Acht Monate später — Der Samstag vor Halloween 1997
»Happy Halloween, hier spricht ROYO Video«, sagte Hannibal in den Hörer, nachdem er die Pfote ausgezogen hatte. Eine lange Pause entstand. »Nein, mein Freund, sie arbeitet nicht mehr hier.« Pause. »Ja, es war echt komisch. Sie ist einfach eines Tages verschwunden.« Pause. »Du bist nicht der Einzige, der wegen ihr anruft, glaub mir.« Pause. »Tut mir echt leid, ich habe keine Info, Mann.« Pause. »Ja, mein Freund. Du auch. Tschüs.«
Ich sah ihn an, als er auflegte. »Noch jemand, der den Paten sucht?«
Er steckte die Hand wieder in den Pfotenhandschuh, und als er nickte, rasselten die Augen seines Kostüms. »Ja. Du hast auch nichts von ihr gehört, oder?«
»Nein«, notlog ich. »Nichts.«
Es war über zwei Monate her, dass der Pate zuletzt gesehen worden war. Na ja, außer von mir. Sie war Mitte August untergetaucht, nachdem sie in den Laden gerannt gekommen war und auf der Stelle gekündigt hatte.
»Ich arbeite hier nicht mehr, mit sofortiger Wirkung«, hatte sie Scarlet, Poppins und mir erklärt, während sie sich immer wieder über die Schulter umsah. Ihr dunkles Haar war schweißfeucht.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Poppins. »Ist jemand hinter dir her? Sollen wir die Polizei rufen?«
»Nein!«, war ihre nachdrückliche Antwort. »Ich bedaure, dass ich euch weder Details noch Frist geben kann. Mit euch allen zu arbeiten war eine adäquate Erfahrung für mich.« Sie drückte den Mädchen die Hände, dann packte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Sieh in deine Tasche«, flüsterte sie mir ins Ohr. Als sie aus dem Laden lief, ließ sie nichts zurück außer einen Kiss-of-Death-Abdruck in meinem Gesicht und einen Zettel in meiner Levi’s.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es gut für sie weiterging. Wenn ihr den Zettel gelesen hättet, würdet ihr wahrscheinlich das Gleiche denken, aber weil »singende Vögel im Topf landen« (so der Zettel), sage ich nur, ich wusste, wie ich sie erreichen konnte, falls ich je einen Gefallen brauchte, und den schuldete sie mir, nachdem ich tat, was auf dem Zettel stand (das würdet ihr jetzt wohl gerne wissen).
»Schau mal, Mommy! Da ist Scooby-Doo!«, rief ein kleines Mädchen in einem Power-Ranger-Kostüm und zeigte auf Hannibal. »Und sein Freund, der Junge mit dem grünen Hemd!«
»Ich bin Shaggy«, sagte ich und nahm die zwei Nummern entgegen, die die Mutter mir hinhielt.
»Die ganze Scooby-Doo-Bande, das ist so witzig«, sagte die Frau. Sie sah sich in dem vollen Laden um und zeigte auf Poppins und Maverick. »Da sind Velma und Fred, und …« Sie suchte meinen Blick, als ich die Videos aus dem Regal holte. »Wo ist Daphne?«
»Irgendwo hier. Wahrscheinlich holt sie Süßigkeitennachschub, damit coole Kids wie du nicht bloß Smarties bekommen«, sagte ich zu ihrer Tochter, als ich Scarlets Abwesenheit bemerkte.
Das kleine Mädchen grinste. »Smarties sind wie Medizin.«
»Genau«, sagte ich und schob ihrer Mutter die Kassetten über die Theke. »Rückgabe morgen bis neunzehn Uhr.«
In diesem Moment kam Scarlet aus dem Flur. Sie trug das kürzeste, engste lila Minikleid nördlich eines virginianischen Truckstop-Stripclubs. Dazu hatte sie einen grünen Schal an, knallrosa Strumpfhosen und eine grellorange Perücke, die Markenzeichen der Comicfigur-Daphne, von denen allerdings das ultratiefe Dekolleté mit dem Push-up-BH ablenkte, das sie dem Kostüm in ihrem kreativen Überschwang hinzugefügt hatte. Ich musste das Mädchen und seine Mutter nicht auf sie aufmerksam machen — wenn Scarlet den Raum betrat, war sie nicht zu übersehen.
Ich bediente die Schlange der Videoausleiher, verteilte Horrorfilme und Psychothriller wie warme Semmeln und fertigte gerade meine letzte Kundin ab, als Poppins mir zurief, die Schwartzens seien da. Ein Blick reichte, und Maverick löste mich an der Kasse ab. Er wusste, dass ich den ganzen Tag auf die echte Daphne gewartet hatte.
»Hey, Joel!« Marc gab mir die Hand und umarmte mich. »Shaggy passt zu dir.«
»Shaggy ist bei mir keine Kunst«, gab ich zurück. »Ich brauchte nur eine braune Cordhose. Die grünen T—Shirts hatte ich schon.«
Jana schnallte Daphne aus dem Kinderwagen. »Es ist so süß, dass ihr eine Team-Verkleidung habt.« Sie drückte dem Baby einen Kuss auf die Backe, bevor sie es mir reichte. »Das zeigt, wie gut ihr euch versteht.«
Nach Monaten der Übung war ich inzwischen viel entspannter, wenn ich Daphne hielt, und inzwischen kannte auch sie mich gut genug (von ihren Besuchen in der Videothek und meinen Besuchen bei ihr zu Hause), dass sie sich auf meinem Arm entspannte.
»Hallo, Kleine«, sagte ich zu ihr. »Schickes Kostüm.«
Daphne war es vollkommen schnuppe, dass sie als Kürbis verkleidet war und entzückend aussah, aber sie lächelte ein winziges halbmondförmiges Lächeln mit zauberhaften Winkeln und griff nach meiner Nase.
»Ooh«, gurrte Jana. »Ich muss unbedingt ein Foto von euch machen.« Sie holte die Kamera aus der Windeltasche. »Ich mache gleich ein paar, dann kann ich Nicole auch welche schicken.«
Sie musste mich nicht zum Lächeln auffordern. Ich strahlte schon.
Der Blitz der Kamera rief Scarlet auf den Plan, die am anderen Ende des Ladens aufschrie. Wie zu erwarten, kam sie sofort herüber und wollte mir das Baby wegnehmen. »Dudu«, säuselte sie und hob Daphne aus meinen Armen. »Du bist ja der süßeste Kürbis, den ich je gesehen habe!«
Daphne starrte erschrocken auf Scarlets Perücke und streckte die Arme nach mir aus.
»Hey, Daph, ich bin’s«, Scarlet nahm die Perücke ab. »Ich habe mich verkleidet, damit ich auch eine Daphne bin!«
Ich hatte geahnt, dass Scarlet uns deswegen zu Scooby-Doo verdonnert hatte, aber ich hatte nichts gesagt. Es wusste sowieso jeder, dass Scarlet verrückt nach dem Baby war. Und manche Formen der Verrücktheit waren gesund.
Als Daphne sah, dass Scarlet wieder blond war, ließ sie sich von ihr halten. »Sie fühlt sich größer an«, sagte Scarlet zu Jana und herzte das Baby. »Sie wächst zu schnell.« Es war ein Klischee, aber es stimmte auch.
»Ich weiß«, seufzte Jana. »Es heißt, die Tage sind lang, aber die Jahre sind kurz.«
Nachdem sie Daphne noch ein bisschen geknuddelt hatte, setzte sich Scarlet die Perücke wieder auf, und wir posierten zu dritt für ein Foto. Dann versammelten wir den Rest des Teams für Gruppenbilder mit Daphne. Doch diesmal bekam sie keiner zum Lächeln, denn Daphne hatte nur Augen für Hannibal.
»O Gott, sie liebt dich!« Poppins kitzelte Daphnes Fuß. »Sie denkt, du wärst wirklich ein Hund, Hanni!«
»Hey, hey, kleine Freundin!« Hannibal hüpfte und ließ die Augen seines Plüschgesichts kullern, und Daphne lachte tief aus dem Bauch.
Nach den Fotos mit Daphne wollten auch andere Familien Fotos von uns mit ihren Kindern, was unerwartet war, aber wahrscheinlich trifft man nicht alle Tage die ganze Gang von Scooby-Doo in der Videothek. Ein paar Kinder fragten sogar nach Autogrammen, weil sie dachten, wir wären echt.
»Hey, Joel!«, sagte Marc irgendwann und nahm mich beiseite. »Daph braucht ihr Fläschchen und wir brechen auf. Aber wir sehen dich nächstes Wochenende zum Abendessen im Headlights, oder?«
»Kat würde mich umbringen, wenn ich schwänze«, sagte ich. Dann fiel mir etwas ein. »Ach ja — Maverick sagt, er würde diesmal Ben mitbringen.«
»Wird aber auch Zeit, dass wir ihn endlich kennenlernen.« Marc grinste. »Hat sonst noch jemand ein Date?«
»Nein, ich komme allein, wie immer.«
»Du meinst, du kommst solo?« Er zeigte auf mein Namensschild. Dann sagte er: »Ach, und wenn du das nächste Mal mit Baby sprichst, sag ihr …«
»Dass niemand Baby in die Ecke stellt.«
Marc drückte meine Schulter. »Guter Mann.«
Die Schwartzens bahnten sich den Weg zur Tür, und Jana nahm Daphnes Hand und tat so, als würde sie uns Küsse zuwerfen, bevor sie draußen in der Menge der kostümierten Kinder verschwanden.
Es war ein schönes Halloweenfest, auch wenn weniger passierte als letztes Jahr. Eigentlich passierte nichts anderes als an jedem normalen Samstag bei ROYO Video auch, und das war gut so. Nur dass ich irgendwie das Gefühl hatte, es fehlte etwas.
Um ehrlich zu sein, hatte ich dieses Gefühl immer.
Gegen vier, als das offizielle Kinder-Halloween endete und die Menge sich verlief, machte ich Pause. Ich setzte mich mit dem schnurlosen Telefon auf die Couch im Pausenraum, nahm meine Telefonkarte heraus und versuchte mich (wie immer) zu erinnern, ob Michigan und New York in derselben Zeitzone lagen.
Babys Mitbewohnerin ging ans Telefon.
»Hallo Kylie, ist Nicole da?«
Ich hörte, wie sie die Hand auf den Hörer legte, und dann ein gedämpftes: »Nik! Für dich …« Noch mehr gedämpfte Worte. »Star Wars.«
Offenbar konnte sich Babys Mitbewohnerin »Han Solo« nicht merken. Aber das störte mich nicht; bei Spitznamen war ich nicht heikel.
Nach ein paar Sekunden hatte ich Baby am Apparat. »Und, hatte ich recht? Hat Scarlet es geschafft, ihrem Scooby-Doo-Kostüm Riesenbrüste zu verpassen?«
Ich lächelte, glücklich, ihre Stimme zu hören. »Megabrüste.«
Sie lachte. »Ich wusste es.«
»Alle wussten es. Ich glaube, die Hälfte unserer Kundschaft ist nur deswegen gekommen. Wie läuft es am College?«
»Gut, aber anstrengend. Zum Glück bin ich nicht so bescheuert wie viele andere hier.« Sie hielt das Telefon weg und sagte: »Nicht du, Kylie. Reg dich ab.«
»Freut mich zu hören.«
»Wie läuft’s bei dir? Du redest nie vom College.«
»Weil es ein langweiliges Gemeindecollege ist. Ich habe im Literaturkurs drei Wochen hintereinander geschlafen und trotzdem 98 Prozent bekommen.«
»Super. Schreib weiter gute Noten. Dann kannst du nächstes Jahr wechseln.«
»Meinst du wirklich, dass ich mich noch mal am Sarah-Lawrence-College bewerben sollte?«, fragte ich. »Willst du immer noch, dass ich komme?«
»Natürlich. Ich wünschte, du wärst jetzt hier, Solo«, schnaubte Baby. »Keine Ahnung, warum sie dich abgelehnt haben.«
»Ich wurde nicht abgelehnt, ich kam auf die Warteliste und habe nie wieder etwas gehört«, erinnerte ich sie. »Was wahrscheinlich so gut wie eine Absage ist.«
»Egal. Komm einfach her«, sagte sie, bevor sie wieder auf ROYO Video kam. »Was habe ich heute noch verpasst außer Scarlets Dekolleté?«
»Die Schwartzens waren da. Und bevor ich es vergesse, Marc lässt ausrichten …«
»Ich weiß, was du sagen willst, Solo. Richte Marc aus, der Witz hat einen Bart und er soll ihn auf keinen Fall Daphne beibringen.«
Ich lachte. »Apropos Daphne. Sie war ein Kürbis. Jana schickt dir Fotos.«
»Ooh! Hoffentlich krieg ich sie bald«, sagte Baby sehnsüchtig. »Glaubst du, Daphne erinnert sich an mich, wenn ich an Thanksgiving nach Hause komme?«
»Natürlich! Du hinterlässt bei jedem einen bleibenden Eindruck«, versicherte ich ihr.
»Halt die Klappe.«
»Es stimmt. Dad sagt, meine Großeltern reden immer von dir«, sagte ich. »Sie fragen, ob du nächsten Sommer wieder mitkommst, wenn Dad und ich sie besuchen.«
Ich hörte fast, wie sie die Augen rollte. »Gott, Solo. Was will deine Familie bloß von mir?«
Ich lachte. »Keine Ahnung. Ich verstehe es auch nicht.«
In dem Moment rief mich Poppins aus dem Flur. »Solo! Dein Vorstellungsgespräch ist da.«
»Mist«, sagte ich zu Baby. »Ich habe vergessen, dass sich heute jemand vorstellt.«
»Schon gut«, antwortete sie. »Ich muss sowieso lernen. Wir haben nächste Woche Prüfungen.«
»Du bist bestimmt brillant.«
»Ja. Weil ich mir den Arsch aufreiße.«
»Solo!«, rief Poppins wieder.
»Ich komme!«, rief ich zurück. »Okay, ich muss los. Ich rufe dich bald wieder an.«
»Montag?«, fragte Baby. »Nein, warte, montags hast du Therapie, oder?«
»PFLAG-Meeting«, korrigierte ich sie. »Familientherapie ist diese Woche am Dienstag. Na ja, jedenfalls für Dad und mich.«
»Maureen kommt immer noch nicht mit?«
»Nein«, sagte ich. »Aber ich lade sie immer wieder ein.«
»Mehr kannst du nicht tun, oder?«
»Nein … Ich ruf dich danach an, um dich auf den neuesten Stand meiner unglaublichen Fortschritte zu bringen.«
Baby lachte. »Gut, dann lerne ich an dem Abend zu Hause.«
»Und sitzt neben dem Telefon, bis ich anrufe?«
»Halt die Klappe«, sagte sie. »Aber: ja.«
Ich schwieg ein paar Sekunden. Ich wollte nicht auflegen. »Ich liebe dich, Baby«, sagte ich schließlich.
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich liebe dich auch.«
»Ich weiß.«
»Warum willst du Teil des ROYO-Video-Teams werden?«, fragte ich Angela Khoury, die Bewerberin.
Wir saßen im Büro. Ich hatte den Stift in der Hand, um ihre Antworten zu notieren, auch wenn es ohnehin gut für sie aussah, weil sie abends und am Wochenende arbeiten konnte, was eigentlich die einzige Anforderung war.
»Ich liebe Filme. Und ich wohne um die Ecke.«
»Ich danke dir für die Ehrlichkeit«, sagte ich. »Wo siehst du dich in fünf Jahren beruflich?«
Sie sah mich unsicher an.
»Ich weiß nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nie, was ich auf diese Frage antworten soll. Wenn ich sage, ich habe nicht vor, in fünf Jahren noch hier zu sein, stellt ihr mich vielleicht nicht ein, weil ich nicht loyal bin. Aber wenn ich sage, ich will in fünf Jahren noch hier arbeiten, klingt das, als hätte ich keinen Ehrgeiz.«
Ich warf die Papiere auf den Tisch. »Weißt du was? Ich glaube, du passt gut hierher.«
»Wirklich?« Sie lächelte. »Ich kriege den Job? Einfach so?«
»Na ja, du musst noch die Formulare ausfüllen«, sagte ich. »Aber wenn du das schaffst, dann haben wir einen Platz für dich bei ROYO Video.«
»Cool!« Sie klatschte in die Hände und nahm den Papierstapel vom Schreibtisch. »Was passiert als Nächstes?«
Ich holte ein Schlüsselband aus der Schreibtischschublade und klippte ein unbeschriebenes Namensschild daran. »Jetzt suchst du dir einen Arbeitsnamen aus. Alle hier heißen nach einer Filmfigur«, erklärte ich. »Wie willst du heißen?«
»Oh! Witzig! Was gibt es zur Auswahl?«
»Du kannst dir alles aussuchen, was noch nicht vergeben ist«, sagte ich und las ihr die Namen der anderen vor. »Die meisten nehmen einfach ihre Lieblingsfigur aus ihrem Lieblingsfilm. Ich bin Solo, Han Solo. Poppins heißt nach Mary Poppins. Du verstehst schon.«
»Okay.« Sie überlegte. »Ich habe zwei Lieblingsfilme: Dirty Dancing und Die Braut des Prinzen. Was, meinst du, soll ich nehmen?«
Ich sah Angela an und lächelte.
»Wie findest du ›Buttercup‹?«, fragte ich.
»Perfekt.«
Ich schrieb ihren Namen auf das Namensschild. »Komm morgen um fünf. Wende dich an meinen Kumpel Maverick. Er weist dich ein.«