15
Dresden, Dezember 1993
Ricarda tastete mit einer Hand über den Bettrand und zog die Decke wieder über sich. Sie war noch immer außer Atem. Aus ihrem Bad kamen leise Geräusche. Es war nicht ihre Absicht gewesen, mit Eric im Bett zu landen. Aber nachdem sie sich mehrmals getroffen hatten, war es an diesem Abend einfach geschehen. Sie mochte ihn. Sehr sogar. Und er mochte sie auch.
»Schläfst du etwa schon?«, fragte Eric, als er sich wieder neben sie legte.
»Quatsch«, flüsterte Ricarda und schob sich an ihn heran.
»Und? Ist es dir jetzt peinlich, oder so?«, fragte er leise. »Also, du bereust es nicht?«
Ricarda musste grinsen. Irgendwie war er niedlich. Sie schüttelte nur den Kopf. Nein, sie bereute nichts. Im Gegenteil. Letztlich hatte sie es sogar ein wenig forciert, als es so aussah, als wollte er sich nach einem schönen Abend schon wieder auf den Weg in seine kleine karge Wohnung machen, die kaum besser war als ihr Zimmer im Wohnheim. Er schien nicht der abgebrühteste Geschäftsmann zu sein, außerdem hatte sie erfahren, dass er nicht unbedingt freiwillig in den Osten gekommen, sondern einem seiner Chefs zur Unterstützung zugeteilt worden war. Er tat das natürlich nicht umsonst. Sein Zuschlag, allein dafür, dass er hier in Dresden arbeitete, war höher als ihr Monatsgehalt.
Auch Eric war geschieden, hatten sie fast etwas belustigt festgestellt, schon mal eine Gemeinsamkeit. Kinder hatte er keine. Keine, von denen du weißt, hatte sie gescherzt, woraufhin er jedoch ernsthaft den Kopf geschüttelt hatte. Es gab jedenfalls keinen Grund für ihn, am Wochenende nach Hause zu fahren.
»Geht es dir gut?«, fragte Eric. Er wirkte immer noch verlegen.
»Ja, wirklich. Alles ist gut gerade«, antwortete sie. Im Moment fühlte sie sich so gut wie noch nie in den letzten zwei Jahrzehnten. Ziemlich aufgeregt war sie gewesen. Sie hatte seit Jahren keinen Sex mehr gehabt. Doch nachdem die anfänglichen Hemmungen überwunden waren, war alles wie von selbst gegangen. Es war schön gewesen, hatte ihr gutgetan. Eric schien nicht sehr erfahren zu sein, das gefiel ihr.
Nun lag sie entspannt neben ihm und betrachtete seine sportliche Figur. Er sah gut aus, dachte sie. Noch dazu war er Anwalt. Sie lächelte. Es hätte jetzt an der Tür klingeln oder sonst was geschehen können. Jetzt gerade, genau in dem Moment, konnte es nicht besser sein. Noch eine Woche würde sie arbeiten, dann hatte sie vier Tage frei zu Weihnachten.
»Ist denn was mit dir?«, fragte sie ihn schließlich. Es kam ihr vor, als hätte er etwas auf dem Herzen. Hoffentlich sagte er nicht gleich, dass er sie liebte. So weit war sie längst nicht und hätte nicht gewusst, was sie ihm antworten sollte. Eigentlich hoffte sie, es würde so bleiben, wie es war, wenigstens für diese Nacht.
»Ich möchte dir gern etwas sagen. Eigentlich soll ich es nicht.« Eric drehte sich zu ihr auf die Seite, damit er sie direkt ansehen konnte.
»Du hast mir sehr leidgetan. Nein, also nicht du, sondern die Situation. Ich habe bei Schrempp noch mal nachgefragt, denn als ich das erste Mal über deinen Fall sprach, schien er sehr daran interessiert zu sein. Weißt du, das hier ist ein großer Markt, den es zu erschließen gilt, da kann ein spektakulärer Fall mehr Publicity bringen als jede Werbung. Ich habe mich gewundert, warum er schließlich doch ablehnte.« Eric verstummte und kaute an seiner Unterlippe.
Ricarda stützte ihren Kopf in die Hand, sah ihn aufmerksam an.
»Ich will mich da nicht einmischen, ich wollte eigentlich nur sagen, es lag nicht an dir und deinem Fall. Das Problem ist vielmehr eine gewisse Interessensüberschneidung. Dein Vater ist seit vielen Jahren Klient der Kanzlei.«
»Ah!« Ricarda versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie überrascht sie war. »Weiß er denn, dass ich bei euch war?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und darf ich denn wissen, seit wann er Klient der Kanzlei ist, und warum?«
»Nun, solange bin ich auch nicht dabei. Aber offenbar stand er schon vor dem Mauerfall in Kontakt mit der Kanzlei. Es ging wohl um Urheberrechte und um Eigentumsrecht hinsichtlich verschiedener Grundstücke.«
Verschiedener Grundstücke, wiederholte Ricarda in Gedanken. Davon wusste sie gar nichts.
»Hatte er denn Probleme?«, fragte sie leise.
Eric hob die Schultern. »Ich wollte dir das nur sagen, damit du nicht denkst, wir wären alle Idioten!«
»Wen meinst du denn mit ›wir‹? Wessis oder Anwälte?« Sie gab ihm schnell einen Kuss, ehe er ihr noch eine Antwort geben konnte.
»Ich will damit nur sagen, wenn er Ärger hätte, könnte das vielleicht die nächtliche Klingelei erklären und diese gemeinen Karten.« Davon hatte sie Eric noch nichts erzählt.
Eric hob den Kopf. »Wie meinst du das?«
»Ach, irgend so ein Spinner klingelt ab und zu in der Nacht bei mir. Und jemand hat Karten an mich und meine Familie geschickt, sogar an meine Tochter. Seltsame Geburtstags- und Trauerkarten. Neuerdings klingelt manchmal mein Telefon und niemand sagt etwas, wenn ich rangehe. Ich habe sogar schon einmal mit der Trillerpfeife reingepfiffen.« Sie lächelte verlegen. »Das habe ich mal gelesen, dass man das machen soll. Und Ines, die ist in Freiburg verfolgt worden, von einem Mann mit Fotoapparat. Aber das scheint wohl wieder vorbei zu sein.«
»Ein Mann mit Fotoapparat?«, fragte Eric und runzelte die Augenbrauen. »Konntet ihr etwas über den rausfinden?«
Ricarda schüttelte den Kopf.
»Was sind denn das für Karten? Hast du die noch?«, fragte er weiter. Seine Miene drückte ernsthafte Besorgnis aus.
»Ich habe sie noch, obwohl mir ein Polizist gesagt hat, ich soll sie wegwerfen.«
»Magst du mir die mal zeigen?«
»Nicht jetzt, okay?« Ricarda drückte ihn sanft zurück auf die Matratze. »Morgen. Jetzt ist es gerade so schön, oder?«
Eric sah sie ernst an. »Ich kann dir helfen, wenn du das möchtest.«
»Ach, komm, reden wir morgen darüber!«
Aber Eric ließ nicht locker. »Ich könnte mal einen Blick in die Akten werfen!«
»Eric, nein, dann erwischt dich noch jemand dabei.«
»Na, und? Ich bin Anwalt, das ist doch nicht verboten.«
»Aber dass du mir davon erzählst, vermute ich.« Sie war hin- und hergerissen. Hier öffnete sich ihr gerade eine Tür. Ein wenig hatte sie sich so etwas gewünscht, sehr sogar, wenn sie ehrlich war.
Eric räusperte sich. Das tat er anscheinend immer, wenn ihm etwas peinlich war. »Ich mag dich sehr, weißt du, Ricarda. Ich mochte dich schon, als du das erste Mal in mein Büro kamst.«
»Ich mag dich auch. Ich würde mich freuen, wenn du hier bleibst über Nacht.«
»Wenn es dir nichts ausmacht.«
»Doch, es macht mir viel aus!« Ricarda gab ihm einen Kuss. »Und?«, fragte sie dann.
»Und?« Eric sah sie fragend an.
Ricarda schob sich zu ihm hoch. »Bist du auch noch nicht müde?«