn nicht, um unsere Freundschaft zu beenden?«
»O Mann, Solo, du bist so was von dramatisch«, sagte Baby. »Es gibt unendlich viele Gründe dafür, dich heute sehen zu wollen, und du gehst automatisch davon aus, dass ich zu dir nach Hause fahre, um dich aus meinem Leben zu schmeißen? Manchmal bist du echt anstrengend.«
»Findest du?«, schnaubte ich zurück. »Nach deiner Reaktion gestern ist es wohl nicht abwegig anzunehmen, dass du die Nase voll hast. Ich meine, ich bin auf vielen Ebenen verrückt, aber ganz bestimmt nicht deswegen.«
»Hör auf«, sagte Baby. »Hör auf, dich verrückt zu nennen.«
»Warum? Ich bin verrückt. Ich habe Jahre in der Anstalt hinter mir«, erinnerte ich sie.
Sie fuhr sich durchs Haar. »Ich finde dich nicht verrückt.« Baby seufzte. »Ich weiß, dass ich gestern Abend arschig reagiert habe, und das tut mir leid. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil ich von dem, was du erzählt hast, völlig überrumpelt war, und ich hatte ein total schlechtes Gewissen, dass ich dich gezwungen habe, mir alles zu erzählen.«
»Warte mal. Du hast ein schlechtes Gewissen wegen gestern Abend?«
»Natürlich!«, rief Baby. »Ich meine, ich habe die ganze Zeit gedacht, du hast irgendwelche normalen Teenagerprobleme, über die du nicht reden willst. Ich dachte, es geht um deine blöde Ex-Freundin oder darum, dass deine Eltern Krach haben. Und gleichzeitig wusstest du so viel über mich, nur ich hatte keine Ahnung von dir.«
»Oh.« Der Backstein in meinen Eingeweiden fing an sich aufzulösen.
Baby seufzte. »Ich weiß nicht, welche Reaktion gestern Abend richtig gewesen wäre. Aber wahrscheinlich wäre alles besser gewesen, als überhaupt nichts zu sagen.«
»Keine Ahnung«, sagte ich, während ich mich innerlich deutlich leichter fühlte. »Mich mit Weihwasser zu besprühen und zu versuchen, den Dämon zu exorzieren, wäre bestimmt noch schlimmer gewesen.«
»Hat das jemand probiert?«
»Ernsthaft?«, sagte ich. »Das war eine der ersten Maßnahmen meiner Eltern.« Was stimmte, aber es war keine besonders interessante Geschichte, deshalb habe ich sie auch nicht erzählt. Mom brachte mich zu einem Priester, der mich mit Wasser besprühte und irgendwas auf Lateinisch sagte (glaube ich), und dann gingen wir wieder, und ich traf mich mit Crystal im Wandschrank.
Babys Augen wurden groß. »Siehst du? Ich habe so viele Fragen. Aber ich weiß nicht, was ich fragen darf und was zu unsensibel ist, und ob ich überhaupt das Recht habe, irgendwas zu fragen.«
Das hatte ich nicht erwartet. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass Baby noch mehr über meine Macke wissen wollen könnte, nachdem ich ihr einen Vorgeschmack gegeben hatte.
»Ich schätze, du kannst fragen, was du willst.« Ich stützte die Arme auf den Picknicktisch. »Ich bin nur überrascht, dass du mehr wissen willst. Seit Jahren bezahlen meine Eltern Leute dafür, dass sie mit mir darüber reden. Es hat noch nie jemanden freiwillig interessiert.«
»Na ja, wie vielen Freunden hast du es denn erzählt?«
»Nur dir.«
»Das ist vielleicht der Grund«, sagte Baby. »Nicht, dass du dich wie eine Jahrmarktsattraktion fühlst oder so, Solo, aber seit du mir von Crystal erzählt hast, bist du ungefähr eine Million Mal interessanter geworden.« Es war seltsam, sie so beiläufig Crystals Namen aussprechen zu hören. »Ich wollte immer einen Geist sehen. Und du hast einen gesehen.«
Ich lächelte schief. »Du glaubst, Crystal ist ein Geist?«
»Du nicht? Was soll sie denn sonst sein?«
»Eine psychische Störung, wie diverse Ärzte gesagt haben.«
»Nee. Ich glaube, sie ist ein Geist«, sagte Baby entschlossen. »Ich meine, mein Wissen über Geister stammt zwar hauptsächlich aus Filmen, aber aus filmischer Sicht ist das die wahrscheinlichste Erklärung.«
»Ich weiß nicht.« Viele der anderen Kinder in der Klinik hatten den gleichen Schluss gezogen. Aber woher sollte ich wissen, ob Crystal ein Geist war? Bei Leuten, die an Geister glaubten, und Leuten, die psychische Probleme hatten, gab es eine große Schnittmenge.
»Überleg mal, Solo. Es gibt Hunderte Filme über Geister. Glaubst du nicht, dass ein paar davon auf reale Ereignisse zurückgehen? Ich habe zum Beispiel immer gehofft, dass Feld der Träume auf einer wahren Geschichte beruht. Oder dieser andere, Ghost. Oder 4 himmlische Freunde mit Robert Downey Jr. Wenn du mich fragst, könnte jeder dieser Filme realistisch sein.«
»Ich habe keinen davon gesehen.«
Baby schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Du wirst sie noch sehen«, entschied sie. »Du muss eine Menge Filme sehen, wenn wir Crystal auf den Grund gehen wollen.« Sie strich sich durchs Haar. »Und das wollen wir.«
»Nach Jahren der Therapie und Dutzenden von Ärzten, die versucht haben, Crystals Geheimnis zu lösen, glaubst du, du kommst dahinter, indem du Filme siehst?«
»Wir werden es lösen.« Baby lächelte.
»Du willst also immer noch mit mir befreundet sein?«, stellte ich klar. »Du findest Crystal nicht abschreckend? Oder mich? Oder diese ganze Geschichte?«
»Nein.« Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Ich glaube dir alles, was du mir gestern Abend erzählt hast. Man müsste schon irre sein, um sich so was auszudenken. Und wie gesagt, ich glaube nicht, dass du verrückt bist.« Baby zuckte die Schultern. »Außerdem ist dir vielleicht schon mal aufgefallen, dass ich die meisten Leute nicht mag. Ich werde mich also nicht von dem besten Freund, den ich habe, abwenden, nur weil er ein bisschen kompliziert ist.«
Als sie das sagte, hüpfte mir buchstäblich das Herz, und es ist mir völlig egal, ob das kitschig klingt. Wenn ihr ein Junge wärt wie ich, und jemand so was zu euch sagen würde, hättet ihr Glück, wenn ihr vor Schreck nicht tot umfallen würdet. »Du bist auch meine beste Freundin.«
Die Worte auszusprechen war fast so schön, wie sie von Baby zu hören.
Der Augenblick war groß, aber dann unterbrach ihn Baby. »Wir können uns später im Einkaufszentrum Beste-Freunde-Kettchen kaufen.«
»Joel und Nicole, beste Freunde für immer.«
»Baby und Solo«, berichtigte sie mich.
Ich lächelte.
Baby zitterte. »Ich mache mich besser langsam auf den Weg. Ich erfriere.«
Ich nahm ihr nicht übel, dass sie nicht noch mal mit reinkam, um Kuchen zu essen, nach dem Eindruck, den meine Mutter hinterlassen hatte. Ich wunderte mich auch nicht, dass wir nicht über Scarlets Geheimnis gesprochen hatten. Später vielleicht. Ich wusste nur, dass ich plötzlich in einer ganz anderen Realität lebte als vor vierundzwanzig Stunden, und die Veränderung war ausnahmsweise mal positiv.
Ich begleitete Baby zum Auto. »Bevor ich es vergesse, hier.« Sie legte mir den Briefumschlag, den sie mitgebracht hatte, in die Hand.
»Was ist das?«, fragte ich.
Sie öffnete die Autotür. »Weißt du noch, wie die Sanitäter mich nach dem Feuer zum Ultraschall geschickt haben?«
Ich nickte.
»Es war alles in Ordnung. Aber als sie sich da unten umgesehen haben, haben sie auch das Geschlecht erkannt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen es aufschreiben.« Sie zeigte auf den Umschlag. »Ich will, dass du es hast.«
»Okay. Warum?«
Baby schüttelte den Kopf. »Ich habe es mir nicht angesehen. Ich will es nicht wissen.« Sie zuckte die Schultern. »Aber ich will, dass du es weißt.«
»Im Ernst?«
»Ich will, dass du alles weißt«, sagte Baby und stieg ins Auto. »Frohe Weihnachten, Solo.« Sie schloss die Tür und startete den Wagen.
Ich lächelte. »Frohe Weihnachten, Baby.«
Der Schnee knirschte unter ihren Reifen, als sie losfuhr, und ich sah ihr nach, bis der Honda um die Ecke verschwand. Dann öffnete ich den Umschlag.
Mädchen.
Ich würde es keiner Menschenseele verraten.