Poppins und der Pate übernahmen die Abendschicht, und keine von beiden fragte, warum ich in der Videothek herumhing, obwohl ich keinen Dienst hatte. Poppins war zu sehr damit beschäftigt, von ihrem Valentinstag-Date zu schwärmen, das sie am Freitag nach der Arbeit hatte (er hieß Jeremy und fuhr einen Camaro und er spielte — seufz! — in einer Band), während der Pate im obligatorischen Schwarz durchs Fenster den fallenden Schnee beobachtete.
Da ich nirgends sonst hinkonnte, versuchte ich mich zu beschäftigen, selbst wenn ich nicht dafür bezahlt wurde. Irgendwie musste ich die Zeit rumbringen, bis ich wieder zu Baby fahren konnte (diesmal würde ich ein Taxi nehmen), um sie auf Händen und Knien um Vergebung anzuflehen. Angenommen, wir vertrugen uns wieder — und dahinter stand ein fettes Fragezeichen —, würden wir gemeinsam überlegen, wie ich meinen Job behalten und die Klinik vermeiden konnte, während wir außerdem die Sache mit Maverick ins Reine brachten. Wenn man den letzten fünf Minuten jeder beliebigen Privatsender-Sitcom glaubte, ließen sich solche Konflikte leicht lösen, indem man einen guten Witz machte, in eine schlechte Verkleidung schlüpfte und/oder Umarmungen verteilte (ich war zu allem bereit), weil alles möglich ist, wenn zwei beste Freunde die Köpfe zusammenstecken.
Das Problem war: Immer wenn ich kurz davor war, zu ihr zu fahren, ließ ich mich von irgendeinem Filmplakat ablenken, das ausgetauscht werden musste, oder ein paar neuen Mitgliedschaftsformularen, die abzuheften waren (im Klartext: ich drückte mich), und dann musste ich mich jedes Mal von Neuem überzeugen, dass es eine gute Idee wäre, jemanden zu belagern, der mir mit aller Macht aus dem Weg ging.
Gegen Abend herrschte Hochbetrieb, und ich stand an der Kasse, solange die anderen Pause hatten. Der Trubel legte sich erst um neun, was bedeutete, jetzt oder nie, wenn ich zu Baby wollte.
Ich ging mit den Gelben Seiten und dem schnurlosen Telefon in den Pausenraum, um mir ein Taxi zu rufen, als ich aus dem Laden eine vertraute (aber völlig aus dem Zusammenhang gerissene) Stimme hörte.
»Ich habe vergessen, wie ihr ihn hier nennt«, sagte die Stimme. »Irgendwas aus Star Wars. Ich muss wissen, ob ihr ihn heute gesehen habt …«
War das … Dad?
Verdammt. Ich hätte wissen müssen, dass Mom ihn als Ein-Mann-Suchtrupp losschicken würde. Ich hätte ihn im Büro angerufen, wenn ich eine Chance gesehen hätte, dass Mom ihn nicht längst von meiner Unzurechnungsfähigkeit überzeugt hatte (sodass ich nicht mehr glaubwürdig war). Jetzt war es zu spät. Er war hier und würde bei seinem allerersten Besuch in der Videothek meine Tarnung als NORMALER Mensch auffliegen lassen.
Ich stürzte nach vorn in den Laden und sah, wie mein Vater mit einem Foto von mir herumwedelte, das er im Portemonnaie hatte. »Er ist seit heute Morgen verschwunden«, sagte er zu meinen verwirrten Mitarbeiterinnen. »Hatte er heute Dienst? War er hier?«
»Ich bin nicht verschwunden«, sagte ich, als ich aus dem Flur kam. »Ich bin hier.«
Er drehte sich um, und als er mich sah, seufzte er so laut, als hätte er stundenlang den Atem angehalten. »Gott sei Dank«, sagte er und wiederholte es noch zwölfmal, während er mich in einer linkischen Umarmung zusammendrückte, bis ich keine Luft mehr bekam.
»Ich kriege keine Luft mehr«, ächzte ich. Dad war weder groß noch stark, aber in dem Moment hatte ich das Gefühl, er würde mich zermalmen.
»Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren!« Seine Stimme zitterte, als er den eisernen Griff lockerte.
»Jetzt hast du mich gefunden«, erinnerte ich ihn und holte tief Luft.
Poppins und der Pate suchten meinen Blick. Poppins sah besorgt aus, der Pate misstrauisch.
»Kennst du diesen Mann, Solo?«, fragte der Pate leise, während ihre Hand in ihre Handtasche glitt. »Soll ich ihn unschädlich machen?«
So neugierig ich war, was sie damit meinte, versicherte ich meinen Kolleginnen, dass alles gut war. Dann zog ich Dad in die Ecke des Ladens zu den staubigen Klassikern, die keiner wollte, und fing sofort mit den Entschuldigungen an.
»Es tut mir wirklich leid, Dad. Ich wollte dir keine Angst machen. Ich hatte nur einen Riesenstreit mit Mom, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.« Zur Sicherheit sagte ich: »Ich hatte gerade das Telefon in der Hand, um dich anzurufen«, was gelogen war.
Der Ausdruck meines Vaters war irgendwo zwischen wütend und erleichtert. »Was zum Teufel ist heute Morgen passiert?«, fragte er mit fester Stimme, während er mir liebevoll den Nacken streichelte. »Deine Mutter war vollkommen außer sich, als sie anrief!«
Ich erklärte ihm meine Seite der Geschichte möglichst schnell und leise, damit es keiner mitbekam, und versuchte dabei, das mit der Selbstmorddrohung herunterzuspielen. »Ich habe das nur gesagt, um ihr wehzutun, Dad, und ich weiß, dass es total falsch von mir war. Es tut mir wirklich leid. Ich würde so was niemals tun. Das schwöre ich.«
Mein Vater sah aus, als würde er mir gern glauben, aber nach dem Schlimmen, das passiert war, konnte ich sein Zögern verstehen. Doch er hörte mir zu, und wenn man in meinen Schuhen steckt, ist man schon froh, wenn man aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird.
»Es war also dieses Bild, mit dem alles angefangen hat?«, stellte Dad klar, als ich fertig war. »Deine Mutter wollte dich einweisen lassen, weil dir jemand ein Bild gemalt hat?«
»Mehr oder weniger«, sagte ich. Dann fügte ich hinzu: »Und weil ich es versteckt habe«, was Mom gegenüber fairer schien, obwohl sie wahrscheinlich genauso ausgerastet wäre, hätte ich es ihr gleich gezeigt.
Dad rieb sich seufzend das Kinn. »Verdammt, Maureen.« Er sah mich lange an (was sich komisch anfühlte, aber ich hielt es aus), bevor er fragte: »Joel, kommst du mal kurz mit raus zum Wagen?«
Weil sein Verdammt gegen meine Mutter gerichtet war und nicht gegen mich, hoffte ich, dass es sich nicht um eine Falle handelte, als ich ihm folgte.
Im Wagen war es noch warm, als ich die Beifahrertür öffnete. Er stieg auf der Fahrerseite ein und räumte mir Platz zwischen den Kisten frei, die er aus dem Haus geräumt hatte.
»Ich bereue vieles in meinem Leben, Joel«, begann er, als er bereit war. »Wahrscheinlich geht es allen Männern in meinem Alter so, aber nach dem, was unsere Familie mitgemacht hat, wage ich zu behaupten, ich bereue mehr als der Durchschnittstyp. Doch ich kann nichts tun, um etwas daran zu ändern. Das Einzige, was ich tun kann, ist, mir alle Mühe zu geben, meine Fehler nicht zu wiederholen.« Er knipste das Licht an, suchte nach einem bestimmten Karton und stellte ihn mir auf den Schoß. »Hier. Mach ihn auf.«
Als ich den Deckel öffnete, klappte mir die Kinnlade herunter. Oben auf meinen He-Man-Figuren lag mein original Star-Wars-Han-Solo-Blaster mit der Bohrspirale in all seiner schwarz-gelben Plastikpracht.
»Mensch, Dad!«, rief ich glücklich. »Unglaublich! Du hast ihn wiedergefunden!«
»Ich habe ihn nicht wiedergefunden«, entgegnete er. »Ich wusste die ganze Zeit, wo er war.«
Ich nahm den Blaster aus der Kiste und drückte den Plastikauslöser. Die Spirale ruckelte ein bisschen, aber sie bewegte sich noch. Meine Hände waren viel größer als beim letzten Mal, als ich ihn gehalten hatte, und der Blaster fühlte sich leichter als früher an. Doch das vertraute Gefühl löste immer noch eine Flut von Erinnerungen aus, und ich sah verschwommen. »Ich dachte, Mom hätte ihn weggeworfen.«
»Das denkt sie auch, aber ich habe ihn gerettet«, erklärte Dad. »Ich habe auch vieles anderes gerettet, das sie wegwerfen wollte.« Er zeigte auf eine andere Kiste, auf der CRAIGS AUTOHEFTE stand. Dad sah mich an. »Ich habe nie Autozeitschriften gesammelt«, sagte er und nahm den Deckel ab.
Darin lagen alle drei Star-Wars-Videokassetten und weitere Actionfiguren, ein paar Bon-Jovi-Poster und mehrere T-Shirts, die nicht mir gehörten, die meisten davon grün.
»Warum hast du das alles aufgehoben?«, fragte ich, den Blaster immer noch an mich gedrückt.
Er zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem Mom es loswerden wollte. Die Sachen erinnern mich an früher.« Dad räusperte sich, als auch er von seinen Gefühlen übermannt wurde. »Ich will vor der Vergangenheit keine Angst mehr haben, Joel. Ich kann nicht so weiterleben, aber deine Mutter … Sie kann nicht anders. Deswegen können wir nicht mehr zusammen sein.«
»Ich verstehe.«
»Ich weiß, dass das meiste nicht deins ist, aber ich will trotzdem, dass du die Sachen hast«, sagte Dad. »Ich meine, wenn du willst. Wir können sie in meiner neuen Wohnung aufbewahren, damit du dir keine Sorgen wegen Mom machen musst.«
»Ich will sie«, sagte ich. »Ich will alles.«
Dad nickte, und bevor er die Kiste wieder zumachte, zog er etwas hinter dem Sitz hervor. »Willst du das auch behalten?«
Es war Mavericks Zeichnung. Mom hatte sie ihm wahrscheinlich als Beweis gegeben, dass Maverick mein Liebhaber war, bevor sie ihn losgeschickt hatte, um mich einzufangen.
»Ja …«, sagte ich zögernd für den Fall, dass es diesmal eine Falle war. »Es bedeutet mir viel.«
»Klar.« Dad legte das Bild auf die T-Shirts und schloss den Deckel der Kiste. »Der Zeichner ist ein echter Künstler«, war alles, was er dazu sagte. Dad wusste, dass das Star-Wars-Bild zwischen Mom und mir den Dritten Weltkrieg ausgelöst hatte, und es schien ihn nicht zu stören. Daraus schöpfte ich den Mut, um ihm meinen Fall darzulegen.
»Mom hat gesagt, ich muss meinen Job kündigen und wieder in die Klinik. Aber ich will auf keinen Fall kündigen und ich will auf keinen Fall in die Klinik.«
Dad holte tief Luft. »Hast du vor, dir etwas anzutun?«, fragte er mit bohrender Ernsthaftigkeit. »Und bitte, Sohn. Sag mir die Wahrheit.«
»Nein. Ich schwöre es, nein«, sagte ich. »Das würde ich niemals tun, Dad. Bis auf heute Morgen bin ich wirklich so froh wie seit … du weißt schon. Außerdem habe ich jetzt meinen Blaster wieder.«
Er fand es nicht lustig (wahrscheinlich weil es nicht lustig war). Er sah mich nur sehr nachdenklich an. Schließlich sagte er: »Ich werde nichts unterschreiben, was dich gegen deinen Willen in die Klinik bringt, Joel. Das tue ich nie wieder. Du bist so gut wie erwachsen, und wenn du das Gefühl hast, du musst nicht in die Klinik, dann nehme ich dich beim Wort.« Ich sah ihm an, dass er besorgt war, und deswegen war ich ihm umso dankbarer für seine Unterstützung. »Deine Mutter wird stinksauer sein, dass ich mich gegen sie stelle«, sagte er. »Aber was soll sie machen? Die Scheidung einreichen?«
Diesmal lachten wir beide.
»Am besten hältst du ein paar Tage den Ball flach, bis sie sich wieder beruhigt hat. Ich glaube sowieso, eine kleine Pause täte euch beiden gut«, riet er mir. »Ich schlafe zurzeit bei einer Bekannten, deshalb kann ich dir noch kein Zimmer anbieten. Hast du einen Ort, wo du ein paar Tage übernachten kannst? Vielleicht das Mädchen, das schwanger ist? Oder soll ich dir ein Hotelzimmer mieten?«
»Ich finde schon was«, versicherte ich ihm. »Vielleicht verlasse ich die Stadt. Ich meine, wo bleibt der Spaß, wenn man auf der Flucht ist und nicht mal aus dem Viertel rauskommt?«
»Keine schlechte Idee. Du könntest ein paar Tage nach Fairfax fahren. Deine Großeltern würden sich freuen«, schlug Dad vor.
Wieder lachte ich. Dad war heute ein richtiger Komiker.
»Ernsthaft, Joel«, sagte er. »Es würde dir guttun. Mir tut es immer gut.«
Seit dem Schlimmen, das passiert war, war Dad der Einzige von uns, der hin und wieder nach Virginia zurückfuhr. Gewöhnlich verbrachte er im Sommer eine Woche bei seiner Familie. Wegen meiner Macke hatten meine Eltern es bisher nie für eine gute Idee gehalten, dass ich mit ihm fuhr, und ich hatte nie protestiert.
»Mir fällt schon was ein.«
»Na gut«, sagte er. »Tu, was du tun musst.« Dann gab er mir eine Telefonnummer, unter der ich ihn erreichen konnte, und fünfzig Dollar für Essen. »Ich denke mir eine Ausrede für deine Mutter aus. Aber es wird auf jeden Fall eine Lüge, also spiel einfach mit, wenn du zurückkommst, egal was sie sagt.«
Ich war einverstanden und dankte ihm.
»Bevor du gehst, habe ich noch was für dich.« Er griff in die Jackentasche und zog eine wattierte Plastiktüte von JCPenney heraus. »Ich habe heute an vielen Orten nach dir gesucht. Auch im Einkaufszentrum. Und wo ich schon mal da war, habe ich dir das hier mitgebracht.«
Ich nahm die Tüte an und spähte hinein.
»Ich weiß nicht, ob du sie anziehst oder nicht«, sagte Dad. »Aber ich wollte, dass du sie hast. Nur für den Fall.«
Ich griff in die Tüte und zog eine rosa Krawatte heraus.
»Ich wollte dir noch sagen …«, begann er. Er holte ein paarmal Luft, dann setzte er noch mal an. »Ich will, dass du eines weißt: Was immer du willst, das will ich für dich, Joel. Ich meine es ernst. Rosa Krawatte. Blaue Krawatte. Lila Krawatte. Es spielt keine Rolle für mich. Du hast keine Macke, Joel. Egal welche Farbe deine Krawatte hat.« Er räusperte sich. »Ich habe dich lieb.«
Die Geste war vielleicht klein, aber der Moment war riesengroß. So groß, dass viele Momente, die sich groß angefühlt hatten, klein dagegen wirkten. So groß, dass der Moment manche von Dads Irrtümern der Vergangenheit aufwog. So groß, dass der Moment eine neue Seite aufschlug und Dad und mir eine nagelneue Tabula rasa schenkte.
Ich nickte, als ich sein Geschenk in der Hand hielt. »Ich weiß, Dad«, sagte ich. »Ich habe dich auch lieb.«