Es sind ungefähr 850 Kilometer von Royal Oak in Michigan bis Fairfax in Virginia. Wenn man sich an das Tempolimit hält, dauert die Fahrt rund neun Stunden. Ich hielt mich nicht an das Tempolimit, aber ich musste einmal tanken und einmal pinkeln, und als alles gesagt und getan war, kamen wir nach achteinhalb Stunden an.
In Toledo hatte sich Baby in den Schlaf geweint. In Cleveland musste ich tanken und benutzte das Münztelefon an der Tankstelle, um vor Ladenschluss in der Videothek Bescheid zu sagen, dass ich am nächsten Tag nicht kam.
»Ich musste die Stadt verlassen«, sagte ich dem Paten.
»Ich gebe dir ein Alibi«, bot sie sofort an. Irgendwie hatte ich gewusst, dass sie mich decken würde. »Aber dafür haben wir den zwölften November letztes Jahr zusammen verbracht, falls jemand danach fragt.«
»Deal.«
Eins der vielen Dinge, die ich beim Start nicht bedacht hatte, war der Umstand, dass man, wenn man nachmittags um vier zu einer neunstündigen Fahrt aufbricht, das Ziel gegen ein Uhr morgens erreicht. Was selten eine ideale Ankunftszeit ist und problematisch wird, wenn man keine Bleibe organisiert und deswegen kein Dach über dem Kopf hat, wenn man dort ist.
In fast jeder anderen Situation hätte ich um das miese Stundenmotel am Highway kurz vor Fairfax einen großen Bogen gemacht, aber ich war zu erschöpft, um durchzuhalten, bis das nächste Holiday Inn auftauchte.
Die Absteige war so schlimm, wie man sie sich vorstellt, wenn man weiß, dass das Motel direkt gegenüber von Fairfax’ einzigem »Gentlemen’s Club« gelegen war. Aus den benachbarten Zimmern wurden Baby und ich, als wir einzuschlafen versuchten, mit einer Geräuschkulisse beschallt, die wir hoffentlich nie wieder hören müssten. Es ging hoch her.
Irgendwann schliefen wir doch, und als ich morgens aufwachte und die Sonne durch das schmutzige Fenster schien, kamen mir ernsthafte Zweifel an meinen Gründen, den ganzen Weg bis nach Virginia gefahren zu sein.
Ich erinnerte mich zwar, wie ich auf die Idee gekommen war, als Baby von ihrer Trauer überwältigt wurde. Zuzusehen, wie ein undurchdringlicher Mensch wie Baby in einen flüssigen Aggregatszustand übergeht, ist harter Tobak, besonders für jemanden wie mich. Und wenn sich ein Mensch, an dem euch wirklich was liegt, in seine Bestandteile auflöst, wärt ihr in der Hitze des Gefechts auch zu allem bereit, um ihn aus dem Treibsand zu zerren.
Aber jetzt war die Hitze des Gefechts vorbei, und ich fühlte mich weniger wie ein Held wider Willen und mehr wie ein verdammter Trottel, weil ich mir eingebildet hatte, ich könnte einfach nach Virginia zurückkehren, ohne selbst wieder durchzudrehen.
Als ich mich auf die Seite rollte, sah ich, dass Baby schon wach war und mich beobachtete. Ich zwang mich, mich zu beruhigen. Sie hatte im Moment mehr Recht auf Drama als ich.
»Wie geht’s dir?«, fragte ich.
Ihre Augen waren rot, und ihr Gesicht war müde und verquollen vom vielen Weinen.
»Ich muss mir ein paar Hygieneprodukte besorgen oder es wird bald extrem eklig hier.« Baby stand auf und nahm den Schlüssel vom Nachttisch.
Ich stellte keine Fragen, aber ich war froh, dass sie in der Lage war rauszugehen. Sie wirkte jetzt schon stabiler als gestern.
»Ich habe neben dem Stripclub einen Truckstop gesehen«, erklärte sie.
Mir war nicht klar gewesen, dass Truckstops Hygieneprodukte verkauften, aber ich nahm an, dass Baby sich besser auskannte.
Wir hatten beide in unseren Jacken geschlafen, als Extraschicht gegen die potenziellen Krankheiten, die in den Betten lauerten. Als Baby ihren Reißverschluss zumachte, fragte sie: »Wo sind wir eigentlich?«
»In Virginia.«
Sie schien unbeeindruckt. »Okay«, sagte sie nur, und dann ging sie raus.
Während sie unterwegs war, überlegte ich, ob ich duschen sollte. Das Bad war allerdings aktuell in einem Zustand, bei dem man sich garantiert Hepatitis holte, und die einzige Reinigungskraft, die ich auf dem Gelände traf, war Mitte siebzig und hinkte. Weil ich von ihr nicht verlangen wollte, dass sie sauber machte, lieh ich mir ein Paar Gummihandschuhe und Desinfektionsmittel von ihrem Karren und schrubbte unser Bad selbst.
Ja, es war so widerlich, wie es klingt, was zeigt, wie dringend ich Ablenkung brauchte. Falls ich den Tag überstehen wollte, durfte ich auf keinen Fall zum Nachdenken kommen.
Ich war gerade fertig, als Baby zurückkehrte.
»Hier.« Sie reichte mir eine Tüte. Darin waren Boxershorts und ein Flanellhemd, Zeug, das nach Truckstop aussah.
»Danke«, sagte ich. »Ich geb dir das Geld später zurück.«
Sie zuckte nur die Schultern. »Sie hatten keine Frauensachen. Ich musste meine Unterhose nebenan kaufen.«
»In dem Stripclub? Dort verkaufen sie Wäsche?«, fragte ich. »Ist das nicht ein Interessenkonflikt?«
»Anscheinend muss man was anhaben, um sich auszuziehen.« Baby kramte in einer anderen Tüte herum. »Neu, mit Etikett«, versicherte sie mir und hielt eine beängstigende Unterwäschegarnitur hoch. »Das Ding war teuer. Zum Glück konnte ich mit Kreditkarte zahlen, auch wenn Kat wahrscheinlich ein paar Fragen hat, wenn sie die Rechnung bekommt.«
Ich lächelte. Baby schien in Rekordzeit ihren Humor wiedergefunden zu haben, was eine große Erleichterung war. Vielleicht hatte sie nur ein bisschen Zeit und Raum gebraucht, um ihre Situation in Perspektive zu bringen, und wir mussten bloß duschen und was essen, und dann konnten wir wieder nach Michigan zurück.
»Das Bad ist sauber«, erklärte ich.
Baby bestand darauf, dass ich zuerst ins Bad ging, weil sie Kat anrufen und ihr sagen musste, wo sie war. Nachdem ich mich seit achtundvierzig Stunden nicht gewaschen hatte, nahm ich ihr Angebot gern an.
Ich duschte schnell und zog mir die Truckstop-Sachen an (sie passten gut). Als ich fertig war, telefonierte Baby nicht mehr. Sie sagte nichts, bevor sie sich im Bad einschloss und das Wasser laufen ließ.
Ich trat hinaus an die frische Luft. Anders als in Michigan herrschten in Virginia auch im Februar erträgliche Temperaturen, und solange mir draußen nicht das Gesicht einfror, sah ich keinen Grund, eine weitere Sekunde in dem widerlichen Motelzimmer zu verbringen.
Ich setzte mich auf die Motorhaube des Hondas und starrte auf den Highway. Wir befanden uns im Nordwesten von Fairfax, und nichts von diesem Teil der Stadt kam mir bekannt vor, nicht mal auf die verschwommene Art, die bleibt, wenn sich alles verändert. Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt etwas wiedererkennen würde, denn ich war noch ein kleiner Junge gewesen, als wir in Fairfax gelebt hatten. Wenn man klein ist, lebt man in einer kleinen Welt, und man begreift die Orte nicht wie Zeichen auf einer Landkarte. Man kennt, was man sieht, und der Rest der Welt fühlt sich hypothetisch an.
Aber so fühlte sich hier nichts an. Es fühlte sich alles hyperreal an. Besonders, weil ich wusste, warum ich zurückgekehrt war.
Ich hatte beschlossen, Baby von dem Schlimmen, das passiert war, zu erzählen.
Die Grundlage der Gruppentherapie ist die Annahme, dass Wunden in der Gemeinschaft besser heilen. Wenn wir merken, dass wir nicht die Einzigen sind, die etwas Schlimmes erlebt haben, können wir Hoffnung schöpfen, dass das Leben nicht immer so schwer ist. Wenn ich Baby mein Geheimnis anvertraute und es ihr irgendwie half, ihre Krise zu bewältigen, dann war es gut. Ich würde es für sie tun.
Andererseits war ich mir nicht sicher, ob Baby ihre Krise nicht bereits allein überwand, und falls sich herausstellte, dass sie meine Hilfe nicht brauchte, um wieder normal zu werden, würde ich die Klappe halten.
Es gibt schlimme Dinge, die man anderen anvertrauen kann, ohne dass es größere Auswirkungen auf sie hat. Angenommen, ihr bekommt einen Strafzettel wegen zu schnellem Fahren. Das wäre echt doof, oder? Und wenn ihr einem Freund davon erzählt, sagt er wahrscheinlich: »Du Armer.« Aber auf lange Sicht verändert der Strafzettel nichts an eurer Freundschaft. Eurem Freund kommen nicht jedes Mal die Tränen, wenn er euch sieht. Das Wissen, dass ihr einen Strafzettel bekommen habt, löst keine Verzweiflung bei ihm aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass er deswegen Depressionen bekommt, ist eher niedrig. »Du Armer« ist wahrscheinlich das Erste und Letzte, was er zu dem Thema sagt, bevor er es vergessen hat.
Aber das Schlimme, das in meinem Leben passiert war, gehörte nicht zu dieser Kategorie. Das Schlimme, das passiert war, war etwas, was die Leute nie wieder vergaßen, wenn man es ihnen erzählte. Stattdessen wurden sie sehr, sehr traurig, und dann bekamen sie Angst. Und manchmal fingen sie an, Urteile zu fällen.
Sie wollten sich absichern, dass das Schlimme auf keinen Fall auch ihnen passieren könnte. Sie wollten, dass man Zeichen übersehen hatte, die ihnen bestimmt aufgefallen wären. Sie wollten, dass man das Schlimme irgendwie verdient hatte. Sie wollten besser sein oder anders sein, nur um davor gefeit zu sein, dass das Schlimme jemals ihnen passieren könnte. Sie wollten die Ängste vor dem Schlimmen loswerden, und die einfachste Art, ihre Ängste loszuwerden, war, euch loszuwerden, weil eure Gegenwart sie immer an das Schlimme erinnern würde.
Dann wollten sie, dass ihr nach Michigan zieht, damit sie in Frieden ihr Leben weiterleben konnten, ohne sich anstrengen zu müssen, nett zu euch zu sein.
Womit ich nicht sagen will, dass Baby so reagiert hätte, wenn ich ihr von dem Schlimmen erzählt hätte, aber auf jeden Fall wäre sie traurig gewesen, und wahrscheinlich war sie schon traurig genug und es war besser, wenn ich ihr noch mehr Kummer ersparte.
Ich lehnte mich an die Windschutzscheibe und starrte in den Himmel. Wenig später kam Baby aus dem Motel, in einem T-Shirt, auf dem BIG RIGGER BABES GENTLEMEN’S CLUB stand, und mit einem Handtuch um den Kopf.
»Da bist du ja«, sagte sie.
»Da bin ich«, antwortete ich und setzte mich auf.
Baby kam zu mir, lehnte sich ans Auto und sah in die gleiche Richtung wie ich. »Hattest du vor, mich nach Virginia zu bringen, oder ist Virginia nur dein magnetischer Norden?«
»Ich weiß es nicht«, war die kurze Antwort auf die Frage. »Ich bin einfach an irgendeinen Ort gefahren, den ich kenne.« Es fühlte sich nicht wie eine Lüge an, also zählte ich es nicht als eine.
»Hast du hier deine Kindheit verbracht?«, fragte Baby und kletterte neben mich auf die Motorhaube. »In einem miesen Motel gegenüber von einem Stripclub?«
»Nein, aber nicht weit von hier«, sagte ich. Und bevor sie mir weitere Fragen stellen konnte, fragte ich: »Geht es dir besser?«
Sie hielt inne, bevor sie antwortete. »Klar«, sagte sie dann und seufzte. »Ich bin echt froh, wenn sich alles wieder normalisiert. Ich will die Schule fertig machen und danach aufs Sarah-Lawrence-College. Ich habe wirklich tolle Pläne.« Sie klang wenig überzeugt und wenig überzeugend.
»Vor dir liegt eine glänzende Zukunft, das steht fest«, lautete mein allgemeingültiger Versuch einer Ermutigung.
»Mein ganzes Leben liegt vor mir.«
Dann wurden wir still.
»Was hast du heute vor?«, fragte ich schließlich. »Wir können machen, wozu du Lust hast.«
Sie zuckte die Schultern. »Kat ist stinksauer, dass ich gestern Nacht nicht nach Hause gekommen bin. Dabei habe ich ihr nicht mal erzählt, wo ich bin.« Sie nickte in Richtung des Motels. »Sie denkt, wir wären zu Bobs Hütte in Traverse City gefahren. Wenn ich ihr erzählt hätte, dass wir den Staat verlassen haben, wäre sie zur Polizei gegangen, das weiß ich. Dann gäbe es ein Riesendrama, und ich hätte schon wieder was angestellt, was ihre kostbaren Hochzeitsvorbereitungen verpfuscht.«
»Verstehe«, sagte ich und tat so, als hätte ich nicht völlig vergessen, dass ihre Mutter am nächsten Tag heiratete. »Wir können gleich fahren.«
»Mir ist egal, was wir machen«, sagte Baby, und diesmal glaubte ich ihr. Baby begann sich das Handtuch vom Kopf zu wickeln. »Aber wir sollten wahrscheinlich irgendwann frühstücken, weil ich …«
»Was ist mit deinen Haaren passiert?«, unterbrach ich sie und fiel von der Motorhaube. Hastig stand ich auf und starrte Baby fassungslos an.
Das hüftlange Haar, das ihr über den Rücken gefallen war, als sie vor ein paar Minuten ins Bad ging, war verschwunden. Das bisschen, das übrig war, reichte ihr kaum bis zu den Ohren.
»Sind sie ausgefallen?« Ich wusste zufälligerweise, dass es nach traumatischen Ereignissen manchmal zu spontanem Haarausfall kam, auch wenn die Leute, denen das passierte, danach eine Glatze hatten. Aber Baby sah eher aus, als wäre Edward mit den Scherenhänden über sie hergefallen.
»Beruhig dich, Solo! Mein Gott.« Baby sah mich finster an, während sie sich durchs Haar fuhr (durch das sich kaum fahren ließ). »Ich habe auch nicht so reagiert, als du deinen Look verändert hast.«
»Was?« Ich konnte es nicht glauben. »Du hast das extra gemacht?«
(Kurzes Time-out.
Bevor ihr mich für einen Arsch haltet, weil ich mich so darüber aufregte, lasst mich erklären, dass mir eigentlich vollkommen schnuppe ist, was Frauen mit ihren Haaren machen. Im Ernst — kurz, lang, sonst was, mir gefällt alles. Ich meine, natürlich mochte ich Babys langes Haar, aber es war ihr Haar und sie konnte damit machen, was sie wollte. Aber was sie damit getan hatte, sah nicht so aus, als hätte sie es mit Absicht getan. Was von ihrem Haar übrig war, war Kraut und Rüben, als hätte jemand in einem Wutanfall zur Nagelschere gegriffen — was ehrlich gesagt wahrscheinlich genau das war, was geschehen war.
Time-in.)
»Ja, ich habe mir die Haare geschnitten.« Baby strich sich ein paar widerspenstige Strähnen aus den Augen. »Na und?«
»Warum? Ich dachte, du magst dein Haar?«
Sie zuckte kaum die Schultern.
»Komm schon, Baby«, beharrte ich, während die Nerven in meinem Magen rumorten. »Tu das nicht. Rede mit mir. Bitte.«
»Was ist? Ich wollte eben mal anders aussehen.«
»Nein«, sagte ich mit wachsender Sorge. »Nein, Baby, das ist nicht der Grund …«
»Was willst du hören, Solo?« Baby schnaubte genervt. »Ich habe mein langes Haar geliebt, okay? Ich habe es geliebt. Es hat Ewigkeiten gedauert, es so lang wachsen zu lassen, und ich wollte es für den Rest meines Lebens lang lassen, aber dann habe ich es abgeschnitten, und jetzt ist es weg. Und ich kann es nicht rückgängig machen, selbst wenn ich es bereue. Geschehen ist geschehen, verdammte Scheiße, und ich muss mit der Entscheidung, die ich getroffen habe, leben.« Tränen schossen ihr in die Augen und rannen über ihre Wangen. »So. Bist du jetzt zufrieden?«
Ich sah meine Freundin an, die weinend vor mir saß, ohne zu weinen, völlig leer und immer noch auslaufend. Sie versank, und ich musste etwas dagegen tun. Wenn der Treibsand sie hinunterzog, musste er es auch mit mir aufnehmen, denn ich sprang hinterher und würde sie retten.
»Hol deine Sachen«, sagte ich. »Wir müssen wohin.«