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Dresden, März 1973
Thomas Rust parkte seinen Trabant in der Augsburger Straße und stellte den Motor ab. Im trüben Licht der Gaslaternen versuchte er, die Adresse auf dem Zettel zu lesen. Es war kurz nach 18 Uhr und schon dunkel. Schwere Wolken waren über der Stadt aufgezogen. Immerhin war es nicht mehr so kalt, fast angenehm, nach den frostigen Nächten der letzten Wochen.
Er stieg aus, schloss die Fahrertür ab, sah sich um. Es war ruhig und sehr düster. Die Gaslaternen standen in großen Abständen zwischen den Bäumen. Er konnte die gesuchte Hausnummer nicht finden und ging deshalb die Straße ein Stück weiter hinunter. Ein Wartburg näherte sich. Er fuhr schnell, seine Räder lärmten über das Kopfsteinpflaster. Im Scheinwerferlicht konnte Rust endlich eine Hausnummer am brüchigen Putz ausmachen.
Das Nachbarhaus musste das richtige sein. Es hatte nur zwei Stockwerke und wirkte zwischen den höheren und größeren Jugendstilvillen und Gründerzeithäusern eher klein. Im Verfall stand es ihnen jedoch in nichts nach. Rust öffnete das brusthohe Tor und betrat das Grundstück. Im Dunkeln konnte er das Klingelschild nicht erkennen und suchte mit Hilfe seines Feuerzeuges die Namensschilder ab. Den Namen Krüger fand er nicht. Im Licht der kleinen Flamme sah er noch einmal auf seinen Zettel.
Schließlich kehrte er langsam zu seinem Wagen zurück und zündete sich eine Zigarette an, die er, ans Auto angelehnt, rauchte. Er könnte es auf sich beruhen lassen. Es ging ihn nichts an. Erstaunlich, dachte er weiter, wie nahe Unheil und Glück beieinanderlagen. Im Großen wie im Kleinen. Keine zwei Kilometer weiter, die Augsburger Straße stadteinwärts, waren vor dreißig Jahren Tod und Zerstörung vom Himmel gefallen. Dieses Viertel war jedoch verschont geblieben. Und die einen gehen mit ihrem neugeborenen Kind nach Hause und beginnen ein neues Leben als Familie, setzte er den Gedanken fort, für andere bricht eine Welt zusammen. Rust schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dieser Kelch an Heike und ihm vorübergehen mochte. Natürlich glaubte er nicht an Gott, der nur dafür gut war, die Arbeiterklasse dumm und gefügig zu halten. Doch manche Dinge, die man noch aus seiner Kindheit kannte, übernahm man dann eben doch.
Rust rauchte zu Ende, warf die Kippe auf die Straße und wollte gerade einsteigen, da bemerkte er eine Gestalt. Es war eine Frau im schwarz-weiß gefleckten Kunstfellmantel, wie auch Heike ihn besaß. Sie trug zwei Stoffbeutel und steuerte auf das Tor zu.
Rust trat unter das nächste Laternenlicht, damit sie ihn sehen konnte. Er wollte sie auf keinen Fall erschrecken, indem er sie aus der Dunkelheit ansprach. Jetzt sah sie ihn, zeigte aber keine Reaktion und drückte mit dem Ellbogen die Klinke am Tor herunter, stieß das Tor hinter sich mit dem Fuß zu und ging rasch zur Haustür.
»Frau Krüger?«, fragte Rust.
»Ich war nur einkaufen!«, sagte die Frau schnell. Rust war irritiert, sie war ihm doch keine Rechenschaft schuldig. Sie stellte einen der Beutel ab, klemmte ihn sich zwischen die Füße, um eine Hand freizuhaben. Trotzdem kippte der Beutel um, als sie nach dem Schlüssel suchte. Eine Milchtüte und ein weiße Plastikdose CAMA -Margarine fielen heraus. Rust wollte die Sachen aufheben, aber gleichzeitig bückte sich die Frau mit ihm. Dann hielt Rust den Beutel auf und die Frau packte Milch und Margarine wortlos wieder hinein.
»Rust ist mein Name. Ich bin Polizist, bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin in eigener Sache hier.«
»Aha«, sagte die Frau. Sie hielt den Schlüssel in der Hand, schloss jedoch nicht auf.
»Wollen wir nicht hineingehen?«, fragte Rust.
»Ach so, ja!« Die Frau war nervös und verlegen und schloss umständlich die Haustür auf. Im Licht der Treppenhausbeleuchtung konnte Rust die Frau richtig betrachten. Sie war noch jung, höchstens so alt wie er, hatte langes glattes Haar und dunkle Augen, die gerötet waren, als seien sie entzündet.
»Frau Krüger, ich möchte nur reden mit Ihnen. Wohnen Sie hier?« Rust versuchte sich vergeblich im Plauderton, um ihr die Anspannung zu nehmen.
»Ja«, antwortete sie und nickte verschüchtert.
»Ihr Name steht nicht an dem Klingelschild.«
»Wir wohnen bei Frau Meyer. Wir teilen uns die Wohnung. Ich habe einen kleinen Zettel an das Klingelschild geklebt, aber er fällt immer wieder ab.«
»Ist es eine Verwandte?« Rust deutete auffordernd zur Treppe, und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf.
»Nein, ich habe eine Wohnung beantragt, aber ich warte schon seit zwei Jahren auf eine Zusage. Durch Zufall erfuhr ich, dass hier eine alte Dame in einer Dreiraumwohnung wohnt. Ich habe sie gefragt, ob sie uns ein Zimmer abtritt, dafür erledige ich ihre Einkäufe und mache die Treppe. Na ja, und irgendwann …«
Frau Krüger sprach nicht weiter. Rust wusste, was sie sagen wollte. Sie hoffte, bleiben zu können, wenn Frau Meyer einmal starb. Das war nicht unüblich. Genauso wie man auch im Bekanntenkreis und unter der Hand Wohnungen tauschte.
Schweigend gingen sie die letzten Stufen hinauf. Überall im Treppenhaus platzte der braune Vorkriegslack von der Wand, die Stufen waren ausgetreten, der Handlauf speckig. Unvermittelt ging das Licht aus. Aber Rust hatte den nächsten Lichtschalter schon anvisiert und tastete in der Dunkelheit nach ihm.
»Sie sehen sehr mitgenommen aus«, sagte Rust, nachdem das Licht wieder angeschaltet war.
Frau Krüger zuckte mit den Achseln und nickte dabei. »Ich habe halt viel zu tun. Die Arbeit, der Schichtdienst, nebenbei Weiterbildung, der Haushalt und die alte Dame.« Wieder zuckte sie mit den Achseln, doch diesmal hatte die Geste etwas Zynisches an sich.
»Hier?«, fragte Rust und deutete auf die Wohnungstür. Durch die Ritzen der Briefklappe drang Licht.
Frau Krüger nickte und ließ sich den zweiten Beutel abnehmen, um aufschließen zu können.
»Frau Meyer, ich bin’s!«, rief sie, kaum dass sie geöffnet hatte. »Kommen Sie«, sagte sie an Rust gewandt. Gleich vorn im Flur streifte sie sich die Schuhe ab und schlüpfte in Filzhausschuhe.
»Ziehen Sie bitte die Schuhe aus, Frau Meyer nimmt es da sehr genau.«
Rust nickte, übergab ihr den Einkauf und trat in die Wohnung. Dumpfer Geruch schlug ihm entgegen, eine Mischung vielerlei Aromen, die nicht alle einzuordnen waren. Alte Leute, schlechte Lüftung, Salben, alte Möbel. So hatte es gerochen, als Heike und er damals ihre erste Wohnung bezogen hatten, kaum dass der Vormieter gestorben war. Nach einer Weile war der Geruch wahrscheinlich verflogen oder aber man hatte sich daran gewöhnt.
Jetzt allerdings, hier im trüben Licht des alten Hauses, hatte es eine deprimierende Wirkung auf Rust. Er folgte Frau Krüger in die Küche.
»Sie sagten ›wir‹. Sind Sie verheiratet?«, fragte er.
Frau Krüger tat, als hätte sie nichts gehört, und begann, ihre Einkaufsbeutel auszupacken. Rust sah, dass es keinen Kühlschrank gab, nur einen alten, weiß lackierten Vorratsschrank, in dem die Frau die Lebensmittel verstaute. Ein Holzofen in der Ecke strahlte noch ein wenig Wärme aus.
Rust bemerkte hinter sich eine Bewegung, sah sich um. Eine alte Frau blickte vorsichtig in die Küche.
»Frau Meyer, das ist Herr Rust. Er bleibt nur kurz«, sagte Frau Krüger mit lauter Stimme
»Guten Tag«, grüßte Rust. Die Frau nickte nur und zog sich wieder zurück.
Endlich zog Frau Krüger ihren Mantel aus, hängte ihn in den Flur an die Garderobe und schloss dann die Tür hinter sich, als sie wieder in die Küche zurückkam.
»Ich kann Ihnen gar nichts anbieten«, sagte sie knapp.
»Das ist auch nicht nötig. Ich möchte nur gern etwas über den Vorfall im Krankenhaus wissen. Das Enkelkind von Doktor Raspe starb bei der Entbindung?«
»Deshalb sind Sie hier?«, fragte Frau Krüger mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen.
»Wieso? Gibt es noch einen Grund, weswegen man nachfragen könnte?«
Frau Krüger öffnete den Mund, überlegte es sich jedoch anders und schüttelte schnell den Kopf.
»Hat Raspe Sie geschickt?«
»Nein, im Gegenteil.«
Sie hob wissend das Kinn. Dann atmete sie durch. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Haltung war eine Spur aggressiver, seit sie wusste, warum er hier war.
»Es sterben bei der Geburt etwa fünfzehn Kinder von tausend beziehungsweise werden bereits tot geboren. Früher waren es noch mehr. Man bemüht sich, die Sterberaten weiter zu senken. Die Ursachen sind vielfältig. Und manchmal, da geschieht es eben. Wenn das alles ist?«
Rust hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzulasten oder vorzuwerfen. Ich möchte einfach nur wissen, ob Sie selbst gesehen haben, dass das Kind tot war. Ist das sicher?«
Die Frau runzelte die Stirn. Ihr schien etwas eingefallen zu sein. »Ihr Name ist Rust, ja? Ihre Frau liegt doch gerade auf der Station.« Sie lächelte auf einmal leise. »Sie machen sich Sorgen, nicht wahr? Glauben Sie mir, Sie müssen keine Angst haben. In den meisten Fällen geht alles gut.«
Rust schüttelte den Kopf. »Nein, nein, deshalb bin ich nicht hier. Es geht hier ausschließlich um diesen besagten Vorfall. Ich möchte wissen, ob bei dieser Geburt alles seinen üblichen Lauf genommen hat, ob es Abweichungen gab. Haben Sie selbst gesehen, dass das Kind tot war?«
Frau Krüger trat jetzt dicht an Rust heran. In ihrem Gesicht spiegelte sich der Zorn. »Ich möchte wissen, was Sie das angeht?«, fragte sie in scharfem Ton.
Rust blieb gelassen. »Und warum sind Sie beurlaubt worden?«
»Ich habe darum gebeten!«, zischte die Frau. »Das Kind war tot, ja! Sind Sie jetzt zufrieden? Irgendwann erlebt das jeder von uns mal. Bei mir war es das erste Mal. Gehen Sie jetzt, bitte!«
»Was genau ist mit dem Kind geschehen? Wurde es aus dem Kreißsaal gebracht? Haben Sie es der Mutter gleich gesagt?« Rust zeigte sich unbeeindruckt von der Aufforderung der Frau.
Frau Krüger streckte den Rücken durch. »Also, ich sage es noch mal: Es gab bei der Geburt Komplikationen, das Kind blieb im Geburtskanal stecken. Für einen Notkaiserschnitt war es aber zu spät. Mit viel Mühe gelang es uns dann doch, das Kind herauszuziehen. Aber es atmete nicht mehr, sein Herz schlug nicht. Es wurden lebensrettende Maßnahmen eingeleitet, von Raspe selbst, aber sie blieben wirkungslos. Dann wurde es aus dem Saal gebracht.« Frau Krüger stockte. »Ich darf Ihnen das gar nicht erzählen, aber Sie zwingen mich dazu. Vielleicht war es mein Fehler! Ich hätte früher entscheiden müssen, ich hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Glauben Sie, ich denke nicht darüber nach?« Frau Krüger sah ihn fragend an. Ihr war die Erregung anzusehen.
Rust schwieg und ließ ihre Worte nachklingen. Nach einer Weile entspannten sich die Gesichtszüge der Frau wieder ein wenig.
»Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen. Dann werde ich gehen.«
»Dann fragen Sie«, seufzte die Frau schicksalsergeben.
»Ist Ihnen jemand Fremdes aufgefallen an diesem Tag? Jemand, der um diese Zeit nicht auf der Station sein sollte?«
Frau Krüger hatte schon begonnen, den Kopf zu schütteln, als Rust die Frage noch gar nicht zu Ende formuliert hatte.
»Niemand, nein. Mir ist niemand aufgefallen. Alles war wie immer. War’s das? Lassen Sie mich nun bitte endlich in Ruhe?«
Rust nickt. »Ja. Danke. Bitte verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit.« Er verließ die Küche, zog sich seine Schuhe wieder über und schloss die Wohnungstür hinter sich.
Als er auf die Straße trat, empfing ihn ein feiner Nieselregen. Er schlug den Jackenkragen hoch, holte sich eine Zigarette heraus und zündete sie an. Seit seinem Vorhaben, das Rauchen einzuschränken, wenn das Kind da wäre, kam es ihm vor, als ob das Verlangen danach noch größer geworden wäre. Als ob er sich einen Vorrat anrauchen könnte. Was für ein absurder Gedanke. Vielleicht sollte er auf die stärkeren »Karo« umsteigen, damit es ihm den Genuss vergällte?
Langsam ging er zu seinem Auto und dachte noch einmal über die Begegnung mit Frau Krüger nach. Woher wollte diese Monika wissen, dass Frau Krüger beurlaubt worden war beziehungsweise selbst um Urlaub gebeten hatte? Auch eine Hebamme musste erst einmal verarbeiten, dass ihr ein Kind unter der Hand gestorben war. Er kannte das aus seinem Beruf, der ihn auch immer wieder mit dem Tod konfrontierte. Das konnte er auch nicht einfach so abschütteln. Und so manches Mal hatte er sich schon gefragt, ob er den richtigen Berufsweg eingeschlagen hatte.
Jetzt stutzte Rust und blieb hinter einem Baumstamm stehen. Stand da jemand an seinem Auto? Nun kauerte sich die Person auch noch hin, direkt vor die Motorhaube.
»Hallo!«, rief Rust und lief los. Wollte ihm jemand das Nummernschild klauen? Die Person erhob sich und lief über die Straße zu einem Auto, einem Wartburg, wie Rust erkannte. Schnell stieg der Fremde ein und fuhr ohne Licht davon. Erst zwei Kreuzungen weiter schaltete der Fahrer die Scheinwerfer ein und bog ab. Rust begutachtete misstrauisch sein Nummernschild. Es war noch da, verdreckt vom Straßenschmutz. Doch man konnte erkennen, dass darübergewischt worden war. Derjenige hatte es lesbar machen wollen.