Die Leute, die den Wartebereich der Sozialstation eingerichtet hatten, hatten dabei kein bisschen Rosa verwendet. Tatsächlich war der Raum mit seinen mintgrünen Wänden, den gerahmten Gemälden geometrischer Formen und dem Fehlen jeglicher Motivationsposter das angenehmste Vorzimmer, in dem ich je gewartet hatte.
Allerdings wartete ich hier auch nicht darauf, von irgendeinem Psychiater oder Therapeuten auseinandergenommen zu werden, eine Tatsache, die wahrscheinlich noch entspannender auf mich wirkte als das Farbkonzept. Diesmal war Baby die Patientin (falls man es so nennen kann), und sie war so damit beschäftigt, das Zimmer auf und ab zu schreiten, dass sie gegen den beruhigenden Effekt der abstrakten Kunst immun war.
»Warum dauert das so lange?«, jammerte sie Kat vor. »Wenn ein Termin um zwei Uhr anfangen soll, dann soll er auch um zwei Uhr anfangen, verdammt. Ich will es hinter mich bringen.«
»Vielleicht hatte das Baby Hunger«, sagte Kat, die gerade von ihrem Brautfriseur- und Kosmetiktermin zurückkam. »Babys richten sich nicht nach der Uhr, Nicole. Das hat das Kleine schon bewiesen, indem es vor dem Termin zur Welt kam.« Sie wechselte das Thema. »Bob hat heute Morgen übrigens dein Brautjungfernkleid zum Ändern gebracht, damit du nicht im Zelt zur Hochzeit kommen musst.« Sie lächelte Baby halbmondförmig an. »Er hat sechs Schneidereien angerufen, bis er eine gefunden hat, die es so schnell hinkriegt, aber er hat es geschafft.«
»Dann ist ja alles gut.« Babys Stimme triefte vor Sarkasmus. »Seit Tagen denke ich an nichts anderes. Ob mir mein Brautjungfernkleid passt, ist echt das Allerwichtigste, was mich im Moment bewegt.«
»Nicole«, entgegnete Kat gelassen. »Alles wird gut. Bitte versuche einfach, dich zu entspannen. Es dauert bestimmt nicht mehr lange.«
Baby fuhr sich durchs Haar. »Ich gehe aufs Klo. Sollten sie anfangen wollen, wenn ich weg bin, sag ihnen, dass sie warten müssen.« Eilig ging sie über den Flur davon.
»Sie flippt aus«, stellte Kat fest, als ihre Tochter versehentlich in die Herrentoilette ging. »Sie flippt total aus.«
»Eindeutig«, sagte ich. »Aber nachvollziehbar. Wenn es eine ausflippenswerte Situation gibt, dann diese.«
»Wem sagst du das.« Kat sah mich an. »Es ist zwar über achtzehn Jahre her, aber ich erinnere mich sehr gut an die ersten Tage nach der Entbindung. Alles tut weh und die Hormone spielen verrückt. Du fühlst dich, als wärst du nicht du selbst. Und dann noch diese ganze Adoptionsgeschichte …« Sie ließ eine Pause. »Ich bin wirklich froh, dass du hier bist, Joel. Im Vergleich zu gestern ist ihre Laune bedeutend besser.«
Ich wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war.
Kat betrachtete ihre Fingernägel. »Im Kreißsaal war Nicole ein echter Champion. Sie hat natürlich geflucht wie ein Kutscher, aber sie hat das Kind ohne Narkose zur Welt gebracht. Zäh wie Juchtenleder, meine Kleine.«
»Baby ist hart im Nehmen.«
»Das ist sie. Meistens.« Kat seufzte. »Ich weiß nur nicht, wie sie den nächsten Teil übersteht. Nicole hat noch nie jemanden verloren. Bei uns in der Familie leben alle noch. Es ist noch nicht mal eine Freundin weggezogen oder so.« Kats Stimme wurde rau, und sie wischte sich mit der Hand über die Augen. »Ich hoffe, sie verkraftet es.«
Kat sprach ein Problem an, über das ich noch gar nicht nachgedacht hatte. In der kurzen Zeit, seit ich über Babys Baby nachdachte, hatte ich hauptsächlich an die Schwangerschaft gedacht und weniger an die Realität, dass sie das Kind zur Welt bringen und weggeben musste.
»Ich meine nicht, dass es ein Fehler ist«, fuhr Kat fort. »Nicole hat eine große Zukunft vor sich. Sie würde es bereuen, wenn sie nicht aufs College nach New York geht, das weiß ich. Aber das heißt nicht, dass es nicht wehtut.«
Die Tür der Damentoilette flog auf, und Baby kam heraus.
»Jedenfalls danke, dass du hier bist«, sagte Kat. »Ich bin froh, dass Nicole dich hat.«
»Na klar.«
Baby stürmte in den Wartebereich zurück und wollte gerade wieder losmeckern, als hinter uns eine Tür aufging und eine Sozialarbeiterin mit viel Lidschatten sagte: »Ms Palmer und Familie? Wir sind jetzt so weit.«
Baby blieb nicht stehen, um auf uns zu warten. Kat und ich gingen ihr hinterher.
Die Frau, die LaDonna hieß, bot uns Kaffee und Wasser an, machte Kat ein Kompliment für ihr Styling (und gratulierte ihr, als Kat das mit der Hochzeit erzählte), und dann erklärte sie uns den offiziellen Teil.
»Zuerst kommen die Adoptiveltern herein. Dann bringt eine Krankenschwester das Baby, und Sie dürfen es gern alle halten.« Sie wandte sich an Baby. »Nicole, wie ich gehört habe, kennen Sie das Paar und es handelt sich um eine offene Adoption, was bedeutet, dass Sie weiterhin Kontakt zur Familie halten. Beide Parteien haben während des ersten Jahres ein eingeschränktes Besuchsrecht vereinbart, das im Anschluss noch einmal neu verhandelt wird. Ist das korrekt?«
»Ja«, sagte Baby. »So will ich es.«
»Ausgezeichnet. Nachdem Sie alle das Baby willkommen geheißen haben — und dabei können Sie sich so viel Zeit lassen, wie Sie wollen, sagen Sie mir einfach, wenn Sie bereit sind fortzufahren —, beginnen wir mit der eigentlichen Zeremonie. Nicole, ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, und dann werde ich den Adoptiveltern ähnliche Fragen stellen. Dann müssen Sie und die Adoptiveltern ein Dokument unterschreiben, und die Zeugen auch.« Sie zeigte auf Kat und mich. »Und dann verabschieden wir uns fürs Erste. Gibt es irgendwelche Fragen?«
Wir hatten keine, also entschuldigte sich LaDonna und ging durch eine andere Tür, und wir hörten ihre gedämpfte Stimme sagen: »Alle sind bereit!«, bevor sie zurückkam.
Die ganze Zeit hatte ich Baby im Auge. Sie war angespannt, hatte die Zähne fest aufeinandergebissen und den gleichen entschlossenen Ausdruck wie an Halloween, als sie der Welt ihre Schwangerschaft verkündet hatte.
Es kam mir nicht so vor, als wären seitdem über drei Monate vergangen, und gleichzeitig fühlte es sich an wie ein ganzes Leben. Inzwischen hatte sich alles verändert — bei Baby, bei mir, bei Baby und mir —, und jetzt würde sich alles noch einmal verändern.
Ich war so auf Baby konzentriert, dass ich nicht darauf achtete, wer hinter LaDonna hereinkam. Erst als ich meinen Namen hörte, erinnerte ich mich, dass Baby und ich nicht die einzigen Menschen im Raum waren.
»Joel?«
Mein Blick fiel auf ein bekanntes Gesicht, mit dem ich so wenig gerechnet hatte, dass mein Gehirn mehrere Ansätze brauchte, bis ich ihn erkannte. »Dr. Schwartz? Was machen Sie denn hier?« Ich sah von ihm zu Baby zu Kat zu LaDonna und wieder zu ihm. Panik stieg in mir auf. »Hat meine Mutter Sie geschickt?«
Wahrscheinlich dachte er, ich machte Witze, denn er lachte. »Nein, natürlich nicht.« Er schüttelte mir die Hand und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Ich bin wirklich froh, dass du kommen konntest.« Er drückte Baby und gab Kat einen Kuss auf die Wange.
Neben ihm stand eine Frau, die ich aus der Videothek kannte, aber ich hätte nicht mehr gewusst, dass sie die Mrs Schwartz war, die ihren säumigen Ehemann aus ihrem Konto geworfen hatte. Auch sie strahlte und machte mit Händeschütteln und Umarmungen die Runde.
»Jana«, stellte sie sich mir noch einmal vor und umklammerte meine Hand. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Sie auch«, sagte ich.
Ich musste ein paarmal zwischen Baby und den Schwartzens hin- und hersehen, bis mir endlich klar wurde, dass wir nicht zufällig alle in einem Raum gelandet waren. Marc und Jana Schwartz waren die Adoptiveltern.
Doch ich hatte nicht viel Zeit, um die Neuigkeit zu verdauen, denn kaum hatten wir uns alle begrüßt, rief LaDonna die Krankenschwester herein, die das Baby brachte. Den Schock, dass der Mann, der mich nach dem Meister-Proper-Vorfall als sabberndes Wrack hochgepäppelt hatte, der Vater von Babys Baby sein würde, musste ich später verarbeiten, denn wie ich Baby versprochen hatte, ging es heute nicht um mich.
Und so stand ich ihr bei, als die Krankenschwester Babys Tochter hereinbrachte, auch wenn ich wegsah. Ihre erste Begegnung mit ihrem Kind war ein zu persönlicher Moment, um sie dabei zu beobachten. Selbst wenn ich ihre Privatsphäre nur vor meinen Blicken schützen konnte, wollte ich es tun.
»Hier ist sie!«, sagte die Schwester und hielt einen unfassbar winzigen Menschen im Arm.
Zuerst sah ich nur einen schwarzen Schopf, der aus einer Fülle weißen Stoffs hervorsah. Das Baby hatte Puppenkleider an, jedenfalls hätten sie einer Puppe gepasst. Es trug ein langes Spitzenkleid, das seine Füße bedeckte, wie die Taufkleider meiner Cousinen. Nachdem die Schwester es mit sanften Bewegungen in ihrem Arm zurechtgerückt hatte, konnte ich auch die anderen Teile besser sehen, die nicht zum Haar oder zum Kleid gehörten. Und obwohl ich völlig überwältigt war von allem, was in diesem Moment passierte, bestand meine gleich große, entgegengerichtete Reaktion auf das kleine Wesen darin, es anzulächeln.
Die Kleine war ganz ruhig und schlief, die rosa Lippen leicht geöffnet, mit winzigen geballten Fäusten zu beiden Seiten des Gesichts, als wäre sie selbst im Schlaf für jeden Kampf bereit. Das reichte mir, um zu wissen, dass sie Babys Baby war.
»Welche Augenfarbe hat sie?«, fragte Kat hinter mir. Ihre Stimme war belegt, und sie hatte einen Kloß im Hals.
»Blau«, sagte Jana. »Aber viele Babys kommen mit blauen Augen zur Welt, wir wissen nicht, ob sie so bleiben oder die Farbe verändern.«
Sie streckte die Hand aus, um die Wange des Babys zu streicheln.
In diesem Moment räusperte sich Baby. »Sie werden nicht braun«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich habe grüne Augen und der biologische Vater hat blaue. Das sind beides rezessive Allele.« Sie sprach zu Jana, aber ihr Blick ruhte auf ihrer Tochter.
Marc lächelte Baby an. »Stimmt«, sagte er. Ich war mir nicht sicher, ob er im Studium Genetik gehabt hatte oder ob es zu seinem Allgemeinwissen gehörte, wie bei Baby.
Danach fragte die Schwester Baby, ob sie das Kind halten wollte, und sie nickte. Sie legte es Baby in die Arme, die verunsichert war, wie sie das kleine Wesen halten sollte. Doch Jana trat vor, um ihr zu helfen, und plötzlich wurde es ganz still im Raum, während alle zusahen, wie Baby ihr Kind hielt.
»Wie habt ihr sie genannt?«, fragte sie schließlich und sah von dem Baby zu Marc und Jana.
»Wir haben deinen Vorschlag angenommen und einen Namen ausgesucht, der ›Sieg‹ heißt.« Jana strahlte. »Nicole, das ist Daphne.«
»Daphne Palmer Schwartz«, sagte Marc.
Baby seufzte tief. »Du kannst sie jetzt halten, Mom.«
Kats Begegnung mit Daphne war tränenreicher als Babys, und als sie Daphne schließlich mir übergab, lief ihr die Hochzeitswimperntusche in schwarzen Strömen über das Gesicht.
Ich glaube nicht, dass ich während der ganzen Zeit, in der ich Daphne hielt, einen Atemzug machte. Eigentlich wollte ich das Wunder des Lebens bestaunen und mir all die Gedanken durch den Kopf gehen lassen, die Babys auslösen, aber gleichzeitig hatte ich eine Heidenangst, etwas kaputt zu machen, sodass ich sie schnell an Jana weitergab.
Danach begann der offizielle Teil, der (wie LaDonna angekündigt hatte) aus Fragen und Antworten und ein paar eingestreuten blumigen Sätzen bestand. Bevor die Tinte auf die Papiere kam, mit denen die Adoption vollzogen wurde, wollten Marc und Jana noch ein paar Dinge zur Mutter ihres Babys sagen.
Zuerst las Jana aus einem Brief vor, den sie vorbereitet hatte und in dem sie über ihren unerfüllten Kinderwunsch sprach. Neben anderen netten Worten bezeichnete sie Baby als »selbstlosen Engel« und vergoss Tränen der Dankbarkeit, dass sie nun endlich Mutter werden durfte. Dann sprach Marc. Er hatte sich nicht vorbereitet, aber er redete genauso herzlich, versprach Baby, dass er alles für sie und für Daphne tun würde und dass er es kaum abwarten konnte, dem kleinen Mädchen der beste Vater der Welt zu sein.
Alle der Anwesenden weinten an der einen oder anderen Stelle (auch ich), bis auf Baby, die offenbar die Willenskraft von tausend Titanen hatte.
Auf die Frage, ob sie etwas zu den Schwartzens sagen wollte, brauchte sie eine Minute, bis sie Ja sagte.
»Ich schätze, ich will nur, dass ihr mir versprecht, sie zu lieben, egal was passiert«, erklärte sie mit dünner Stimme. »Egal was für ein Mensch sie ist, selbst wenn sie anders ist, als ihr es euch erhofft. Selbst wenn ihr sie nicht versteht, ihr müsst sie immer lieben.« Baby ließ eine Pause. »Denn das ist das Einzige, von dem ich weiß, dass ich es auch hingekriegt hätte.«
Jana und Marc Schwartz versprachen es ihr. Dann wurden die Unterschriften geleistet, und alle umarmten sich zum Abschied. Kat hatte es eilig, und dann war es Zeit für Daphnes Fläschchen. Marc und Jana baten Baby, sie anzurufen, sobald sie bereit war, sie zu besuchen, und bevor ich mich versah, waren Baby und ich allein und gingen zum Parkhaus zurück.
Ohne ein Wort zu sagen, gab mir Baby ihren Schlüssel. Ich schloss auf, und sie setzte sich auf den Beifahrersitz.
Falls es die richtigen Worte in diesem Moment gab, fielen sie mir nicht ein. Es ging mir viel durch den Kopf, aber das meiste waren Variationen der Beobachtung, die ich schon während der Adoptionszeremonie gemacht hatte: Baby war sehr still.
Hätte ich in meinem Leben nicht an Milliarden Gruppentherapiesitzungen teilgenommen, hätte ich Baby vielleicht darauf angesprochen. Vielleicht hätte ich die Tatsache, dass sie nicht in Tränen aufgelöst war, als sie ihr Kind einem Ehepaar überschrieb, das sich sonst bei ihr Videos lieh, fälschlicherweise für Stärke gehalten. Ich hätte sie für ihre Besonnenheit gelobt. Ich hätte gedacht, sie hätte das Ganze überstanden.
Aber ich wusste es besser. Wenn es um Gefühle ging, sah man meistens nur die Spitze des Eisbergs. Wenn Babys Reaktion äußerlich nicht sichtbar war, sagte das nichts über ihr Innenleben aus.
Ich wusste, wenn ich lange genug wartete, würde sie sich äußern. Also wartete ich, und sie äußerte sich.
Allerdings nicht mit Worten.
Plötzlich war das Auto von einem schrillen, ohrenbetäubenden Geräusch erfüllt. Mein erster Gedanke war, der Honda ginge in die Luft — Fahrzeugexplosionen gehören zu den Standardängsten paranoider Menschen —, aber dann sah ich zum Beifahrersitz und begriff, dass das Geräusch von Baby kam.
Sie hatte das Gesicht zur Grimasse verzogen, die Augen zusammengekniffen und den Mund weit aufgerissen, und stieß den längsten, lautesten, durchdringendsten Schrei aus, den ich je gehört hatte. Er war so irrsinnig hoch, dass er wie eine Sirene aus nächster Nähe klang, und wahrscheinlich hätten mir noch tagelang die Ohren geklingelt, wenn ihm Stille gefolgt wäre statt einem Sperrfeuer aus Flüchen und Schlägen gegen das Armaturenbrett.
»Verfluchte kack… (unverständlich) mit ihrer verfickten kack… (unverständlich) drecks… (unverständlich) beschissenen Kackscheiße!« war alles, was ich mitbekam, der Rest ging in ihrer Prügelattacke gegen das Auto unter.
Als ihr Wutanfall weiter ausartete, drückte ich mich an die Tür, um dem Zorn ihrer Fäuste auszuweichen.
Paff, paff, Schrei! Fluch, paff, paff! Fluch, Fluch, paff! Schrei, Schrei, paff! (Wiederholung.)
Von außen erinnerte der Tumult im Wagen wahrscheinlich an die Szene in Jurassic Park, in der Newman aus Seinfeld von dem spuckenden Dinosaurier gefressen wird. Das Auto wackelte, die Fenster waren beschlagen, und es sah echt so aus, als würde keiner hier lebend rauskommen.
Doch wie durch ein Wunder blieb ich unversehrt. Was man von der Blende ihrer Anlage nicht sagen konnte, die beim Finale der Abreibung aus dem Schacht sprang und reglos zu Boden sackte.
Was ein abschließendes und sehr lautes »Scheiße!« nach sich zog, woraufhin Baby endlich Luft holte.
Zu diesem Zeitpunkt sah sie aus wie ein wildes Tier. Ihr Gesicht war rot und nass geschwitzt. Ihre Knöchel bluteten und ihre Kleider waren verrutscht. Sie sah aus wie das Opfer eines tätlichen Angriffs, und weil außer uns niemand im Wagen war und wahrscheinlich jeden Moment ein Parkwächter vorbeikommen konnte, um der Meldung des mutmaßlichen Dinosaurierangriffs nachzugehen, fand ich, es war höchste Zeit für den Aufbruch.
Wortlos drehte ich den Schlüssel im Zündschloss und fuhr rückwärts raus.
Wir schafften es einen ziellosen Kilometer, bevor die zweite Runde des Geschreis begann.
»Sie hätten sie Kelsey nennen können!«, kreischte Baby. »Sie hätten sie Laura nennen können! Sie hätten sie Colette nennen können! Veronica! Alle heißen ›Sieg‹, und alle sind besser als Daphne!« Sie spuckte den Namen aus. »In Scarlets bescheuertem Buch standen über fünfzig Mädchennamen mit derselben Bedeutung, und sie nennen mein Kind nach einer verdammten Scooby-Doo-Figur! Und nicht mal nach der schlauen! Nein, sie suchen sich das dumme Flittchen aus!«
Ich wartete, um sicherzugehen, dass Baby fertig war, bevor ich etwas dazu sagte. »Um fair zu sein, ich glaube nicht, dass die Daphne aus Scooby-Doo ein Flittchen sein soll. Ja, sie zieht manchmal allein mit Fred los, aber selbst wenn sie in der Werbepause mit ihm ins Bett geht, kannst du nicht behaupten, die beiden hätten keine anständige, monogame Beziehung.«
Als Antwort brach Baby in unkontrolliertes Schluchzen aus.
Ich hatte Baby noch nie weinen sehen. Es machte mir zehnmal so viel Angst wie ihr Schreianfall.
Ich möchte gern zurücknehmen, was ich an früherer Stelle gesagt habe, nämlich, dass das schlimmste Weinen das Weinen betrunkener Frauen sei. Es gibt ein Weinen, das so viel schlimmer ist als das Weinen betrunkener Frauen, dass die beiden nicht einmal im selben Sonnensystem sind.
Das Weinen, das ich meine, ist ein hoffnungsloses Weinen. Ein leeres Weinen. Ein zweckloses, niederschmetterndes, brüllendes Weinen. Ein Weinen, dem keine Worte gerecht werden.
Es ist das Weinen einer trauernden Mutter.
Dieses Weinen wühlte mich dermaßen auf, dass ich an den Straßenrand fahren musste. Sofort schlang Baby die Arme um mich und schluchzte in meine Schulter.
»Warum?«, rief sie flehend. »Warum musste das passieren?«
Ich wusste keine Antwort.
Ich strich ihr übers Haar. Ich ließ sie weinen. Ich beruhigte sie nicht. Ich ließ sie nicht los.
Nach langer Zeit bat sie mich weiterzufahren, immer noch unter Tränen. »Egal wohin«, krächzte sie. »Ich will einfach nicht mehr hier sein.«
»Okay.« Ich nickte. »Soll ich zur Videothek fahren?«
»Nein!«, sagte sie energisch. »Woandershin!«
»Okay, okay!«, sagte ich. »Versuch dich zu entspannen.«
Baby rollte sich auf dem Sitz ein und starrte aus dem Fenster. In der Zwischenzeit überlegte ich fieberhaft, wohin ich sie bringen konnte.
Als mein Blick auf den Straßenatlas fiel, der in der Fahrertür steckte, hatte ich eine Idee.
»Wie weit ist zu weit, Baby?«
Sie schniefte. »Nichts ist zu weit.«
Auch wenn sie nicht herübersah, nickte ich wieder. Dann rollte ich auf die Straße und fuhr los.