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Wenig später stand Rust in seinem Wohnungsflur, den Telefonhörer am Ohr. Er hatte seinen Chef angerufen, ihm die Lage geschildert und um Rat gebeten.
»Was Sie mit Ihrer Freizeit anstellen, Genosse Rust, darüber habe ich nicht zu verfügen. Solange es sich mit unseren Richtlinien vereinbaren lässt, wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagte sein Vorgesetzter.
»Das verstehe ich schon, Genosse Hauptmann. Ich will nur ein paar von der Nachtschicht befragen.«
»Vergessen Sie aber nicht, dass keinerlei Ermittlungsauftrag vorliegt. Die betroffenen Eltern müssten eine Strafanzeige stellen. Es sei denn, Sie wollen Anzeige erstatten. Aber das würde auch nicht unsere Abteilung betreffen. Da muss man Experten zu Rate ziehen.«
Rust nickte schweigend vor sich hin. Das Telefonat zog sich schon unnötig in die Länge, und die Angelegenheit mit dem Kinderwagen hatte er dabei ganz vergessen. Hoffentlich war es nicht zu spät. Er nutzte die kurze Pause, um einzuhaken.
»Wie gesagt, ich will nur fragen. Ich wollte Sie nur um Ihre Meinung bitten.« Er sprach nur halblaut, in der Wohnung über ihm rumorte es. Der Plattenbau übertrug jedes Geräusch in alle Etagen. Jeder würde etwas vom Babygeschrei abbekommen, ob er wollte oder nicht. Doch beschweren sollte sich keiner, waren doch die Kinder der anderen auch nicht gerade leise.
»Also, fragen kostet ja nichts. Urlaub haben Sie sowieso. Aber gemach, Genosse, keinen Übereifer! Bei solch heiklen Angelegenheiten stößt man schnell in ein Wespennest.«
Irgendwie kam es Rust vor, als ob sein Chef sich über ihn lustig machte. Aber vielleicht war es nur seine Art.
»Ich werde Vorsicht walten lassen. Vielen Dank erst mal!«
Rust legte auf und musste kurz überlegen, was er noch vorgehabt hatte. Dann fiel es ihm ein. Im Wohnzimmer fand er die ausgeschnittene Anzeige auf dem Couchtisch. Er ging wieder zum Telefon.
»Guten Tag, Rust hier, wir hatten gestern schon wegen dem Kinderwagen …« Rust wurde unterbrochen.
»Schon weg«, wiederholte er das Gehörte. »Gerade eben.« Das zu sagen war unnötig gewesen, auch wenn die Frau damit nur ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollte. Heike würde sich ärgern. Rust ging durchs Wohnzimmer in die kleine Küche und warf den Zettel in den Mülleimer. Er musste seiner Frau ja nicht sagen, dass sie den Wagen knapp verpasst hatten. Dann würde sie ihm wenigstens nicht allzu böse sein.
Rust sah zum Fenster hinaus. Vor seinen Augen breitete sich das stetig wachsende Wohngebiet aus. Plattenbauten, wohin er sah, Fundamente, Rohbau oder auch schon Häuser, fast zum Bezug bereit. Zehntausende Wohnungen sollten entstehen, wusste Rust, überall in der DDR
. Schwarze Rußwolken stiegen hinter dem nächsten Block auf, einmal alle zwei Wochen verbrannten die Bauarbeiter ihren Müll in großen Gitterboxen. Rust wusste von gigantischen Bebauungsplänen. Am Rande der Stadt, mitten auf dem Feld, sollten riesige Wohngebiete entstehen. Bezahlbarer Wohnraum für zehntausende Menschen. Schon erstaunlich, was dieser kleine Staat stemmte. Da konnte man über die verschlammten Wege im Neubaugebiet schon mal hinwegsehen oder darüber, dass ein Fernseher ein halbes Jahresgehalt kostete. Die Leute sollten das viel mehr zu schätzen wissen, dachte er sich.
Trotz der schlechten Akustik waren sie heilfroh gewesen, eine Wohnung in einem der ersten fertigen Wohnblöcke bekommen zu haben. Sie hatten Zentralheizung, ein schönes kleines Bad mit Wanne, ein Kellerabteil mit Trockenraum, ein Zimmer für das Kind und sogar einen Balkon. In der Nähe sollte ein Kindergarten eröffnet werden, eine Poliklinik gab es auch und eine Kaufhalle. Der reinste Luxus im Vergleich zu seiner alten Bude in der Neustadt, in der sie zwei Jahre gelebt hatten.
So viele Leute warteten auf eine Wohnung wie diese. Rust wusste, dass sie bevorzugt behandelt worden waren, weil Heike schwanger war und hauptsächlich, weil er Polizist und SED
-Mitglied war. Genauso war er zu seinem Trabant gekommen. Er wusste von Freunden, die schon Jahre auf ihr bestelltes Auto warteten. Er hatte kein schlechtes Gewissen deshalb. Jeder nahm, was er bekommen konnte. Auch in seine alte Wohnung, kaum mehr als zwei feuchte Zimmer, mit Toilette auf der Halbtreppe, war gleich wieder jemand eingezogen.
Rust sah auf die Uhr. Er hatte noch Zeit, wollte die Gelegenheit nutzen, um sich ein wenig auszuruhen, sich von dem Schreck zu erholen und etwas zu tun, was er sonst kaum tat. Aus dem Wohnzimmerschrank holte er eine Schallplatte, legte sie vorsichtig auf das Abspielgerät, setzte ebenso behutsam die Tonnadel auf. Heike mochte die Musik von Manfred Krug nicht besonders, jetzt war also eine gute Gelegenheit. Rust legte sich auf die Couch, sah noch einmal auf die Uhr. Vier Stunden hatte er noch, ehe im Krankenhaus die Nachtschicht begann.