8
Dresden, Oktober 1993
Ricarda überprüfte ihre Tasche, ob sie alles dabeihatte, vor allem die abgestempelten Bewerbungen, die sie vorlegen musste. Noch einmal sah sie sich um. Das Licht war überall aus. Sie zögerte trotzdem und lief dann zum wiederholten Mal durch das Wohnzimmer in die Küche und sah nach der Kaffeemaschine, die sie vor zwei Jahren als Werbegeschenk erhalten hatte. Natürlich hatte sie sie ausgeschaltet, wie immer. Doch es war zu ihrem Tick geworden, immer noch einmal nachzusehen. Vor dem Spiegel richtete sie noch einmal ihre Frisur. Jetzt wurde es Zeit. Die Bahn kam in vier Minuten. Ricarda wollte pünktlich auf dem Arbeitsamt in der Budapester Straße sein. Sonst würde sie wieder stundenlang warten müssen.
Das Warten selbst machte ihr nichts aus. Sie hatte genügend Zeit. Aber sie mochte die Atmosphäre dort nicht. Drei, vier Jahre hatten genügt, um alle zu konsternieren. Viele Betriebe hatten schließen müssen, viele hatten ihren Arbeitsplatz verloren, nichts war mehr von Wert. Keine Maschine, kein Produktionsverfahren, keine Ausbildung, keine Besitzurkunde. Wer einen Job haben wollte, musste Glück haben oder in den Westen gehen. Das hatte viele verbittert. »Ist eben so« war eine geläufige Floskel. Doch die Zukunft hatten sie sich so nicht vorgestellt.
Vor zwei Jahren war auch Ricarda gekündigt worden. Gerade als sie aus ihrer alten Pieschener Wohnung in die Wohnung im riesigen Plattenbaugebiet Gorbitz eingezogen war. Ein Jahr später hatte der gesamte Betrieb schließen müssen, ihre Anteile hatten sich in Luft aufgelöst. Einzig der Insolvenzverwalter schien noch etwas verdient zu haben. Im Arbeitsamt traf sie immer mal wieder auf ehemalige Kollegen. Es war kein Trost. Arbeit gab es nicht.
In den vergangenen zwei Jahren hatte Ricarda hunderte Bewerbungen geschrieben, Dutzende Vorstellungsgespräche gehabt, wobei sie oft gleich von der Sekretärin nur gefragt wurde, wo sie den Stempel aufdrücken sollte, als Beweis für ihre Anwesenheit. Niemand wollte etwas von ihrem Diplom wissen oder von den fast zwanzig Jahren Berufserfahrung.
Ricarda hatte sich ganz gut arrangiert. Sie las viel und telefonierte oft mit Ines, die jetzt in Freiburg studierte, so weit weg, dass sich die Heimfahrt am Wochenende kaum lohnte. Eine Stunde am Tag studierte Ricarda die Anzeigen in den Zeitungen, doch nie war etwas dabei, was wenigstens annähernd zu ihrem Berufsbild passte. Putzen gehen könnte sie, was sie aber erst tun würde, wenn das Amt sie zwang. Doch welche Aussichten auf einen guten Job würde sie mit diesem Eintrag im Lebenslauf haben? Steffen war das beste Beispiel dafür. Er hatte die erstbeste Stelle auf dem Bau angenommen, nur zur Überbrückung, um ja nicht arbeitslos zu bleiben, nachdem auch sein Großbetrieb aufgelöst worden war. Nun arbeitete er seit vier Jahren als ungelernter Hilfsarbeiter, mit manchmal zwanzig Überstunden in der Woche und einem lächerlichen Stundenlohn und bekam manchmal vier Monate lang kein Geld ausgezahlt, weil die Großkunden seinem Chef die Rechnungen nicht bezahlten. Wer arbeitslos war, musste bereit sein, in den Westen zu pendeln, und all diejenigen, die einen Job hatten, die sich Urlaub und Kleidung, Autos und Fernseher leisten konnten, waren so damit beschäftigt, dass kaum Zeit für anderes blieb. Sah so die ersehnte Freiheit aus?
Und plötzlich wollte keiner mehr bei Kohl an der Ruine der Frauenkirche gestanden und die Wiedervereinigung gefordert haben. Ricarda war Pragmatikerin und hatte sich arrangiert. Die DDR
war kein Paradies gewesen, nicht einmal eine richtige Heimat. Besser so und besser die Hoffnung, es würde sich alles irgendwann regeln, einpendeln, sortieren.
Auch mit Steffen hatte sie sich arrangiert. Sie mussten ja miteinander auskommen. Zu Ines’ Abifeier waren sie gemeinsam gegangen. Auch die Großeltern waren eingeladen gewesen. Alle. Ricarda hatte sich ihrer Tochter zuliebe zurückgenommen und war ihrem Vater entgegengekommen. Das heikle, leidige Thema wurde nicht angesprochen und alle waren zufrieden. Ines, die ihre schwarze Kleidung nicht aufgegeben hatte, sich jetzt aber nicht mehr Grufti nannte, sondern Goth, hatte das zu schätzen gewusst. Sie hatte die Anwesenheit der Familie genossen und sich unter Tränen von ihrer Mutter verabschiedet, als sie das erste Mal nach Freiburg fuhr. Das war ein Trost, von dem Ricarda noch immer zehrte.
Natürlich hatte sie selbst nie aufgehört, über das Thema nachzudenken. Sie sprach bloß nicht mehr darüber. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen? Sie hätte nicht darüber reden sollen, dann hätten alle ihre Ruhe gehabt, dann wären alle zufrieden gewesen. Stattdessen hätte sie sich auf eigene Faust kümmern sollen.
Das tat sie jetzt. Zeit genug hatte sie. Erst letzte Woche hatte sie jemand auf den Gedanken gebracht, bei der Stasiunterlagenbehörde Akteneinsicht zu verlangen. Nun wartete sie jeden Tag darauf, einen Brief im Briefkasten zu finden. Es könnte Monate dauern, bis der Antrag bearbeitet werden würde, hatte man sie gewarnt.
Gerade als sie die Wohnungstür schloss, begann das Telefon zu klingeln. Ricarda hatte eigentlich keine Zeit, die Bahn kam jeden Augenblick. Aber vielleicht war es Ines? Hatte sie Schwierigkeiten? Oder die Stasibehörde? Schnell schloss Ricarda wieder auf und eilte ins Wohnzimmer, wo der Apparat stand.
»Raspe!«, meldete sie sich.
Ein kurzes raues Husten verriet ihr, wer am Telefon war. »Barbara?«, fragte sie.
»Ja!« Barbara lachte. »Hab mich gerade an mir selbst verschluckt«, erklärte sie, hustete und lachte dabei.
»Ist was?«, fragte Ricarda. So kannte sie ihre Freundin. Aufgekratzt, manchmal bis zur Unerträglichkeit, doch die Uhrzeit war ungewöhnlich. Normalerweise schlief ihre Freundin um diese Zeit, weil sie bis in die Nacht kellnerte.
»Wie geht’s dir denn?«, fragte Barbara.
»Ganz gut so weit, aber ich muss gleich los, ich muss zum Amt.« Ob sie vielleicht getrunken hatte, fragte sich Ricarda. Das kam häufiger vor in letzter Zeit.
»Ja, deshalb ruf ich an. Also, zu uns in den Laden kommt doch alle Woche mal so ein Typ. Ich weiß gar nicht, ob der Vertreter auf Durchreise ist, oder so. Der hat einen schrecklichen Westdialekt, ich vermute mal Schwäbisch. Jedenfalls baggert der mich immer an und lässt schön die Scheinchen fliegen. Ich lass ihn aber immer abblitzen. Ist gar nicht mein Typ, ganz groß, mit Mantel. Der kommt sich wohl wie ein Geheimagent vor.« Barbara lachte.
»Bärbel!«, sagte Ricarda.
»Also, wie gesagt, gestern haben wir geredet. Man muss ja trotzdem nett sein. Man weiß ja nie, ob man den nicht doch mal gebrauchen kann.«
»Du, ich muss …«, drängte Ricarda. Das war wieder typisch für Barbara. So hatte sie ihr ganzes Leben schon verbracht. Ein einziges großes Palaver.
»Jedenfalls hat er mir erzählt, dass die wohl Leute für die Verwaltung suchen. Soll ein ganz guter Job sein. Auf jeden Fall ist es einer. Bissel außerhalb, und man muss vor Ort wohnen, aber die Unterkunft wird wohl bezahlt!«
Ricarda seufzte. »Barbara, wer denn? Wer sucht Leute?«
»Ach so, so eine große Möbelbude. Ich habe es aufgeschrieben, zumindest die Nummer. Wirst ja hören, wer rangeht, wenn du anrufst. Du musst aber sagen, dass du eine Empfehlung von Herrn Maier hast. Mit ai, okay? Ich sag dir mal die Nummer. Hast du einen Stift?«
»Hab ich.« Ricarda nahm sich einen Kugelschreiber und notierte sich die Nummer auf ihrem kleinen Notizblock.
»Das ist ja die Leipziger Vorwahl«, sagte sie erstaunt.
»Ja, sag ich ja, ist ein bisschen weiter weg. Das musst du dir überlegen, ob sich die Fahrerei lohnt oder ob du unter der Woche dortbleibst.«
»Danke«, sagte Ricarda und sah zur Uhr.
»Wie geht’s dir sonst so? Was macht die Stasisache?«
»Bärbel, ich muss los …!«
»Mensch, du immer mit deinen Plänen. Zum Amt kannst morgen auch noch. Läuft dir nicht weg. Und wenn du dir selbst einen Job besorgst, bekommst du vielleicht sogar noch einen Orden. Also, sag, was ist denn mit der Stasi?«
Ricarda gab auf, knöpfte ihren Mantel auf und setzte sich in den Sessel.
»Ich habe einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Die müssen jetzt erst mal rausfinden, ob überhaupt eine Akte angelegt wurde. Da bin ich mir aber sicher, denn ich war ja damals einbestellt. Nicht nur einmal.«
»Hm, weiß ich gar nicht!«
Ricarda schüttelte den Kopf, natürlich wusste Bärbel das. Doch sie hatte es schon immer gut verstanden, das Unangenehme zu verdrängen. Sie lebte und feierte gern, auch mit ihren Gästen in der Gaststätte. Ob es dabei immer nur beim Alkohol blieb, war fraglich. Ricarda mochte diesen Lebenswandel nicht, auch nicht, dass Barbara immer mal wieder mit einem der Gäste mitging oder sich sogar auf Beziehungen mit Geschäftsleuten einließ, die dann auch mit einer gewissen finanziellen Vergütung verbunden waren. Barbara hatte früher schon immer mal Westgeld gehabt und konnte im Intershop einkaufen. Aber sie war eben Ricardas Freundin, schon seit frühester Kindheit.
»Ich muss jetzt auf einen Bescheid und einen Termin zur Einsicht warten.«
»Ich habe ja gehört, dass man die Akte gar nicht sehen darf. Jemand anderes guckt da für dich rein.«
»Aha?« Davon wusste Ricarda noch nichts.
Barbara hustete bestätigend. »Wegen Datenschutz oder so. Sonst könntest du ja auch was über andere Leute lesen, das du nicht wissen darfst. Aber wer weiß. Die Schweine haben so viel Zeug vernichtet nach der Wende, da wird am Ende gar nichts mehr da sein.«
Ricarda schwieg dazu, denn das war auch ihre größte Befürchtung. Eine kleine Pause entstand.
»Also, Bärbel, ich muss dann …«
»Weißt du, was du machen musst?«, rief Barbara in diesem Moment. »Kamelhaardecken verkaufen. Oder irgend so einen anderen Mist. Dann haust du dir den Bus voller alter Leute, karrst die in eine Kneipe und schließt die Türen zu, so lange, bis der ganze Pfeffer verkauft ist. Das machen die hier in der Kneipe bei mir. Mieten den großen Saal und verkaufen Decken wie bekloppt.«
Barbara war nicht zu bremsen. Ricarda wurde das jetzt zu viel.
»Gut, ich ruf jetzt gleich mal da an.«
»Ja, mach das mal«, sagte Barbara. »Und wenn du mal Zeit hast, ich hab im Otto-Katalog ein Kleid gesehen, würde dir bestimmt gefallen, können ja eine Sammelbestellung machen. Wir sollten uns eh mal wiedersehen.«
»Barbara, ich muss jetzt wirklich. Ich rufe dich am Nachmittag noch mal an.«
»Einfach nur telefonieren?«, fragte Ricarda nach. Sie schwitzte, und ihre Armbeuge schmerzte, weil sich der Mantelstoff hineinpresste. Sie hätte sich vor dem Telefonat den Mantel ausziehen sollen.
»Ja, Kundengespräche führen, im Beratungssektor«, sagte die freundliche Frau mit bayrischem Dialekt.
»Und ein Vorstellungsgespräch gibt es nicht?«
»Also, das geht ganz unkompliziert. Sie kommen her, wir führen noch ein kurzes Personalgespräch, Sie unterschreiben den Arbeitsvertrag und können auch gleich anfangen.«
»Und ab wann?«
»Gleich nächste Woche. Ich kann Ihnen einen Termin Montag früh um neun anbieten.«
»Nächste Woche?« Nun war Ricarda doch überrascht. Die Bedingungen schienen zu passen. Sie hatte ja sowieso keine Auswahlmöglichkeit. Unter der Woche von daheim weg zu sein, würde ungewohnt sein, aber im Grunde hielt sie hier nichts weiter.
»Also gut, ja, tragen Sie den Termin ein. Ich komme. Vielen Dank!«
»Wunderbar, wir können flexible Leute wie Sie gut gebrauchen. Flexibilität fehlt den meisten hier in der Zone. Wir freuen uns auf Sie!«
Ricarda bedankte sich und legte auf. Sie war irritiert. Das war wirklich unangebracht gewesen, die angeblich fehlende Flexibilität zu beklagen und dann auch noch von der »Zone« zu sprechen. Wie wenn man bei einem guten Essen auf ein Pfefferkorn biss.
Nun würde sie also auch pendeln, wenn auch nur zwischen Dresden und Leipzig. Sie würde sich Bücher mitnehmen, und wer weiß, vielleicht fand sich in einem neuen Kollegenkreis auch eine nette Bekanntschaft.
Das vermisste sie zunehmend, seit Ines aus dem Haus war. Da half auch die Freundschaft mit Barbara nicht oder mit Yvonne, einer jungen Frau, der sie vor einer Weile begegnet war und mit der sie ein gutes Verhältnis verband. Es war oft still in der Wohnung. An den neuen Fernsehsendungen hatte sie sich schnell sattgesehen. Seltsam, dass sie früher von der Westwerbung im Radio und Fernsehen nicht genug haben konnte. Da war die Werbung wie ein Blick in ein schönes Schaufenster gewesen, so viele Produkte, die man niemals oder nur ganz selten in die Hände bekam und auch nur, wenn man Westverwandtschaft hatte. Nun hingen ihr die andauernden Werbespots zum Hals heraus.
Sie war im Sessel sitzen geblieben, hatte sich noch immer nicht ausgezogen, sah aus dem Fenster hinaus, wo sich unterhalb des riesigen Plattenbauviertels die Stadt im Tal ausbreitete. Was fing sie nur an mit dem Tag, der so ungewöhnlich begonnen hatte? Zum Arbeitsamt würde sie trotzdem fahren, nahm sie sich vor, noch war nicht unterschrieben, dass sie den Job bekam. Jetzt würde sie zwar länger warten müssen, doch nun hatte sie wenigstens etwas in Aussicht. Natürlich würde es eine Menge Dinge zu beachten geben. Jemand müsste ihren Briefkasten regelmäßig leeren. Steffen würde das wohl übernehmen müssen. Sie pflegten seit einigen Jahren wieder ein gutes freundschaftliches Verhältnis zueinander, was vor allem an ihr lag. Das Thema nicht mehr anzusprechen, war ein Zugeständnis an Ines gewesen. Geändert hatte sich für Ricarda deshalb nichts. Offenkundig war Steffen sehr erleichtert und glaubte wirklich, sie hätte sich ihrem Schicksal ergeben, was sehr naiv war von ihm.
Jetzt fühlte sich Ricarda Raspe auf einmal wieder hellwach. Es wurde Zeit, und es gab einiges zu tun. Die ersten Monate ihrer Arbeitslosigkeit hatte sie in einer schrecklichen Lethargie verbracht, die einer Depression gleichkam. Es war genau das eingetreten, was die Propaganda der DDR
jahrzehntelang vorgebetet hatte, zuerst Arbeitslosigkeit, dann Armut, dann der Verlust der Wohnung und der sozialen Kontakte. Die neue Freiheit wurde teuer bezahlt, der bunte Lack der BRD
schien schon nach wenigen Jahren abzuplatzen.
Dann aber war etwas mit Ricarda geschehen. Nach einiger Zeit hatte sich ein gewisses Vertrauen bei ihr eingestellt. Das Arbeitslosengeld genügte gerade zum Leben, wenn man keine Ansprüche hatte. Niemand schien ihr die Wohnung streitig machen zu wollen, selbst ihr kleines Auto konnte sie behalten, wenn sie es nicht zu oft nutzte. Sie bekam langsam den Kopf frei und hatte wieder begonnen, sich Gedanken über ihr verlorenes Kind zu machen. Das war sie dem Kind schuldig, und es war ihr gutes Recht, die Wahrheit zu erfahren, egal wie viele Jahre vergangen waren. Mit ihrer Familie hatte sie es sich sowieso verdorben. Viel mehr zu verlieren hatte sie nicht.
Sie hatte ganz vorsichtig begonnen, tastete sich behutsam an alles heran. Nicht nur an die Fakten, auch an ihre Erinnerungen und Gefühle. Seit dem schrecklichen Vorfall damals, dreiundsiebzig, war sie nicht mehr in die Nähe der Klinik gekommen. Ines hatte sie Jahre später in einem anderen Krankenhaus zur Welt gebracht, weit weg vom Einflussbereich ihres Vaters. Sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie das Gelände wieder betrat, wenn vor ihr das Haus auftauchte, in dem ihr Kind verschwunden war und mit ihm ihr ganzes vorheriges Leben.
Sie hielt es aus, diese erste Begegnung. Wie sie auch den ersten Besuch auf dem Friedhof aushielt, wo ihr Kind unter einem schlichten Grabstein liegen sollte. Kein einziges Mal war sie hier gewesen in den zwanzig Jahren. Es war ein Mädchen, hatte man ihr gesagt. Deshalb hatte sie den Namen Katrin auf den Grabstein meißeln lassen. So hätte ihre Tochter heißen sollen. Aber Ricarda hatte keine Trauer empfunden. Denn sie war überzeugt davon, dass es keinen Grund gab zu trauern. Etwas Schlimmes war geschehen, doch sie war sich sicher, ihre Tochter lebte, irgendwo. Deshalb hatte sie es nie für nötig erachtet, das Grab zu besuchen. Ihre Eltern taten es gelegentlich, das wusste sie, und davon zeugten auch die kleinen Blumentöpfe.
Natürlich wäre es leichter gewesen zu akzeptieren, was geschehen war, auch jetzt noch hätte sie die Möglichkeit, abzuschließen, sich abzufinden mit der Tatsache, so wie es sich ihre Eltern und wie es sich auch Steffen und Ines wünschten. Doch das ging nicht. Sie war nicht bereit dazu. Noch nicht. Erst musste sie Antworten auf all ihre Fragen erhalten. In der DDR
waren ihr die Hände gebunden, alle Recherchemöglichkeiten verwehrt gewesen. Sollte die neue Zeit mit all ihren Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ihr wenigstens diese Chance geben. Sie lebte jetzt in einem freien Land, in dem man tun und lassen durfte, was man wollte.
Es hatte Ricarda einige Überwindung gekostet, die Klinik zu betreten. Inzwischen waren die Regeln längst nicht mehr so streng wie früher. Man konnte beinahe jederzeit in das Gebäude hinein oder hinaus.
Sie war die Stufen zum Hauptportal hinaufgestiegen, hatte sich umgesehen, nach bekannten Plätzen und Gesichtern gesucht, hatte in sich hineingehorcht. Vergebens. Weder hatte sie jemanden erkannt noch angesprochen noch hatte es ihr emotional geholfen. Alles war wie immer, als sie das Gebäude wieder verließ. Sie war nicht stärker und nicht schwächer geworden. Sich der Vergangenheit zu stellen, seine Gefühle zuzulassen, das hörte sich immer gut an, dieses Gerede der Psychologen. Seinem Schmerz nachspüren. Sie hatte lang genug Schmerz gespürt.
Es war ihr klar, sollte sie jemals ihr Kind finden, würde es ein ganz anderes Leben geführt haben, sie nicht kennen, sie nicht vermissen. Vermutlich würde sie nur Unheil in das Leben der unbekannten Tochter bringen, Zwietracht säen und Zweifel. Doch darum ging es ihr längst nicht mehr. Vielleicht würde sie sich gar nicht zu erkennen geben. Sie wollte lediglich Gewissheit und sie wollte wissen, was damals geschehen war.
Ihr Vater war ein angesehener Arzt und konnte auf eine beachtenswerte Medizinkarriere zurückblicken, die auch unter der Wende nicht gelitten hatte. Er war Professor mit Lehrstuhl an der Medizinischen Akademie und ein gern gesehener Gast auf großen Kongressen, hatte sich in der Frauenheilkunde und der Endokrinologie verdient gemacht, mit empirischen Forschungen und Entwicklungen von neuen Therapien. Sein Grundstück, das er in den Siebzigerjahren erworben hatte, war nach neuesten Schätzungen mehrere Millionen D-Mark wert. Der Versuch des ehemaligen Besitzers, das Grundstück zurückzubekommen, war gescheitert. Ihr Vater galt als rechtmäßiger Besitzer. Seine jahrzehntelange SED
-Mitgliedschaft, seine Privilegien zu DDR
-Zeiten und Reisen ins nicht sozialistische Ausland hatten seiner Karriere nach der Wiedervereinigung nicht geschadet. Er hätte in der Tat einiges zu verlieren.
Ricarda war es langsam angegangen. Zeit hatte sie genug, allerdings nur beschränkte Mittel. Sie hatte sich entschlossen, regelmäßig die öffentliche Kantine des Krankenhauses zu besuchen, die es seit der Wende gab. Sie trank dort Kaffee, aß ein belegtes Brötchen, und es dauerte keine Woche, da hatte sie Yvonne aus der Verwaltung kennengelernt. Beinahe musste sie über sich selbst lachen, denn diese Vorgehensweise hatte sie sich aus einem Agentenroman, den sie gelesen hatte, abgeschaut.
Über die nächsten Wochen und Monate entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Frauen, so dass Ricarda es bald wagte, sich ihrer neuen Freundin anzuvertrauen. Yvonne war jung und aufgrund der umfangreichen Medienberichterstattungen schon ganz ohne Ricardas Zutun zu der Meinung gelangt, dass den Machthabern in der DDR
alles zuzutrauen war. Ein Staat, der seine Bürger an der Grenze erschoss, der jeden bespitzeln ließ und Bürger mit unliebsamen Gedanken und Verhalten beseitigte, dem traute sie auch zu, Kinder gestohlen zu haben.
Ricarda war jetzt aufgestanden, hatte endlich den Mantel ausgezogen und über die Sofalehne gelegt. Sie nahm sich die Liste mit Namen und Adressen vor, die Yvonne ihr heimlich besorgt hatte. Es war eine Liste der Belegschaft, die in der besagten Nacht, als ihr Kind verschwand, Dienst hatte. Es waren mehr als dreißig Namen. Die meisten hatte sie in den letzten zwei Wochen streichen können, da sie offensichtlich nichts mit der Entbindungsstation zu tun gehabt hatten. Auch dabei half ihr Yvonne, die bei Gelegenheit im Personalarchiv des Krankenhauses stöberte.
Nun standen noch acht Namen auf der Liste. Allesamt Frauen. Sieben von ihnen waren in Rente gegangen oder hatten aus anderen Gründen die Klinik verlassen. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als die zwanzig Jahre alten Adressen zu überprüfen. Eines jedoch stimmte sie hoffnungsvoll. Laut Yvonnes Angaben gab es eine Frau, die noch immer dort arbeitete, mittlerweile in der Kinderklinik. An diese würde sie sich zuerst wenden. Ricarda nahm den Telefonhörer ab und wählte Yvonnes Arbeitsnummer.
»Guten Morgen, Yvonne, ich bin’s, Ricarda. Sag mal, kannst du herausfinden, ob diese Monika Schade heute Dienst hat?«
Ricarda sah auf die Uhr. Sie wartete nun schon seit fast einer Stunde vor dem Klinikgebäude. Ihr war kalt. Sie wusste nicht, wie Monika Schade aussah und hatte die Oberschwester gebeten, ihr auszurichten, dass sie hier auf sie wartete. Nun war der Dienstschluss schon seit einer Viertelstunde verstrichen, eine ganze Anzahl Frauen hatte das Gebäude einzeln oder in Grüppchen verlassen, doch keine hatte sie auch nur eines Blickes gewürdigt. Hatte sich Frau Schade an ihr vorbeigeschmuggelt?
»Was wollen Sie denn von mir?«, sprach sie plötzlich jemand von hinten an.
Ricarda fuhr herum. Eine Frau, etwa in ihrem Alter, mit rot gefärbten Haaren, stand auf dem Gehweg unterhalb der Eingangstreppe. Für einen Moment war Ricarda so verblüfft, dass ihr die Worte fehlten.
»Sie wollten doch mit mir sprechen. Sind Sie Ricarda Weber?«, fragte die Frau misstrauisch. Sie trug einen Trenchcoat, der fast bis zum Boden reichte, mit weiten Kragenaufschlägen, darunter einen modischen Rollkragenpullover.
Ricarda nickte, ging die Treppe hinunter, blieb aber in einigem Abstand stehen, um die Frau nicht zu bedrängen.
»Ich wollte Sie etwas fragen. Ich will Sie auch gar nicht aufhalten. In welche Richtung müssen Sie?«, fragte Ricarda.
Die Frau deutete in Richtung Fetscherstraße. Gemeinsam gingen sie los. Auch das hatte Ricarda in Agentenromanen gelesen: immer in Bewegung bleiben.
»Weber ist der Name meines Exmannes. Mein Geburtsname ist Raspe.« Ricarda warf der Frau einen Blick zu und wollte ihre Reaktion sehen.
Die erwiderte den Blick. »Haben Sie was mit dem
Raspe zu tun?«
»Das ist mein Vater«, erklärte Ricarda knapp.
Die Frau sah sie neugierig von der Seite an. »Und was wollen Sie?«
»Können Sie sich an einen Vorfall im März dreiundsiebzig erinnern? Ich lag hier in der Klinik und habe in der Nacht ein Mädchen entbunden.«
Die Frau blieb stehen. »Und was wollen Sie dann genau von mir wissen?«
Zwangsläufig musste Ricarda auch stehenbleiben. Sie antwortete nicht gleich, ließ erst ein Paar vorbeigehen, das ihnen mit einigem Abstand gefolgt war.
»Ich möchte etwas wissen, was mir mein Vater nicht erzählen will.«
Monika Schade zeigte keinerlei Regung und blickte durch Ricarda hindurch. »Was soll das denn sein?«, fragte sie.
Ricarda war enttäuscht, sie hatte gehofft, die Frau würde sofort von allein auf den Vorfall von damals zu sprechen kommen. Nun musste sie ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen und lief damit Gefahr, ihr Gegenüber zu verschrecken.
»Vielleicht erinnern Sie sich an die Nacht zum 12. März 1973? Bei der Geburt meines Kindes lief nicht alles, wie es sollte«, begann sie vorsichtig. Vielleicht wollte Schwester Monika nur einen Hinweis darauf, wie weit sie sich vorwagen durfte. Immerhin kannten sie sich nicht.
Die Frau zögerte. »Ja, es gab einige Schwierigkeiten in dieser Nacht«, deutete sie vage an. Erneut gingen Leute an ihnen vorbei und die Frauen schwiegen.
»Können Sie mir Genaueres sagen?«, hakte Ricarda nach.
Monika Schade stöhnte genervt auf. »Hören Sie, ich will meine Arbeitsstelle nicht verlieren. Am besten wäre es, wir lassen das jetzt.« Mit einer schnellen Bewegung schob sie den Riemen ihrer Handtasche hoch und ging weiter.
Ricarda wartete einen Moment und folgte der Frau dann mit ein paar Schritten Abstand. Die Schade sah sich nicht um, aber sie musste gehört haben, dass Ricarda ihr folgte. Sie protestierte nicht dagegen. Die beiden Frauen überquerten das Klinikgelände, bis sie das Tor zur Fetscherstraße erreicht hatten. Monika Schade bog nach links zur Straßenbahnhaltestelle ab. Ricarda schloss wieder auf.
»Denken Sie, ich sei im Auftrag meines Vaters hier?«, brach Ricarda das Schweigen. »Das bin ich nicht. Im Gegenteil, ich fürchte, mein Vater ist an der Sache mit beteiligt.«
Die Krankenschwester lief eiligen Schrittes weiter, hatte Ricarda aber für einen Moment angeschaut. »Sie haben Ihr Kind verloren damals, oder?«
Ricarda nickte andeutungsweise.
»Und Sie denken, Ihr Vater hat Schuld daran?«
»Sie wissen also etwas?« Ricarda sah sie erwartungsvoll an.
Die Frau rang mit sich, das sah man ihr an. »Ich hatte Nachtschicht auf der Etage, ich war aber ganz neu und sehr jung, ich hatte gerade ausgelernt. Ich habe nur mitbekommen, dass etwas passiert sein musste. War viel los in dieser Nacht. Ich habe mich rausgehalten, mir wurde eindrücklich befohlen, dass ich meinen Mund zu halten hätte.«
»Ach ja, warum denn?«, fragte Ricarda und hatte jetzt Mühe, Schritt zu halten.
»Die wollten einfach nicht, dass davon etwas publik wurde. Wer will schon Fehler zugeben? Damals war man schnell weg vom Fenster. Na ja, ist ja heute auch nicht anders. Nur dass dir nicht die Partei, sondern dein Arbeitgeber die Kündigung verpasst.«
»Ist Ihnen in der Nacht vielleicht noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Ja, jetzt, wo Sie mich fragen, fällt es mir wieder ein. Beim Rauchen sah ich hinter dem Haus ein Auto stehen, bei der Müllrampe. Ich weiß noch, das war ein Moskwitsch. Und der Motor lief.«
»Ach ja?«, Ricarda konnte ihre Aufregung nicht verbergen. »Ein fremdes Auto?« Das war eine völlig neue Information für sie.
»Ja, kein Dresdner Kennzeichen, Berlin, glaub ich. Ich stand nicht lange draußen, da rief mich die Oberschwester rein. Sie war ziemlich ungehalten und hat mich angeblafft, was ich da zu suchen habe.«
»Wirklich?« Ricarda wurde beinahe schwindlig. Nachdem sie zwanzig Jahre lang nur Vermutungen angestellt hatte, bis sie von der gesamten Familie als verrückt erklärt worden war, waren das die ersten konkreten Hinweise darauf, dass wirklich etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.
»Ja, mehr weiß ich aber auch nicht.« Monika verzog das Gesicht. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie jetzt in Ruhe gelassen werden wollte. »Ich will aber keinen Ärger, ja? Hier sitzen überall Wendehälse, in der Verwaltung und den Chefetagen, die haben nur ihre Parteinadel abgenommen und sonst ist nichts weiter passiert.«
Aber Ricarda konnte jetzt nicht aufhören. Sie musste mehr wissen. »Verstehen Sie, ich muss wissen, was mit meinem Kind passiert ist. Ich habe es nie gesehen. Sie haben es mir einfach weggenommen.« Ricarda verschlug es fast die Sprache, so aufgewühlt war sie.
Die Frau legte ihr besänftigend die Hand auf den Arm. »Das war so damals, alle Totgeburten oder Frühverstorbenen wurden obduziert, die wollten ja wissen, woran es lag, ob ein Infekt vorlag oder so etwas. Was danach geschah, weiß ich nicht. Hören Sie, ich muss jetzt. Es tut mir leid, aber Sie müssen das verstehen. Die haben schon massig Leute entlassen hier, ich will nicht dazugehören.«
»Eine Frage noch, bitte. Die Oberschwester, wie hieß die?«
»Ja, das weiß ich noch. Schwester Irmgard. Die hab ich gehasst damals. Aber ich glaube, die ist gestorben. Sie ist fünfundachtzig in Rente gegangen.«
»Und die Hebamme? Die bei der Geburt dabei war. Ich glaube, sie hieß Dagmar mit Vornamen.« Dieser Name war Ricarda soeben in den Kopf geschossen. Aber sie konnte sich nicht erinnern, ihn auf der Personalliste gelesen zu haben.
Monika Schade verzögerte noch einmal ihren Schritt. »Ja, Daggi. Dagmar. Ich glaube, sie hieß Krüger. Die war aber dann gleich weg. Ich habe sie nie wiedergesehen.«
»Nie wieder?«
»Nee, tut mir leid. Und ich fürchte, es wird auch keiner von denen sich an etwas erinnern wollen. Wie gesagt …« Monika Schade zuckte entschuldigend mit den Achseln und wandte sich ab. Die Straßenbahn näherte sich der Haltestelle.
Ricarda schüttelte enttäuscht den Kopf. Doch wenigstens hatte sie jetzt einen konkreten Namen. Dagmar Krüger.
»Eine Dagmar Krüger kann ich überhaupt nicht finden«, flüsterte Yvonne ins Telefon.
»Gar nicht? Kann das ein Fehler sein? Immerhin hat sich die Schade genau an den Namen erinnert.« Ricarda erhob sich aus dem Sessel, um aus dem Fenster zu sehen. Es war dunkel geworden. Vor ihr breiteten sich die Lichter der Stadt aus. Es waren deutlich mehr geworden in den letzten vier Jahren. Überhaupt war alles heller und bunter geworden. Doch es hatte nichts zu bedeuten, wie der süße Geschmack von Kaugummis, der verschwand, wenn man sie eine Weile kaute.
Yvonne atmete hörbar in den Hörer. »Vielleicht hat sie sich geirrt.«
Ricarda verzog abschätzend den Mund. »Geirrt? Überleg mal, ich kann mich auf jeden Fall noch an die Namen von Kollegen erinnern, mit denen ich vor zwanzig Jahren zu tun hatte. Lehrer, Schulkameraden, Studenten.«
»Hm.« Yvonne war schweigsam heute.
»Was ist denn? Hat dich jemand bei der Suche gesehen?«
»Nee, aber mir kam es so vor, als sei mir jemand nachgelaufen nach Feierabend.«
Ricarda erstarrte. »Quatsch, oder?«, fragte sie leise.
Yvonne schwieg. Das war Antwort genug.
»War das nur so ein Gefühl oder hast du jemanden gesehen?«
»Ein Gefühl, aber zweimal hatte ich wirklich den Eindruck, jemanden gesehen zu haben. Eine Frau, glaube ich. Gleich beim Krankenhaus.«
»Das kann ein Zufall gewesen sein. Wie sollen die denn darauf kommen, dass du für mich etwas suchst? Du machst das doch nicht im Computer, oder?«
Ricarda traute Computern nicht. Für die Stasi, da war sie sich sicher, wären diese Kisten ein gefundenes Fressen gewesen. Garantiert speicherten die alles ab, was man tat.
»Nein, aber du sagst ja selbst, die alten Kanäle funktionieren noch.«
Dem konnte Ricarda nicht widersprechen, das war es, was sie vermutete.
»Dann suchst du erst mal nicht weiter und beobachtest deine Umgebung genau«, riet Ricarda. War es nicht unverantwortlich von ihr, Yvonne in die Sache hineinzuziehen, vor allem aber auch, sie mit ihrem Misstrauen anzustecken?
»Und du hast wirklich gar nichts gefunden?«
»Nein, aber es könnte ja auch bedeuten, dass die Personalakte entfernt wurde. Ich müsste versuchen, an alte Dienstpläne zu gelangen. Es gibt ja ein Archiv, aber ich weiß gar nicht, wie man da reinkommen soll.« Der Unwillen war deutlich aus Yvonnes Stimme herauszuhören.
»Nein, lass gut sein«, bestimmte Ricarda, obwohl sie genau das Gegenteil wollte. »Mach dir erst mal einen schönen Abend. Und ruf mich an, wenn etwas ist.«
Ricarda legte auf und sortierte gedankenverloren das verdrehte Telefonkabel. Sie blickte wieder zum Fenster. Es hatte zu regnen und zu stürmen begonnen. Jetzt hätte sie gern Ines hiergehabt. Einfach nur so. Eine Weile überlegte sie, ob sie ihre Tochter anrufen sollte. Dann aber entschied sie anders. Noch einmal griff sie zum Hörer.
»Raspe?«, meldete sich ihre Mutter.
»Ich bin’s, Mutti«, sagte Ricarda und hoffte, die Müdigkeit wäre ihr nicht anzuhören.
»Bist du krank?«, fragte Mutter sofort. Ricarda verdrehte die Augen. Sie wollte ihrer Mutter nichts unterstellen, doch dieses Besorgtsein wirkte immer aufgesetzt, eine willkommene Ablenkung, um ja kein heikles Thema zu tangieren.
»Nein, ich wollte nur sagen, ich fahre Montag in Richtung Leipzig, ich habe da Aussicht auf eine Stelle. Vermutlich werde ich die Woche über immer dort übernachten. Dass ihr euch nicht wundert.« Mit einem Schlag wurde Ricarda bewusst, dass sie von nun an mindestens vier von sieben Tagen der Woche nicht in ihrem Bett schlafen würde. Ihr wurde übel, und der Wunsch, das Ganze abzublasen, wurde beinahe übermächtig.
»Eine neue Stelle, schön! Sollen wir in deinen Briefkasten sehen?«
Beinahe hätte Ricarda belustigt aufgeschrien. Das Bild, wie ihre Mutter im Neubaugebiet aus dem Mercedes stieg, um mit spitzen Fingern die Haustür aufzuschließen, den Briefkasten zu öffnen und ihre Post herauszuholen, war einfach absurd.
»Nein, das macht Steffen. Wie gesagt, ich wollte nur …« Ricarda unterbrach sich. »Sag mal, Dagmar Krüger. Sagt dir das etwas?«
Ihre Mutter zögerte. »Kommt mir geläufig vor, ja. War das nicht eine aus deiner Schule?«
Ricarda bekam eine Gänsehaut. Zwar hatte ihre Mutter den Namen falsch assoziiert, doch dass sie sofort auf ihn angesprungen war, musste etwas bedeuten. Ricarda antwortete nicht. Es war keine Einbildung. Es hatte eine Dagmar Krüger gegeben und nun war sie aus den Akten verschwunden.
»Dein Vater kommt gerade, warte mal.«
Ricarda öffnete den Mund, um ihre Mutter daran zu hindern, ihren Vater zu fragen. Schon bereute sie, überhaupt gefragt zu haben.
»Eberhardt, kannten wir eine Dagmar Krüger?«, sagte ihre Mutter gedämpft. Dann war plötzlich ihr Vater am Apparat.
»Ricarda?«, meldete er sich. »Wer soll das sein?«
»Der Name ist mir zufällig untergekommen, ich überlege, ob das eine aus dem Studium war«, log Ricarda und war froh, dass ihr überhaupt etwas eingefallen war.
»Ich kenne keine. Du hast eine neue Stelle, habe ich gehört?«
»Das entscheidet sich am Montag. Aber die Aussichten sind gut.«
»Dann viel Glück. Und fahr vorsichtig!«
Nachdenklich blieb Ricarda noch einen Moment sitzen. So barsch und schnell wie ihr Vater geantwortet hatte, war sie sicher, dass er log. Nun erhob sie sich und ging zur Schrankwand, in der ihre neue Stereoanlage stand. Sie mochte dieses schwarze kompakte Gerät, das Schallplatten und Kassetten abspielen konnte und sogar noch einen CD
-Wechsler besaß, der nacheinander drei CD
s abspielen konnte. Sofern es ihre Finanzen zuließen, kaufte sie sich die Musik, die sie in der DDR
nur gelegentlich im Radio hatten hören können. Lindenberg zum Beispiel.
Auf einmal kam ihr ein Gedanke.
Sie schob den Sessel beiseite und nahm aus der unteren Ablage des Telefontischchens das Telefonbuch heraus. Noch auf dem Boden kniend schlug sie den Buchstaben K auf. Sie fuhr mit dem Zeigefinger die einzelnen Zeilen ab, bis sie Krüger gefunden hatten. Leise stöhnte sie auf. Da stand ihr einiges an Arbeit bevor. Erschreckend viele Leute in Dresden hießen Krüger.
Ricarda überlegte noch einen Moment. Dann ging sie in die Küche, um einen Tee zu machen. Es war eine gute Zeit zum Telefonieren, spät genug, dass die meisten Menschen Feierabend hatten, aber noch nicht zu spät am Abend.
Sie telefonierte gern und mochte den Gedanken, ein eigenes Telefon zu haben. Jahrzehntelang war das nicht möglich gewesen. Man musste umständlich zur Telefonzelle laufen oder beim Nachbarn fragen, ob man das Telefon nutzen durfte, wenn der eines hatte. Wie schön es jetzt war, Ines einfach anzurufen, wenn man Lust hatte.
Während das Wasser zu kochen begann, öffnete Ricarda ihren Küchenschrank und betrachtete ihre Auswahl an Teesorten. Selbst das war Luxus, verglichen zur DDR
-Zeit. So viele Sorten gab es, sie konnte sich gar nicht entscheiden. Sie ertappte sich dabei, wie sie auf die Teeschachteln starrte und ihre Gedanken ganz woanders waren. Da war er wieder, der latente Schmerz, der seit zwanzig Jahren tief in ihr steckte. Es war nicht allein der Schmerz über den Verlust. Es war das Gefühl, verraten worden zu sein, von ihrem Vater, von ihrer Mutter, die dem Vater keine Widerrede leistete, von dem Staat, dem sie vertraut hatte. Gerade der sozialistische Staat, der versprochen hatte, seine Bürger zu behüten, vor allen Unbilden zu schützen, hatte ihr gezeigt, wie schnell man durch das Raster fiel und zur Unperson wurde. Aber über diesen latenten Schmerz und über das neue, ungute Gefühl, das ihre Arbeitslosigkeit mit sich gebracht hatte, hatte sich etwas Neues gelegt. Eine Idee von Aufbruch, eine neue Kraft, beinahe eine Euphorie. Wenn schon ihre Ausbildung und ihre Berufserfahrung nichts mehr wert sein sollten, wenn schon ihre Ersparnisse kaum mehr betrugen als drei, vier Monatsmieten, so war sie doch in der Lage, etwas zu tun. Und sie würde es tun.