Ich schlief in dieser Nacht zwar nicht sechzehn Stunden, aber wenigstens acht, bis meine Mutter, die offenbar wieder zu Hause war, direkt vor meiner Tür die Treppe saugte und mich damit weckte.
»Du verschläfst hier nicht den ganzen Tag«, begrüßte sie mich, als ich die Tür aufmachte. »Es gibt jede Menge zu tun.« Sie machte sich nicht die Mühe, beim Sprechen den Staubsauger abzustellen oder die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Passiv-aggressiv war eine Sprache, die ich beherrschte, weil ich mit ihr aufgewachsen war, und deshalb wusste ich, dass sie immer noch sauer war.
Ich wies sie nicht darauf hin, dass sieben Uhr wohl kaum »den ganzen Tag« war, und sagte auch nicht, dass sie gerade Asche auf dem frisch gesaugten Teppich verteilte, oder erwähnte, dass sie noch nie so früh am Morgen gestaubsaugt hatte, und warum sagte sie nicht einfach, warum sie sauer war, statt wegen anderer Sachen rumzumeckern? Stattdessen ging ich duschen und zog mich an und hoffte, dass sie, wenn ich runterkam, schon bei der Arbeit war.
Leider hatte ich kein Glück, denn wie sich herausstellte, hatte sich Mom die ganze Woche freigenommen, um »ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen«, bevor sie und Dad sich am Freitag mit den Anwälten trafen. Anscheinend bestand jetzt, da die Bombe geplatzt war, kein Grund mehr, die Sache künstlich in die Länge zu ziehen.
»Freitag ist Valentinstag«, sagte meine Mutter, als ich frühstückte. »Wahrscheinlich verlangt der Anwalt einen Feiertagszuschlag.«
Wahrscheinlich wollte sie witzig sein. Als ich nicht lachte, räumte sie meinen Teller weg (obwohl ich noch nicht fertig war) und verdonnerte mich dazu, ihren Setzkasten zu putzen. Ich verkniff mir das, was mir auf der Zunge lag, und murmelte: »Ja, Ma’am.«
Das mit dem Setzkasten sollte wahrscheinlich eine Strafe sein — Mom besaß Dutzende von Porzellanfigürchen, und sie bestand darauf, dass sie mit einer Zahnbürste und Pine-Sol gereinigt wurden, weil sie den Piniengeruch liebte. Doch insgeheim war ich froh über die Aufgabe, weil ich nicht in der Videothek arbeiten musste und sonst nichts zu tun hatte, außer neben dem Telefon zu warten, dass Baby anrief.
Moms Witz über den Valentinstag erinnerte mich daran, dass am Freitag Kats und Bobs Hochzeit stattfand. Ich hatte also nur drei Tage Zeit, um mich mit Baby zu vertragen, und ich war mir nicht sicher, ob die Zeit reichte, um meine Schuld abzubüßen.
Obwohl ich nur acht Stunden geschlafen hatte, sah ich die gestrigen Ereignisse heute etwas nüchterner. Leider änderte das nichts an meinem schlechten Gewissen.
Ganz ehrlich, wäre ich in die Videothek spaziert und von Baby rücklings abgeknutscht worden, wäre ich auch erschrocken, und wahrscheinlich böse, wenn ich gecheckt hätte, dass ihr Motiv reine Feigheit war, was, wenn ich ehrlich bin, bei mir der Fall war.
Und an Mavericks Stelle würde ich mich abgrundtief hassen. Im Ernst, wenn ich in jemanden verknallt wäre, und der knutscht vor meinen Augen jemand anderen ab, nur um mir zu zeigen, dass er meine Gefühle nicht erwidert, würde ich den Typ für ein echtes Arschloch halten. Und das zu Recht.
Andererseits, falls man irgendwas zu meiner Verteidigung sagen kann (ich bin mir nicht sicher), dann erinnert euch, dass meine Vergangenheit durch die Homophobie meiner Mutter extrem vorbelastet war. Ich hatte mein Leben unter Homophoben verbracht, und wie ihr wisst, hatte ich darunter gelitten. Ich hoffe, ihr erkennt das an und gebt mir wenigstens die Chance, mich zu rehabilitieren.
Ich dachte über meine Buße nach, als Mom vorbeikam, um meinen Fortschritt zu kontrollieren.
»Wie läuft’s?«, fragte sie. Ich war grade mit zwei Reihen Bauernhoftieren in Latzhosen mit Glasglöckchen fertig, die Mom in den sechzehn Staaten gekauft hatte, die sie besucht hatte.
»Gut. Auch wenn sie nicht sehr staubig waren und du wahrscheinlich keinen Unterschied merkst.«
»Mach trotzdem weiter«, ordnete sie an. »Das Haus muss spiegelblank sein, wenn der Makler kommt.«
»Der Makler?«
Sie zündete sich eine Zigarette an. »Wir müssen den Wert des Hauses schätzen lassen. Das ist eine wichtige Information, falls wir uns zum Verkauf entschließen.« Mom setzte sich an den Tisch.
Ich hatte gerade eine neue Reihe angefangen — diesmal waren es Engel, jeder mit einem Monatsnamen und einem inspirierenden Bibelvers beschriftet. Als ich bei März war, redete sie weiter.
»Wir hatten eigentlich beschlossen, dass du bei mir bleibst, Joel, verstehst du?«
Ich vermied ihren Blick. »Wir haben überhaupt nichts beschlossen.«
Mom schürzte die Lippen. »Ich kann es nicht fassen, dass du dich auf die Seite deines Vaters stellst. Er ist der, der eine Geliebte hat. Ich habe deinem Vater die besten Jahre meines Lebens geschenkt, und er dankt es mir, indem er mich betrügt und mir meinen Sohn wegnimmt.«
Ich ignorierte ihr Selbstmitleid. »Ich dachte, dass ihr euch trennt, ist eure gemeinsame Entscheidung gewesen. Oder hast du die Einzelheiten vergessen, weil es schon so lange her ist?«
Sie blies den Rauch durch die Nase aus. »Wenn du bei deinem Vater leben möchtest, nur um mir wehzutun, mach das. Aber wenn du dir einbildest, er macht es dir leichter als ich, hast du dich geirrt. Dein Dad und ich haben die gleichen Werte.«
»Wovon redest du?«
»Du kommst nicht damit durch, egal bei wem von uns du lebst. Über gewisse Dinge waren wir uns immer einig. Und das ändert sich auch nicht, wenn wir uns trennen.«
Sie redete um den heißen Brei, und ich stand völlig auf dem Schlauch. »Okay …«
Mom zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher. »Ich weiß, du hältst mich für blöd, Joel. Aber vertrau mir, ich bin nicht blöd. Ich weiß alles, was unter diesem Dach vor sich geht.«
Ich stellte den Engel hin, den ich gerade geputzt hatte, und sah sie immer noch verständnislos an. »Mir ist sehr bewusst, dass du alles mitkriegst, Mom. Im Gegensatz zu mir, der nicht mal mitgekriegt hat, dass du und Dad seit drei Jahren eure Ehe vortäuscht, bist du ein wahrer Sherlock Holmes.« Inzwischen ließ ich das Passive fallen, und das Aggressive trat hervor.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Tja, dann wird es dich nicht überraschen, dass ich dein hübsches Bild gefunden habe. Das Bild, das du hinter der Badenixe versteckt hast, wo du dir eingebildet hast, ich würde es nicht finden.« Sie klang, als wäre ich fünf und hätte kindischerweise den Brokkoli unter der Serviette versteckt und gedacht, es würde keiner merken.
Ich zuckte zusammen, doch ich beherrschte mich; ich wollte nicht, dass sie sah, wie wütend ich war. »Wie kommst du darauf, dass ich es versteckt habe? Vielleicht brauchte ich nur einen Rahmen für ein sexy Mädchen. Schon mal darüber nachgedacht?«
Sie lachte schnaubend. »Wann hast du dir je das Foto eines Mädchens ins Zimmer gehängt? Ich musste nur den Rahmen sehen, und mir war klar, dass was dahintersteckte, was ich nicht sehen sollte.«
»Und da hast du natürlich nachgesehen.« Ich gab die Ausreden auf, weil sie mich sowieso durchschaut hatte. »Weil ich offensichtlich kein Recht auf Privatsphäre habe.«
»Ich lag richtig, oder?«
Ich seufzte. »Na und? Ich habe eine Star-Wars-Zeichnung. Ich wette, eine Million Eltern wären überglücklich, wenn das das Schlimmste wäre, was sie bei ihren Teenagern im Zimmer finden.«
»Tun wir nicht so, als wäre das das Schlimmste, was ich je bei dir gefunden habe«, konterte Mom. »Die Tatsache, dass du Sachen versteckst, lässt bei mir die Alarmglocken schrillen. Und dann noch etwas, von dem du genau weißt, dass es bei uns verboten ist.«
Ich stöhnte innerlich. »Nur damit ich dich richtig verstehe. Ich hätte wissen müssen, dass eine Zeichnung meiner Kollegen als Star-Wars-Figuren bei uns ›verboten‹ ist?«
Mom sah mich wütend an. »Sonst hättest du sie wohl nicht versteckt.«
»Na schön«, sagte ich und griff nach dem April-Engel. »Ich hätte die Zeichnung anzünden sollen, als ich sie geschenkt bekommen habe, und hätte die Flammen mit Weihwasser löschen sollen. Ist es jetzt gut?«
»Nein, ist es nicht«, entgegnete meine Mutter. »Nicht, bis du mir gesagt hast, warum du wieder Sachen vor mir versteckst.«
»Ich verstecke gar nichts!«, schrie ich. »Ich wollte nur nicht, dass du das Bild siehst.«
»Warum nicht?«, wollte sie wissen.
»Weil du Star Wars hasst«, antwortete ich.
»Hat das schwangere Mädchen dir die Zeichnung geschenkt?« Meine Mutter drehte sich im Kreis. »Hast du sie deswegen versteckt? Weil du denkst, ich heiße deine Freundschaft mit einem lockeren Mädchen nicht gut? Aber so voreingenommen bin ich nicht, Joel.«
Ihr letzter Satz war witziger als all ihre Versuche, Witze zu machen, nur dass sie ihn vollkommen ernst meinte. Aber ich sagte nur: »Sie hat einen Namen.« Allerdings brauchte ich eine Sekunde, bis er mir wieder einfiel. »Und nein, ich habe die Zeichnung nicht von Nicole.«
»Von wem dann?«, wollte sie wissen.
Ich überlegte, welchen Sinn es hätte, ihre Frage zu beantworten. Moms eigentliches Problem mit dem Bild war das Star-Wars-Motiv; aus irgendeinem Grund war das allein schon ein Schwerverbrechen. Sie wusste nichts von Maverick, oder warum er sich solche Mühe für mich gegeben hatte, oder dass er der eigentliche Grund war, warum ich nicht wollte, dass sie das Bild sah.
Was ich damit sagen will, ist: Ich hätte schwindeln können. Ich hätte einfach sagen können, Poppins hätte es gemalt. Dass sie in mich verknallt wäre und dachte, ich würde auf Star Wars stehen, weil ich bei der Arbeit Solo hieß. Ich hätte meiner Mutter sagen können, ich hatte das Bild angenommen, weil ich Poppins’ Gefühle nicht verletzen wollte, und ich hatte es vor Mom versteckt, weil ich Moms Gefühle nicht verletzten wollte. Und dann hätte ich noch eins draufsetzen können, indem ich sagte, Poppins würde mir auch was bedeuten, aber ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte, weil ich seit Valerie ein gebranntes Kind war. All das hätte ich ihr erzählen und ausschmücken können, und Mom hätte keinen Schimmer gehabt, was wirklich dahintersteckte, weil es eine wasserdichte Lüge gewesen wäre. Und da diese Lüge zu einer für meine Mutter akzeptablen Version meines Lebens passte, hätte es wahrscheinlich keine weiteren Diskussionen über das Bild gegeben. Natürlich hätte Mom sich nicht dafür entschuldigt, dass sie bei mir herumgeschnüffelt hatte, aber wenigstens hätte das Märchen diese Unterhaltung beendet und mir keinen Ärger mehr eingebracht.
Ich hatte aber keine Lust zu lügen.
Ich würde gern behaupten, ich wollte nicht lügen, weil ich Lügen für falsch hielt, aber ich will euch nichts vormachen. Der wahre Grund, warum ich meiner Mutter die Wahrheit erzählen wollte, war, dass sie komplett ausrasten würde, und in diesem Moment wollte ich ihr wehtun.
Es klingt vielleicht schlimm, so was über seine eigene Mutter zu sagen, aber es ist wahr, also sage ich es. Ich hasste sie für alles, was sie mir in den letzten neun Jahren angetan hatte. Und deshalb war ich von reiner Bosheit motiviert, als ich sagte, was ich als Nächstes sagte. Dass es außerdem die Wahrheit war, spielte nur eine Nebenrolle.
»Ein Typ aus der Videothek hat es für mich gemalt. Er ist schwul, und er ist in mich verknallt. Das Bild ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«
Mom starrte mich sprachlos an, deshalb redete ich weiter.
»Ich meine, erst wusste ich nicht, dass er schwul ist. Aber gestern hat er mich irgendwie angemacht, und jetzt bin ich mir sicher.« Ich polierte den Engel fertig, dann stellte ich ihn hin. »Er sieht aus wie ein J.-Crew-Model.«
Ich sah zu, wie sich das Gesicht meiner Mutter zu allen möglichen Grimassen verzog, und fragte mich, ob ich an dem Abend, als ich Baby von Crystal erzählt hatte, auch so ausgesehen hatte. All die Zeit war meine Mutter paranoid gewesen, dass ich schwul sein könnte, was aus irgendeinem Grund ihre größte Angst war. Obwohl ich es nicht war, ließ ich die Information erst einmal sacken und gönnte ihr die verdrehte Genugtuung, dass sie mit dem Verdacht, der sie so quälte, die ganze Zeit recht gehabt hatte.
Aber ich hatte das dritte Newtonsche Gesetz vergessen (das ich gerade in Physik gelernt hatte), nämlich, dass auf jede Aktion eine gleich große, entgegengerichtete Reaktion folgt.
Und die gleich große, entgegengerichtete Reaktion meiner Mutter war: »Das war’s mit der Videothek. Keine zwei Wochen Kündigungsfrist. Du gehst nicht mehr hin. Damit ist Schluss.«
»Was?«, schrie ich. »Das kannst du nicht machen!«
Sie hielt die Hand hoch, um mich zum Schweigen zu bringen. »Du wirst diesen Jungen nie wiedersehen.« Sie zündete sich noch eine Zigarette an. »Hast du mich verstanden?«
»Nein, ich habe dich nicht verstanden! Ich habe dich noch nie verstanden!« Ich verlor die Fassung. »Ich lasse nicht zu, dass du mir meinen Job wegnimmst, Mom! Ich bin kein Kind, und das ist kein Spielzeug! Das ist mein Job!«
»Du bist noch nicht achtzehn, Mister. Das hast du nicht zu entscheiden!« Sie stürmte zum Telefon. »Ich rufe jetzt deinen Vater an. Er ist auf meiner Seite.«
Als sie zu wählen begann, setzte nun wieder bei mir die gleich große, entgegengerichtete Reaktion ein, und die bestand darin, dass ich Moms Porzellanengel mit voller Wucht an die Wand schleuderte.
»Ich!« (Mai.) »Werde!« (Juni.) »Meinen!« (Juli.) »Job!« (August.) »Nicht!« (September.) »Kündigen!« (Oktober.)
Bei jedem Aufprall zuckte sie zusammen, und als die Engel in Scherben zersprangen, hinterließen sie tiefe Kerben in der Wand, die dem Makler garantiert nicht entgehen würden.
»Und ob«, knurrte Mom und riss den Hörer von der Gabel. »Weil du wieder in die Klinik wanderst! Du hast offensichtlich den Verstand verloren, Joel! Und ich mache das nicht noch einmal mit!«
In einem Punkt hatte sie recht. Ich verlor tatsächlich den Verstand. Ich verlor den Verstand, weil sie ihn mir raubte.
In den letzten neun Jahren hatte ich alles dafür getan, ein ganz NORMALER Junge zu werden, und ich hatte es endlich geschafft. Oder ich war nach dem ganzen Mist, den ich hinter mir hatte, wenigstens verdammt nah dran. Und das würde ich mir nicht kampflos nehmen lassen.
Falls ich unterging, würde ich sie mitnehmen.
Ich stampfte auf meine Mutter zu, bis ich ihren Rauch einatmete. »Ich gehe nicht wieder in die Klinik.« Meine Stimme war ruhig, aber fest. »Und wenn du versuchst, mich einliefern zu lassen, bringe ich mich um.«
Das war die Atombombe. Der Todesstern, wenn ihr so wollt. Ich hatte es immer gewusst, aber weil ich meiner Mutter nie so wehtun wollte, wie es diese Worte taten, hatte ich sie nie ausgesprochen. Aber sie ließ mir keine Wahl.
Wir standen Auge in Auge da. Ich hatte sie schwer getroffen, und ich wartete, dass sie zu bluten anfing.
Sekunden später brach sie in Tränen aus. »Bitte, Joel! Bitte nicht!«, schluchzte sie. »Bitte nicht! Ich tue alles! Lass uns bitte Hilfe holen.«
Ich stand über ihr, als sie weinte, und spürte, wie abwechselnd Wellen der Schuldgefühle und der Entschlossenheit über mich hinwegspülten. »Du bist die, die Hilfe braucht, Mom.«
Und dann ging ich.