Eines Sonntags Anfang Februar ließen meine Eltern ihre Rituale ausfallen, um mit dem Frühjahrsausmisten weiterzumachen, das sie am Samstag begonnen hatten, obwohl es bis Frühling noch einen ganzen Monat hin war.
Als ich zum Frühstück kam, saß Mom mitten im Inhalt des Garderobenschranks, der im ganzen Wohnzimmer ausgebreitet war.
»Es gibt frischen Kaffee«, sagte sie, als sie mich sah.
»Trinke ich Kaffee?«
»Du bist alt genug.« Sie stellte den Fernseher auf lautlos. »Wie groß bist du jetzt, Joel? Ich will wissen, was ich aussortieren kann.«
»Du kannst davon ausgehen, dass die Ninja-Turtles-Skihose nicht mehr passt«, sagte ich. »Das gilt wahrscheinlich auch für den Rest.«
Ich riss ein Päckchen Zimt-Zucker-Pop-Tarts auf und schob sie in den Toaster.
»Wie bist du nur so schnell so groß geworden?« Mom hielt eine Bart-Simpson-Mütze hoch, die mindestens vier Nummern zu klein war.
»Gute Zeiten rasen.« Ich betrachtete mein Spiegelbild im Toaster. Bei den kurzen Haaren hatte ich immer noch nicht raus, wie viel Gel ich brauchte, um wie Brad Pitt auszusehen. Wenn die Mütze gepasst hätte, hätte ich mir vielleicht Bart Simpson darübergezogen.
Mom kam in die Küche. »Irgendwas, das ich unbedingt aufheben soll, wenn es mir in die Hände fällt?«
»Den Matisse würde ich gern behalten. Den Renoir kannst du verkaufen. Ist nicht sein bestes Werk.«
»Klugscheißer.« Mom grinste und zündete sich eine Zigarette an. »Ich meine es ernst.«
Ich dachte kurz nach. »Wenn du auch mein altes Spielzeug aussortierst, ich würde gern die He-Man-Sachen behalten. Vielleicht sind sie was wert.«
»Sind das die Soldaten?«
»Nein, das ist G. I. Joe. Die He-Man-Figuren sind größer und haben die dickeren Muskeln. Dad weiß Bescheid.«
Sie schrieb die Beschreibung wortwörtlich auf die Rückseite eines alten Kassenbons. »Sonst noch was?«
Mein Frühstück sprang aus dem Toaster. »Ach, ja.« Ich überlegte kurz, wie ich meinen nächsten Wunsch formulieren sollte. »Ich hatte früher so ein Spielzeuggewehr. Schwarz, mit einem gelben Bohrer dran. Ich habe gehört, es ist ein Sammlerstück, deshalb will ich es unbedingt behalten.«
Mom notierte sich die verkürzte Beschreibung. Offenbar war ihr nicht klar, dass ich von meinem Star-Wars-Blaster sprach, den sie mir als Kind verboten hatte. »Was noch?«
»Ach, ich brauche einen Anzug.«
Sie zog an der Zigarette und sah mich an. »Einen Anzug? Meinst du einen deiner alten Jogginganzüge?«
»Nein. Unabhängig vom Aussortieren. Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich einen Anzug brauche. Einen schicken Anzug.«
»Wofür?«
»Für die Hochzeit von Babys Mutter. Ich meine, Nicoles Mutter.«
»Einen Smoking oder so was?«
»Ich glaube nicht. Ich heirate ja nicht selbst. Ich bin bloß Nicoles Begleiter, und da muss ich schick sein.«
»Begleiter?« Mom zog die Brauen hoch.
»Gast«, korrigierte ich mich.
Auf der Kellertreppe kamen Schritte herauf, und mein Vater erschien mit einer Kiste. »Oh, hallo, Joel!« Er wirkte überrascht, mich zu sehen. »Ich dachte, du wärst schon bei der Arbeit.«
»Ich wollte gerade los.«
Seit ich Dad mit der anderen Frau gesehen hatte, war mehr als ein Monat vergangen, und wir schafften es beide, einer Aussprache aus dem Weg zu gehen. Es war wie mit der Post früher in Virginia — seine Affäre war einfach da. Sie zu ignorieren war unsere Art, uns damit auseinanderzusetzen. Seltsamerweise machte es mir nichts aus.
»Joel braucht einen Anzug für eine Hochzeit, bei der er eingeladen ist«, sagte Mom zu Dad, worauf ein seltsamer Dialog zwischen ihnen begann. »Ist das eine Sache, die du gern mit ihm machen willst?«
Er setzte die Kiste ab. »Nicht, wenn du es mit ihm machen willst.«
Mom drückte die Zigarette aus und nahm sich eine neue. »Ich dachte, es ist vielleicht so eine Vater-Sohn-Sache.«
»Ich würde mich freuen.« Dad zögerte, bevor er sagte: »Wenn du einverstanden bist.«
»Wie du willst.«
Ich sah sie beide an. »Warum seid ihr so komisch?«
»Wir sind nicht komisch.« Mom zündete sich die zweite Zigarette an. »Wie wär’s, wenn wir alle zusammen gehen? Dann fühlt sich niemand ausgeschlossen.«
»Klingt gut.« Dad lächelte künstlich.
»Toll! Wir gehen heute Nachmittag. Und anschließend gehen wir essen. Das wird ein besonderer Abend«, beschloss Mom.
»Schön. Ich werde da sein.« Dad nahm seine Kiste und ging raus.
Ich folgte ihm, aber wir sagten nichts mehr.
Es war ein träger, ereignisloser Sonntag im Videoladen, aber ich arbeitete mit Baby, also war ich froh über den Leerlauf.
Nach unserer Nachtschicht neulich hatten wir weitere Geisterfilme gesehen, aber zu Hause bei Baby statt in der Videothek, um keine Sex-Anrufe von Scarlet zu riskieren, wie sie sagte. Nicht, dass ich je wieder mit einem Angebot rechnete. Bei Baby zu Hause war ich gern, vor allem, weil der Kühlschrank voll mit Essen aus dem Headlights war.
Seit Scarlet mich aus der Wohnung geschmissen hatte, hatte ich sie kaum noch gesehen. Ich wusste nicht, wer von uns beiden dem anderen aus dem Weg ging, oder ob wir es beide taten. Wenn sie mit mir redete, dann nur wegen des Dienstplans. Scarlet war nicht unfreundlich zu mir, wenn wir uns sahen, aber sie zog sich zum Beispiel nicht mehr vor meiner Nase um, wie sie es früher getan hatte. Ich wusste, dass diese Scarlet vermutlich besser für mich war (und für sie), daher versuchte ich, es positiv zu sehen.
Baby und ich sahen in dieser Woche Wie verrückt und aus tiefstem Herzen und Ein himmlischer Liebhaber und dann noch Hello again — Zurück aus dem Jenseits mit Diane aus Cheers. Kein Film erinnerte mich an Crystal, aber gleichzeitig erinnerte mich sowieso immer weniger an sie, seien es Filme oder sonst was. Je mehr Zeit ich mit Baby verbrachte, vor der ich meine Vergangenheit nicht verstecken musste, desto weniger dachte ich daran. Und ich will nicht lügen: Es tat gut.
Diesen Sonntag hatten Baby und ich die Aufgabe, für den Valentinstag ein Regal mit romantischen Filmen aus dem ROYO-Video-Sortiment zu bestücken. Baby hatte das letztes Jahr schon gemacht, deshalb sammelte sie die Filme ein, die zum Fest der Verliebten Hochsaison hatten, während ich das Regal mit Papierherzen beklebte.
»Dirty Dancing packe ich nicht dazu«, erklärte Baby, als sie einen Stapel VHS-Schachteln auf die Theke stellte. »Jedes Mal, wenn er beworben wird, steigt die Zahl der Leute, die ›Niemand stellt Baby in die Ecke‹ zu mir sagen, um 500 Prozent.«
»Meinen Segen hast du.«
Sie sortierte eine Reihe romantischer Komödien. »Hey, wen findest du schöner: Meg Ryan oder Julia Roberts?« Sie hielt die Schachteln von Zauberhafte Zeiten und Pretty Woman hoch.
»Julia Roberts.«
»Wirklich? Ich finde Meg Ryan viel hübscher.«
»Ich schätze, wir haben einen unterschiedlichen Frauengeschmack.«
Baby stellte die Schachteln zurück und hielt zwei weitere Meg-Ryan-Filme hoch. »Was ist mit Tom Hanks und Billy Crystal?« Sie wog Schlaflos in Seattle und Harry und Sally miteinander ab. »Wer ist der attraktivere Mann?«
Ich sah sie an. »Ich stehe nicht auf Typen.«
»Na und? Ich bin auch nicht lesbisch, und ich kann dir trotzdem sagen, dass Meg Ryan attraktiver als Julia Roberts ist«, sagte sie.
»Schön für dich. Aber bei mir funktioniert es nicht so.«
»Ich weiß, ich weiß. Dir geht nur einer ab, wenn du Scarlet siehst«, zog sie mich auf.
»Und Julia Roberts.«
»Was glaubst du, woran das liegt?« Sie lehnte sich an die Theke und legte die Hand auf ihren Bauch. »Warum sind wir auf manche Leute scharf und auf andere nicht?«
»Entscheidet das nicht der?« Ich hielt eine Pappfigur von Amor hoch. »Er schießt den Leuten einen Pfeil in den Hintern. Und dann verlieben sie sich.«
Baby ignorierte meinen Kommentar. »Es muss doch eine wissenschaftliche Erklärung dafür geben, oder? Biologie. Chemie. Es ist keine blöde Zauberei wie in Märchen oder in Filmen.« Sie nickte zu dem Display. »Was, glaubst du, ist es, das dich scharf auf Scarlet macht?«
»Im Ernst? Du willst darüber reden, warum ich deine Erzfeindin sexuell attraktiv finde?«
»Wenn ich die Krankheit nicht verstehe, wie soll ich dann ein Heilmittel dafür finden?«, fragte sie halb ernst zurück.
Ich lenkte ein. »Na schön. Mir gefällt ihr Körper. Und ihr Gesicht.«
»Die meisten Mädchen, die ich kenne, haben einen Körper und ein Gesicht«, wandte Baby ein. »Was macht sie so besonders?«
»Ich weiß die Antwort darauf nicht«, lavierte ich. »Vielleicht läuft es auf Instinkt hinaus?«
Baby fuhr sich durchs Haar. »Ich wünschte, wir könnten kontrollieren, zu wem wir uns hingezogen fühlen. Es ist nicht so, dass ich Indiana Jones attraktiv finden wollte.«
»Nein? Warum nicht?« Ich wusste immer noch sehr wenig über ihn.
»Ich würde lieber auf jemanden stehen, der schlau und ambitioniert ist, und Indy war nicht gerade hochbegabt.«
»Warum warst du dann mit ihm zusammen?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Am Anfang hat es Scarlet geärgert, dass er mehr auf mich stand. Sie war es nicht gewohnt, die Nummer zwei zu sein. Sie war zwar mit deinem Cousin zusammen, aber sie hat trotzdem mit jedem, der reinkam, geflirtet, und dass Indy ihr die kalte Schulter gezeigt hat, hat ihr mächtig gestunken.« Baby schwieg, als suchte sie nach den richtigen Worten. »Manchmal denke ich … Ich glaube, ich habe nur deswegen mit ihm geschlafen. Ich glaube, ich habe es nur getan, um Scarlet zu ärgern. Ich wollte etwas haben, was sie nicht haben kann.«
Es hörte sich an wie eine Beichte. »Heißt das, du warst nicht in Indy verliebt?«
»Ich fand es gut, dass er auf mich stand«, gab Baby zu. »Aber er war irgendwie schwer von Begriff. Und total unreif.« Sie seufzte und sah weg. »Jetzt kriege ich ein Kind von ihm, und ich habe eine Riesenangst, dass das Kind so mittelmäßig wird wie sein Vater, und ich bin verantwortlich dafür, was ich der Welt damit antue. Gibt es ein größeres Verbrechen gegen die Menschheit?«
Baby klang nicht, als machte sie Witze, deshalb lachte ich nicht. »Ich glaube, du vergisst, dass das Kind zur Hälfte von dir ist. Also, du weißt schon. Ganz so schlimm kann es nicht werden.«
Baby wandte das Gesicht ab, aber ich spürte, dass sie lächelte. Halbmondförmig.
»Willst du mal was Komisches fühlen?«
Ich zögerte, weil ich in der Psychiatrie mehrfach bereut hatte, die gleiche Frage mit Ja beantwortet zu haben, aber dann sagte ich: »Okay.«
Baby nahm meine Hand und legte sie sich auf den Bauch.
»Halt …«, murmelte sie.
Ich nahm an, sie meinte, ich sollte kurz warten, nicht, dass ich ihren Bauch festhalten sollte oder so was, also stand ich einfach nur da, mit der Hand auf Babys Bauch, während ihre Hand auf meiner ruhte.
Und dann spürte ich es.
»War das ein Tritt?«
»Oder ein Ellbogen. Ich weiß es nie genau.«
Ich war völlig überwältigt. »Es hat Ellbogen?« Ich sah Babys Bauch an, und dann wieder sie. »Es hat da drin Ellbogen?«
»Hoffentlich«, gab Baby zurück. »Ich meine, theoretisch sollte schon alles dran sein. Der Arzt sagt, ab jetzt wird es nur noch dicker.«
Wieder fühlte ich einen kleinen Stoß unter meiner Hand, und meine Augen wurden groß.
»Du meinst, da ist ein vollständiger Mensch in dir drin?«
»Hat dir dein Tutor nie den Film Wunder des Lebens gezeigt?«
»Das gibt’s doch nicht!« Es bewegte sich stärker, und diesmal hatte ich das Gefühl, etwas Großes drückte gegen meine ganze Hand. »Tut es weh, wenn es das macht?«
Sie zuckte die Schultern. »Meistens nicht.«
»Das ist so bizarr. Nicht böse gemeint.«
»Ich glaube, das werde ich vermissen«, sagte Baby. »Wenn es draußen ist, fühle ich mich bestimmt irgendwie einsam.« Sie sah mich an.
»Ich bin ja da«, erklärte ich. »Und wenn es dich tröstet, boxe ich dir auch ab und zu in den Bauch.«
Sie verzog das Gesicht. »Danke.« Baby nahm meine Hand von ihrem Bauch, aber sie ließ sie nicht los.
Ein paar Sekunden vergingen, dann sah sie meine Hand näher an und betrachtete meine Finger. »Mensch, Solo. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du Handmodel sein könntest?«
Ich lächelte. »Ja, das habe ich schon mal gehört.«
Ich hätte mir denken können, dass Mom bei JCPenney nach Anzügen schauen wollte. Sie kaufte sowieso nur bei zwei Läden ein, und der andere war der Farmer-Jack-Supermarkt, wo sie arbeitete. Was man in diesen beiden Läden nicht bekam, existierte für sie nicht.
Mit meinem Vater durchs Kaufhaus zu gehen fühlte sich an, als würden wir an einen Tatort zurückkehren. Wir kamen auf dem Weg zu den Anzügen an der Schmucktheke vorbei und starrten beide auf den Boden.
»Was hältst du von dem grauen?«, fragte meine Mutter, als ich drei Anzüge anprobiert hatte. »Ist der dunkelblaue besser?«
»Ich finde beide gut«, sagte ich. Mir war es echt egal, welchen wir nahmen. Ich wollte nur nicht der Banause sein, der in Kapuzensweatshirt und Jeans bei der Hochzeit auftauchte.
Dad sagte nichts dazu, sondern lief nur nervös um ein Hosenregal herum, als müsste er dringend pinkeln und fände das Klo nicht.
»Craig?«
»Sieht gut aus!«, rief er, ohne richtig hinzusehen.
»Und welche Farbe soll die Krawatte haben?« Mom hielt ein paar an das graue Jackett, das ich noch anhatte. »Welche Farbe hat Nicoles Kleid?«
»Rosa.«
»Na ja, eine rosa Krawatte ziehst du nicht an«, erklärte Mom, als wäre es eine Sünde. »Wie wäre es mit dem grauen Anzug und einer dunkelblauen Krawatte?«
»Von mir aus.« Ich ging in die Umkleidekabine zurück.
Ich brauchte auch Schuhe, die es in einer anderen Abteilung gab. Mein Vater sah sich verlegen bei den Turnschuhen um. Dann gingen wir zum Food-Court.
Wir fanden eine Nische im Raucherbereich. Dad bestellte sich schon bei der Kellnerin ein Bier, noch bevor wir am Tisch saßen, was untypisch für ihn war. Offenbar hatte ihm der Besuch bei JCPenney zugesetzt.
Auf dem Namensschild unserer Kellnerin stand LINDSAY H. und sie trug mindestens zwanzig Buttons an den Hosenträgern mit Sprüchen wie: Free Hugs! und Rettet den Regenwald! und Selber! Sie brachte Dad das Bier und nahm unsere Bestellung auf.
Als sie wieder weg war, trank meine Mutter einen Schluck Wasser und zog den Aschenbecher näher zu sich heran. »Hast du bald einen Arzttermin, Joel?«
»In ein paar Wochen schauen sie noch mal wegen der Anämie nach.«
Mom lächelte, als ich das Codewort benutzte. »Gut.«
»Wie läuft es so bei dir?« Seit wir das Haus verlassen hatten, sprach mich Dad zum ersten Mal an.
Ich zog das Papier von meinem Strohhalm und machte einen Knoten hinein. »Ehrlich gesagt geht es mir so gut wie seit …« Ich ließ eine Pause. »Seit Virginia nicht mehr, schätze ich.«
Mom und Dad wirkten beide sehr erleichtert.
»Wir haben uns schon gedacht, dass du glücklicher wirkst«, sagte Dad. »Das Leben eines arbeitenden Menschen bekommt dir.«
»Danke.«
Meine Mutter warf einen entschlossenen Blick in die Runde, und dann ergriff sie das Wort: »Da ist etwas, was Dad und ich besprochen haben, und weil es dir jetzt so gut geht, finden wir, dass wir dich einweihen sollten.« Sie zündete sich eine Zigarette an und sah zu Dad.
»Okay …«, sagte ich langsam. »Was ist los?«
Dad holte Luft und sah sein Bier an. »Also, deine Mutter und ich dachten, dass wir eine kleine Pause einlegen. Wir haben beide ein paar Sachen für uns zu klären. Erwachsenensachen, Ehesachen. Wir glauben, ein bisschen räumlicher Abstand tut uns gut.«
Ich war völlig überrumpelt. »Was heißt das?«
Dad rutschte auf seinem Stuhl herum. »Na ja, du weißt schon … Es heißt, wir trennen uns.«
»Warum? Was ist passiert?« Ich sah Dad an, aber er wich meinem Blick aus. Hatte Mom ihn erwischt?
Meine Mutter fing die Frage mit einer Nicht-Antwort ab. »Es steht schon lange im Raum, Joel.«
Ich war völlig verwirrt. Ich hatte nicht gemerkt, dass irgendwas im Raum stand. Für mich kam es so plötzlich wie eine Autopanne. »Wir lange soll diese Trennung dauern? Eine Woche? Zwei Wochen?«
»Es ist langfristig, Joel.« Endlich sah mir Dad in die Augen. »Zuerst zieht Mom zu Tante Denise und Onkel Jim. Dann, wenn ich meine eigene Wohnung habe, kommt sie wieder nach Hause.«
»Ihr meint, ihr trennt euch richtig? Ihr lasst euch scheiden?«
Mom seufzte. »Es geht in die Richtung, ja. Aber wir bleiben Freunde, Joel. Für dich wird sich gar nicht viel ändern. Deswegen haben wir so lange gewartet, bis wir es dir gesagt haben. Wir wollten dich erst einweihen, wenn du auf festen Füßen stehst.«
Ich sah sie an wie vom Donner gerührt. »Wie lange genau habt ihr gewartet? Wie lange wisst ihr schon, dass ihr euch trennt?«
Meine Eltern tauschten einen schuldbewussten Blick, bevor Dad antwortete. »Ehrlich gesagt haben wir es schon vor langer Zeit entschieden. Ich bin nur statt auszuziehen ins Gästezimmer gezogen. Wir wollten alles so normal wie möglich für dich machen, bis wir das Gefühl hatten, dass du mit der Veränderung zurechtkommst.«
»Normal?«, schrie ich praktisch. »Was ist daran normal, wenn Eltern ihren Kindern nicht sagen, dass sie sich trennen? Wie lange läuft das schon?«
Sie wichen meinem Blick aus.
»Seit drei Jahren«, sagte Mom.
»Was?« Ich war so weit jenseits von vom Donner gerührt, dass der Donner hundert Jahre gebraucht hätte, um mich zu erreichen. »Ihr habt euch vor drei Jahren getrennt und es mir nicht gesagt?«
Lindsay H. spürte, dass sie störte, und stellte Moms Kaffee und meine Cherry Coke wortlos auf den Tisch.
»Wir haben es wirklich versucht, Joel«, sagte Dad, als sie wieder weg war. »Und es war uns beiden wichtig, nichts offiziell zu machen, solange du in der Krise warst.«
»Oh. Wie rücksichtsvoll von euch. Das rechtfertigt natürlich, mich drei Jahre lang anzulügen. Danke, dass ihr an meine Gefühle gedacht habt.«
Dad seufzte. »Es ist nicht gelogen, wenn ich sage, dass ich deine Mutter liebe, Joel. Ich werde sie immer lieben. Und dich auch. Wir werden dich immer genauso lieben, wie wir dich immer geliebt haben.«
»Wir haben so lange durchgehalten, wie es ging, Joel«, mischte sich meine Mutter ein.
»Die Chancen standen schlecht. Statistisch gesehen haben wir länger durchgehalten als die meisten Paare, die erleben, was wir erlebt haben«, sagte Dad.
»Ach, okay. Es ist also meine Schuld?«, sprach ich aus, was er nicht aussprach. Das war genug. Am liebsten hätte ich ein paar entflammbare Spraydosen auf den Herd geworfen und das verdammte Restaurant bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Dad schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Joel. Es hat nichts mit dir zu tun. Du bist an überhaupt nichts schuld. Die absolute Mehrheit der Ehen übersteht es nicht, wenn so etwas wie das Schlimme passiert. Irgendwann mussten wir uns eingestehen, dass unsere Ehe es auch nicht überstanden hat.«
»Irgendwann vor drei Jahren, meinst du.«
Mom drückte die Zigarette aus und schürzte die Lippen. »Kannst du uns wirklich vorwerfen, dass wir dich nicht eingeweiht haben, Joel? Du sagst selber, es geht dir so gut wie seit Jahren nicht, und trotzdem fällst du aus allen Wolken.«
Ich starrte sie verblüfft an. Meine Mutter hatte mich wegen einer fundamental wichtigen Sache mehr als tausend Tage lang angelogen (und als sie mich einzuweihen gedachte, suchte sie sich den verdammten Foud-Court im Einkaufszentrum dafür aus), und sie wunderte sich, dass ich aus allen Wolken fiel?
»Maureen, lass den Jungen die Sache doch erst mal verdauen, verflixt noch mal«, sagte Dad. »Er hat das Recht, sauer zu sein. Ich an seiner Stelle wäre auch sauer. Wir hätten es ihm sagen müssen.«
Jetzt richtete Mom ihre Feindseligkeit gegen Dad. »Das hatten wir auch vor, schon vergessen? Aber dann hat seine Anstaltsfreundin Spüli getrunken und wäre fast gestorben! Und so, wie er darauf reagiert hat, wollte keiner von uns ihm noch mehr schlechte Nachrichten aufhalsen. Das war nicht bloß ich!«
»Es war Meister Proper, und sie war nicht meine verdammte Freundin!«, schrie ich, weil, wenn dir schon jemand die Highlights deiner Anstaltskarriere aufs Brot schmiert, sollten wenigstens die Reinigungsmittel stimmen.
»Nicht so laut!«, zischte meine Mutter.
Eine bleierne Stille folgte.
»Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe, Joel«, sagte Dad schließlich. »Ich fand es schrecklich, Geheimnisse vor dir zu haben. Ich wusste einfach nicht, ob du es verkraften kannst.« Seine Stimme brach. »Ich wollte dir nicht wehtun.«
Angesichts meiner (begründeten) Stinkwut überraschte mich, dass Dads Entschuldigung eine Wirkung hatte, aber die hatte sie. Ich meine, ich war zwar immer noch wütend — die Wunde war noch zu frisch —, aber wenigstens reichte Dad mir ein Pflaster.
Mein Leben lang, wenn ich wegen Sachen, die meine Eltern mir antaten, wütend war — Männlichkeitskurse, Aufenthalte in der Psychiatrie usw. —, hatten sie mich irgendwie überzeugt, dass ich ihnen keine Wahl ließ. Die Beweislast lag immer bei mir, und weil sie sowohl Richter als auch Jury waren, kam ich nie durch.
Doch gerade hatte mein Vater etwas getan, was keiner von ihnen je getan hatte. Er hatte einen Fehler zugegeben. Und dadurch fiel es mir leichter zuzuhören, was er noch zu sagen hatte.
Mom spürte wohl, dass mein Vater einen Zugang zu mir gefunden hatte, und offenbar passte es ihr nicht. Ein anderer Grund für das, was sie als Nächstes sagte, fiel mir nicht ein.
»Tut es dir auch leid, dass du eine Frau bei der Arbeit vögelst? Denn wenn du hier gerade Entschuldigungen verteilst, würde ich auch eine nehmen.«
Mein Blick sprang zwischen meinen Eltern hin und her.
Dad biss die Zähne zusammen. »Wir waren uns einig, dass das hier nicht die Zeit und der Ort sind, um darüber zu sprechen«, flüsterte er.
»Tja, da du anscheinend so bereust, deinem Sohn nicht die Wahrheit gesagt zu haben, dachte ich, du hast deine Meinung vielleicht geändert.«
»Du und ich führen seit Jahren getrennte Leben, Maureen«, sagte Dad … zur Entschuldigung? Begründung? Erklärung? Rechtfertigung? Ich weiß nicht, wie es gemeint war, aber da ich von der Affäre bereits wusste, war die einzige Überraschung für mich, dass auch Mom Bescheid wusste.
»Ich bin immer noch deine Frau«, war ihr Trumpf. »Es ist immer noch Untreue.«
Dad sagte nichts, aber er ließ die Schultern hängen und sah aus wie ein Häufchen Elend.
Mom verschränkte die Arme und lächelte triumphierend. Sie kämpfte immer mit harten Bandagen, und Dad gab immer schnell klein bei. Aber diesmal hatte meine Mutter ihre Waffen gegen mich abgefeuert, um meinem Vater eins reinzudrücken. Denn sie konnte nicht wissen, dass ich von der Affäre wusste. Offenbar wollte sie, dass ich noch einmal aus allen Wolken fiel, aber nur, damit sie Dad dafür die Schuld in die Schuhe schieben konnte.
Doch diese Genugtuung gönnte ich ihr nicht. »Ich will bei Dad leben«, sagte ich stattdessen.
Dad riss verblüfft den Kopf hoch. Mom wirkte tief getroffen. Und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich in diesem Moment siegreich.
Dann kam Lindsay H. und stellte zur Vorspeise einen Korb Kartoffelschalenchips mit vier Tellern auf den Tisch. Offenbar hatte sie sich verzählt, auch wenn ich nicht wusste, wie das gehen sollte. Jeder sah, dass die Teagues nur drei waren. So war es schon seit langer Zeit.