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Dresden, Januar 1994
Als sie dieses Mal die Stasiunterlagenbehörde verließ, war alles anders. Sie hatte Informationen gewollt und sie hatte sie bekommen. Eric an der Seite zu haben, hatte sich als nützlich erwiesen, auch wenn er gar nichts weiter gesagt, sich nur als ihr Anwalt vorgestellt hatte. Das Zimmer zur Akteneinsicht durfte er deswegen trotzdem nicht mit betreten.
Weihnachten war Eric nach Hause gefahren, nach Bayreuth, zu seinen Eltern und Geschwistern. Ricarda war das ganz recht gewesen. Heiligabend und den zweiten Weihnachtsfeiertag hatte sie mit Ines verbracht. Silvester war Eric dann zu ihr gekommen. Von ihrem Balkon aus hatten sie die Stadt betrachtet, über deren Dächern tausendfach das Feuerwerk explodierte.
Eric hatte ihr den Termin in der Stasibehörde besorgt. Diesmal hatte die Wartezeit nur zwei Wochen betragen. Er hatte sie genau instruiert, wonach sie schauen und vor allem fragen musste, denn auf die richtigen Fragen kam es an, wenn man die Akten nicht selbst einsehen durfte. Von den verschiedenen Obduktionsberichten ihres angeblich toten Kindes hatte sie nun Kopien bekommen. Und sie hatte noch mehr erfahren. Mehr als ihr recht war. Nun saßen sie bei Eric im Auto. Alles, was sie hatte mitnehmen dürfen, lag auf Erics Schoß.
Ricarda spürte, wie sie schlagartig müde wurde. Wieder einmal war sie von der Arbeit nach Dresden gehetzt, um diesen Termin wahrzunehmen. Sie musste eigentlich heute noch zurück zur Frühschicht morgen.
»Drei IM s?«, fragte Eric und betrachtete die Sektionskarte, den endgültigen Obduktionsbericht und den Meldeschein über die Korrektur der Todesursache. Er verglich die Eintragungen miteinander. »Du meinst richtige Inoffizielle Mitarbeiter für die Stasi?« Er sah sie an.
»IM s hat sie gesagt. Ich habe das aufgeschrieben. Aber nur die Namen, die sie von der Stasi bekommen haben. IM Rauch, IM Quaste und IM Knabe. Frag mich nicht, wer das gewesen sein soll. Angeblich muss erst geprüft werden, ob man ihre Identität preisgeben darf.«
Eric verzog nachdenklich den Mund. »IM s gab es viele. Das weiß ich von unseren Klienten. Kollegen, Kommilitonen, Nachbarn. Man konnte schlecht Nein sagen, wenn die Stasi einen gefragt hat. Viele IM s schrieben Berichte ohne Aussage, da wurden einfach nur Tagesabläufe und alltägliche Belanglosigkeiten aufgeschrieben. So konnte man ihnen nicht vorwerfen, nichts zu tun. Warum hat die Stasi dich denn im Visier gehabt?«
»Anscheinend hatten die mich schon lange auf dem Schirm, weil sie wohl vor allem meinen Vater beobachtet haben, wegen seiner Westgeschäfte. Na ja, und nach der angeblichen Totgeburt dreiundsiebzig bin ich denen auf die Pelle gerückt. Ich habe Eingaben geschrieben. Ans Rathaus, an die Parteileitung, an verschiedene Minister. Ich habe mich über das Krankenhaus beschwert.« Ricarda stockte kurz. »Deswegen hat ja keiner mehr mit mir gesprochen. Ich bin ja meinem eigenen Vater auf die Füße getreten. Das ging so weit, dass sie mir nahegelegt haben, die Ausreise zu beantragen. Sie hätten mich tatsächlich gehen lassen. Mitte der Achtziger war das. Da hatte mich Steffen gerade verlassen.«
»Aber du hast abgelehnt!« In Erics Stimme schwang ein Hauch Verwunderung mit.
Ricarda sah ihn herausfordernd von der Seite an. »Natürlich. Das wäre denen doch nur recht gewesen, wenn ich weg gewesen wäre. Diesen Triumph wollte ich ihnen nicht gönnen. Außerdem hätte ich dann mein Kind im Stich gelassen.«
»Ines?«
»Nein, nicht Ines. Mein erstes Kind. Dieses Kind!« Ungeduldig und beinahe verärgert schlug Ricarda mit dem Handrücken auf die Unterlagen.
Eric nickte betreten und widmete sich wieder der Durchsicht der Papiere. Ricarda lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen.
»Denk nicht, wie oft ich mich schon gefragt hab, ob es nicht besser wäre, es einfach zu akzeptieren. Es einfach sein zu lassen. Aber dann würde ich ja genau das tun, was sich alle nur wünschen«, sagte sie leise.
»Also, ich bin da jetzt nicht so firm«, sagte Eric, ohne auf Ricardas Worte einzugehen. »Aber im ersten Sektionsbericht und auch im endgültigen Obduktionsbericht wird eine Strangulation durch die Nabelschnur als Todesursache angegeben. Die Haut des Kindes war blau gefärbt. Hier in der Korrektur, das ist dieses zusätzliche Blatt, zwei Tage später datiert, steht jedoch, dass ein Herzfehler zum Tod geführt hat.«
Ricarda ging die entsprechenden Passagen durch, die Eric ihr zeigte. Die Kopie war sehr schlecht, die Schrift schwach und unscharf, doch trotzdem deutlich genug zu erkennen.
»Und warum sollte man das ändern?«
»Na ja«, Eric räusperte sich, »entweder hat man dies nachträglich als Todesursache erkannt, oder es war schon der erste Versuch, etwas zu vertuschen. Vielleicht die Unachtsamkeit der Hebamme, und dann wollte man sie oder das Krankenhaus vor Sanktionen schützen. Es könnte natürlich auch ein Hinweis auf die Kindesentführung sein.«
»Aber was macht ein Herzfehler besser als eine Strangulation?«
»Ich habe mich in den letzten Tagen ein wenig eingelesen. Sofern die Todesursache natürlich war, und ein angeborener Herzfehler fällt in diese Kategorie, musste der Todesfall nicht der zuständigen Dienststelle der Volkspolizei gemeldet werden. Um das jetzt noch herauszufinden, müsste man die damals anwesenden Schwestern und Ärzte befragen. Zum Beispiel um zu erfahren, ob die Nabelschnur um den Hals des Kindes gewickelt war, ob es wirklich blau angelaufen war, ob es sich noch bewegt hat.«
»Das weiß ich alles nicht. Sie hatten mir vorher eine Spritze gegeben. Ich war ganz benommen und habe das alles gar nicht richtig wahrgenommen.«
»Eine Spritze? Warum? Was sollte das gewesen sein?«
»Das hat mir nie jemand gesagt. Ich habe eine Liste von Personen, die damals Schicht hatten. Ich weiß aber nur von der Hebamme, dass sie anwesend war, Dagmar Krüger. Die wiederum ist nicht aufzufinden, und im Krankenhaus gibt es keine Akte von ihr.«
»Wie meinst du das?«, fragte Eric.
»Ihre Personalakte ist offenbar verschwunden.«
Eric hob das Kinn, seine Augen verengten sich ein wenig. Ricarda kannte diesen Blick. Dieses Schwanken zwischen Skepsis und Glaube, dass die Mächtigen der DDR eine solche Ungeheuerlichkeit geduldet, wenn nicht sogar befohlen hatten. Doch angesichts der Tatsache, dass an der deutsch-deutschen Grenze Menschen erschossen worden waren, weil sie fliehen wollten, dass man Leute gefoltert und jahrzehntelang eingesperrt hatte, weil sie ihre Meinung sagen wollten, schien auch diese Ungeheuerlichkeit nur ein weiteres schändliches Verbrechen unter vielen zu sein.
»Man müsste mal jemanden fragen, ob ein Herzfehler noch nach zwanzig Jahren erkannt werden kann. Ich denke aber nicht«, sagte Eric nach längerem Schweigen.
»Du meinst, man müsste exhumieren?«, fragte Ricarda leise. Sie gab sich absichtlich naiv. »Wäre das denn möglich, angesichts all der Umstände? Zumindest um zu sehen, ob überhaupt ein Kind in dem Sarg war?«
Eric wiegte den Kopf. »Wie gesagt, kein leichtes Unterfangen. Aber versuchen kann man es.«
»Da!« Ricarda schrie plötzlich auf und zeigte durch die Windschutzscheibe. »Dort! Die Frau! Blauer Schal!«
»Ich sehe nichts!« Eric suchte vergeblich nach einer Frau mit blauem Schal.
Ricarda hatte sie nur kurz gesehen, trotzdem war sie sich sicher. »Die hol ich mir!« Schon hatte sie die Wagentür aufgerissen und rannte los. Sie überquerte die Straße, kaum dass sich ihr eine kleine Lücke im Verkehr auftat. Auf dem Bürgersteig musste sie den vielen Leuten ausweichen, die in Richtung der alten Mälzerei unterwegs waren, in der sich seit drei Jahren ein Kaufhaus befand. Sie merkte gar nicht, dass Eric dicht hinter ihr war. Bald holte er sie ein.
»Wo?«, fragte er atemlos.
»Sie stand da im Hauseingang. Sie ist in diese Richtung!« Ricarda zeigte in Richtung des Straßenbahnhofs Trachenberge. Die Frau war nicht mehr zu sehen. »Zwischen den Autos vielleicht!«, schniefte sie.
Eric beschleunigte und rannte bis zur nächsten Kreuzung, wo er suchend stehenblieb. Dann hob er die Hände und ließ sie resignierend wieder fallen. Ricarda hatte ihn eingeholt.
»Die ist mir schon zwei Mal über den Weg gelaufen.«
»Ob es die ist, die dich belästigt?«, fragte Eric. Er war kein bisschen außer Atem.
»Aber warum sollte sie mich denn belästigen? Und vor allem: Wer ist sie?«
Eric hob die Schultern. »Diese Frau Krüger vielleicht, die Hebamme? Das finden wir heraus.«