22
Leipzig, Februar 1994
»Auf Wiederhören!« Ricarda legte auf. Diese Woche schien nicht vergehen zu wollen, dachte sie. Zwar war schon Freitag, doch morgen hatte sie noch einmal Dienst, danach erst konnte sie heimfahren. Sie musste sich um Yvonne kümmern, auch wenn sie noch gar nicht wusste, wie. Sie sah zu Connys Arbeitsplatz, der dem ihren gegenüber war. Conny wiederholte ihre Worte gerade zum dritten Mal. Dabei bemerkte sie Ricardas Blick, erwiderte ihn und verdrehte die Augen. Schon klingelte Ricardas Telefon wieder.
Ricarda ließ es zweimal klingeln, nahm ab. »MöbelhausH…«
»Friedrich hier, aus der Zentrale. Ein Telefonat für Sie, Frau Weber, es scheint dringend, ich stelle durch!«
Es tutete kurz im Hörer, dann hörte Ricarda ein leises Geräusch. »Ja?«, fragte sie misstrauisch.
»Ricarda?« Es war die Stimme ihrer Mutter, die so unheilvoll klang, dass klar war, etwas Schlimmes musste passiert sein. Lass es nicht Ines sein, flehte Ricarda in Gedanken.
Ihre Mutter atmete schwer und suchte nach Worten. »Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen«, hauchte sie dann mit zitternder Stimme.
»Warum?«, fragte Ricarda, doch im selben Augenblick wusste sie, was geschehen war.
»Du fragst noch? Schäm dich, sag ich dir, schäm dich! Glaubst du, dein Vater hätte damals nicht gelitten? Und nie gibst du Ruhe, immer und immer wieder fängst du von vorne an, als ob es nicht schwer genug für ihn war. Schäm dich, sag ich nur, schäm dich!« Dann tutete es in der Leitung. Ihre Mutter hatte aufgelegt.
Ricarda drückte auf die Gabel, wählte die Null vor und tippte Steffens Nummer. Er ging nicht ans Telefon, wahrscheinlich war er arbeiten. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte es wieder. Sie nahm ab. Ihre Fingerspitzen waren taub.
»Möbelhaus H…«
»Noch mal Friedrich, noch ein Telefonat für Sie. Gibt es Probleme, Frau Weber?«
»Nein, keine, nichts«, brachte Ricarda hervor.
»Gut, ich stelle durch.«
»Mutti!« Es war Ines. »Mutti, ist das dein Ernst?«
»Ines, was denn?«
»Ich denke, mich trifft der Schlag vorhin. Mensch, was denkst du dir denn? In der Bild-Zeitung!« Es hörte sich an, als ob Ines weinte.
»Bist du in Dresden?«, fragte Ricarda, hin- und hergerissen zwischen Unglaube und Entsetzen.
»Was? Nein, ich bin hier, in Freiburg.«
In Freiburg. Es stand also nicht nur etwas in der Dresdner Ausgabe, sondern deutschlandweit. »Ines, ich kann jetzt nicht darüber reden. Ines, ich muss!« Ricarda legte auf und erhob sich. Beinahe wären ihr die Beine weggeknickt. Als Conny sah, wie sie sich auf der Tischplatte abstützte, stand sie auf und kam um den Tisch.
»Mir ist übel, ich muss kurz raus!«, keuchte Ricarda.
»Ich komme mit!« Es klingelten beide Telefone.
»Nein, bleib!« Ricarda wollte Conny abwehren.
»Red doch nicht!« Conny griff ihr unter den Arm.
Schon kam Stelzel aus seinem Büro. »Was machen Sie denn da?«
»Ihr ist nicht gut! Wir gehen raus. Ist das ein Problem?«, fuhr Conny ihn an. Beinahe erschrocken schüttelte er den Kopf und ging dann mit ihnen mit, um die Tür zu öffnen.
»Was ist denn?«, fragte Conny draußen.
»Wo krieg ich eine Zeitung her? Jetzt sofort. Eine Bild-Zeitung!« Ricarda lehnte sich schwer atmend an die Wand.
»Ach, du Heiland.« Conny griff sich an die Stirn. »Die Leute im Lager! Soll ich eine holen?«
Ricarda nickte schwach, dann lehnte sie ihren Kopf zurück und schloss die Augen.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Conny wiederkam. Ricarda wartete solange mit geschlossenen Augen. Sie hörte, wie Kollegen sich näherten und kurz zögerten. Doch niemand sprach sie an. Wagten sie es nicht, wollten sie nicht? Was wussten sie bereits aus der Zeitung? Schon wieder war sie betrogen worden. Gab es nichts, worauf man sich verlassen konnte, nichts und niemanden?
»Ricarda«, sagte Conny leise. Ricarda drehte den Kopf und sah sie an. Conny war kreideweiß im Gesicht und hielt die zusammengerollte Zeitung in der Hand. »Wir gehen in den Pausenraum.«
»Was steht drin?«
»Komm!«
Der große Raum war grau und leer und erinnerte einmal mehr an eine Gefängniskantine. Conny setzte sich an den erstbesten Tisch und wartete, bis auch Ricarda sich gesetzt hatte.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie, »das habe ich nicht geahnt, dass du an so einen gerätst!« Jetzt legte sie Ricarda die Zeitung hin.
Das Erste, was Ricarda sah, war ihr eigenes Gesicht auf dem Titelblatt. Es war ein schreckliches Bild, das direkt vor der Kneipe in Leipzig gemacht worden war. Ihr Mund stand halb offen. Sie hatte in dem Moment gesprochen, das wusste sie noch, doch auf dem Bild sah es aus, als heulte sie. Die Schatten unter den Augen schienen nachträglich eingefügt zu sein. Mit tauben Fingern klappte sie die untere Zeitungshälfte aus. Sie hob die Hand zum Mund. Das blanke Entsetzen packte sie.
Die Schlagzeile lief in großen Lettern quer über die ganze Seite: Die DDR hat mir mein Kind gestohlen. Eine Frau klagt an. Mein eigener Vater hatte seine Hände im Spiel.
»Ich muss mich übergeben!«, stöhnte Ricarda auf. Doch ihr war eher, als müsste sie ohnmächtig werden.
Conny berührte unbeholfen ihre Schulter, nahm die Hand aber gleich wieder weg, weil Ricarda heftig den Kopf schüttelte und sich ihr entzog. Seite drei, stand ganz klein neben der Schlagzeile, und Ricarda machte Anstalten, die Zeitung aufzuschlagen.
Conny legte schnell ihre Hand auf Ricardas. »Lies das nicht!«, bat sie inständig.
»Ich muss«, stöhnte Ricarda und schlug die Zeitung auf.
Sie fühlte sich wie betäubt, als sie in das Büro zurückging. Der Gang vor ihr schien sich endlos zu dehnen, die Wände verschwammen vor ihren Augen. Ganz plötzlich waren die Schmerzen im Unterleib wieder zurück, als bohrte sich ein glühender Haken in sie. Es hatte einfach alles in dem Artikel gestanden, wer ihre Eltern waren, in welchem Krankenhaus sie entbunden hatte, ihre ganze Geschichte, ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen, all die Zweifel und Mutmaßungen. Es stand sogar da, in welchem Viertel in Dresden sie wohnte und wo sie arbeitete. Ricarda krümmte sich und wehrte ab, als Conny ihre Hilfe anbot. Mehrere Telefone klingelten im Hauptbüro, doch niemand nahm ab. Alle sahen sich nach ihr um. Sie wissen es, dachte Ricarda. Diese Gesichter, diese unbeteiligten Augen, die nicht wussten, wie es wirklich war. Was man ihr entrissen hatte. Ein Kind. Ihr Kind.
Langsam ließ sie sich auf ihren Stuhl gleiten. Die Telefone schrillten unablässig. Das Geräusch zerfetzte ihre Nerven.
»Will denn keiner rangehen?«, rief sie. Nur damit es aufhörte zu klingeln. Sie griff selbst nach dem Hörer, unterbrach die Verbindung aber sofort, um Erics Nummer zu wählen. Während der Rufton ertönte, schloss sie die Augen und bedeckte ihr Gesicht mit einer Hand. Es war, als stürze sie in einen dunklen Schacht, als hätte sie endgültig den Halt verloren. Dass sie so auf den Mann hereingefallen war!
Am anderen Ende nahm jemand ab. Die Sekretärin.
»Weber«, sagte Ricarda leise.
»Ich verbinde Sie«, sagte die Frau, ohne nachzufragen, wen sie sprechen wollte. Das war kein gutes Zeichen. Ganz und gar nicht. Endlich war Eric am Apparat. Er sagte kein Wort.
»Eric«, presste Ricarda heraus. Sie wollte nicht weinen. Nicht hier, vor allen Leuten. Sie hörte Eric atmen. Da wusste sie endgültig, er hatte es schon gelesen.
»Du musst mir glauben, Eric, so war das nicht geplant. Ich habe dem Mann vertraut. Ich dachte, er hilft mir!«
»War dir meine Hilfe nicht genug?«, fragte Eric.
»Doch, Eric, doch. Aber ich konnte doch nicht wissen …«
»Hat er dir nicht gesagt, für wen er arbeitet?«
»Nein.« Und sie hatte auch nicht gefragt. Sie hatte dem Mann vertraut. Sie war so voller Hoffnung gewesen.
»Aber warum hast du mich denn nicht gefragt? Du hättest mich nur anrufen müssen.«
Ricarda schwieg. Sie wusste, was dann gewesen wäre. Er hätte es ihr ausgeredet und sie hätte ihn gehasst dafür. Obwohl er recht gehabt hätte. Und jetzt war es zu spät.
Eric wartete nicht auf ihre Antwort. »Gleich heute Morgen rief das Krankenhaus an. Sie wollen klagen. Gegen dich, wegen Verleumdung, wegen Diebstahl und Datenmissbrauch. Und gegen die Kanzlei wollen sie auch klagen.«
»Aber warum?« Sie spürte, wie ihr die Tränen zwischen den Fingern hindurchliefen.
»Weil sie glauben, ich hätte die Kampagne veranlasst.«
»Aber du warst es doch nicht. Ich kann das beschwören, ich …«
»Das ist nicht nötig«, sagte Eric leise. Für Ricarda hörte es sich an wie »Du machst es nur noch schlimmer«.
»Hier rufen Fernsehsender an und der ›Stern‹ und der ›Spiegel‹. Schrempp hat schon ein Meeting einberufen. Kaleschke und Heinze sitzen schon im Flieger nach Dresden. Es geht um meinen Job.«
»Eric«, sie suchte nach Worten, »darf ich zu dir kommen? Bitte! Jetzt.«
»Ricarda, ich muss das jetzt hier klären. Komm nicht. Mach deinen Dienst. Und vielleicht …«
»Sag das jetzt nicht!«, fiel ihm Ricarda ins Wort.
»Ich meine, vielleicht ist es besser …«
»Nein, bitte, Eric, sag es nicht.«
»Ricarda, ich kann dich jetzt nicht sehen. Nicht heute und nicht dieses Wochenende. Mach’s gut Ricarda.« Eric legte auf.
»Nein, die arbeitet hier nicht!«, hörte Ricarda Conny, die wieder an ihrem Arbeitsplatz saß, gerade sehr deutlich ins Telefon sagen. Ricarda konnte ihren entschuldigenden Blick nicht ertragen. Sie erhob sich.
»Ich fahre jetzt nach Hause, nach Dresden«, sagte sie.
»In dem Zustand? Mach keinen Quatsch. Du gehörst ins Bett!« In Connys Stimme schwang Besorgnis mit.
»Ich muss zu Eric. Ich muss ihn sehen. Ich kann ihn nicht verlieren. Ich habe schon Steffen verloren deswegen.«
Conny schüttelte den Kopf. »Lass ihm etwas Zeit, heute wenigstens. Und schlaf dich aus. Du wirst sehen, so schlimm wird das am Ende gar nicht.«
»Ricarda?«, rief ein Kollege und hob seinen Telefonhörer hoch, die Hand auf die Sprechmuschel gepresst. »Da will einer mit dir sprechen!«
Ricarda schüttelte nur den Kopf, wodurch ihr nur noch schwindliger wurde. »Ich muss an die Luft!«
Conny wollte aufstehen.
»Nein, bleib hier. Ich muss allein sein. Ich schaff das schon.«
Als es laut neben ihr hupte, lenkte sie hastig wieder nach rechts. Aber die Autobahnauffahrt war hier zu Ende, deshalb fuhr sie auf dem Standstreifen weiter. Hektisch sah sie immer wieder über die linke Schulter, um den richtigen Moment zum Einfädeln zu erwischen. Ein Laster betätigte die Lichthupe. Ricarda verschaltete sich, der Motor heulte auf, und der Laster näherte sich von hinten. Endlich gelang es ihr, den vierten Gang einzulegen und zu beschleunigen. Sie wischte sich mit der flachen Hand über die Wangen. Es war dumm, was sie tat, doch unter all den dummen Dingen, die sie gemacht hatte, war das noch eine Kleinigkeit.
Sie musste Eric sehen, wollte ihm sagen, dass es ihr leidtat, und beteuern, dass sie ihn nicht nur ausgenutzt hatte. Und Yvonne wollte sie besuchen, auch auf die Gefahr hin, dass sie nichts von ihr wissen wollte.
Sie hatte Angst vor diesen Begegnungen. Was, wenn Eric sie nicht sehen wollte? Ihr vielleicht die Tür vor der Nase zuschlug? Und wenn schon, dachte sich Ricarda, und beschleunigte noch einmal.
Die Autobahn war nass, und die Laster zogen weiße Schleier hinter sich her, die sie beim Überholen für kurze Zeit blind fahren ließen. Immer wieder näherten sich größere Wagen von hinten, bedrängten sie mit Lichthupe und Blinker und zwangen sie zurück auf die rechte Spur, zwischen Sattelzüge oder Lastwagen.
Dann soll er mich doch verlassen, sagte eine innere Stimme zu Ricarda. Ich komme schon allein zurecht, schon seit Langem. Ohne zu blinken zog sie wieder auf die Überholspur. Sie würde sich nicht mehr vertreiben lassen. Sollten sie gefälligst warten in ihren blöden Karren, bis sie überholt hatte. Und ihre Mutter sollte sich schämen! Überhaupt sollten sich ihre Eltern mal fragen, was sie falsch gemacht hatten. Sollten sie ruhig ein bisschen Angst haben, dass es ihnen jetzt an den Kragen ging. Vielleicht fragte ja doch mal jemand nach, was der feine Herr Professor Raspe für Geschäfte gemacht hatte. Es konnte ihr egal sein.
Schon wieder näherten sich Lichter von hinten und schlossen schnell auf. Egal, jetzt fuhr sie hier.
»Ach, sei still!«, fuhr Ricarda das Autoradio an, denn George Michael sang, und das konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Sie wollte nicht, dass Eric sie verließ, sie wollte, dass er ihr glaubte, anstatt vor seinen Chefs zu Kreuze zu kriechen. Die dachten wohl, in einer besseren Gesellschaft zu leben, nur weil man nicht vor der Stasi und den Leuten mit der Parteinadel kuschen musste. Was für ein Irrglaube, wenn doch jeder seinem Vorgesetzten in den Hintern kroch und nur etwas galt, wenn man ein dickes Auto fuhr und einen Haufen Geld besaß. Wütend hieb Ricarda auf die Auswurftaste des Kassettendecks. Hinter ihr hupte es. Das Gerät warf die Kassette aus und Ricarda schleuderte sie auf den Beifahrersitz.
Ein Stoß ließ ihren Kopf an die Kopfstütze prallen. Jemand hatte sie gerammt. Ihr Peugeot drehte sich nach links und schlug in die Mittelleitplanke. Ricarda verstand gar nicht so schnell, was los war, und wollte die Richtung korrigieren. Sie kurbelte am Lenkrad, doch dann stellte sich das Auto quer und die Räder verkanteten sich. Sie bemerkte noch, wie der Wagen abhob, spürte die Beschleunigung, als er sich zu überschlagen begann. Dass sie morgen Dienst hatte, war das Letzte, was sie dachte, da war sie mit dem Kopf schon drei, vier Male gegen die Scheibe geschlagen. Dann verlor sie das Bewusstsein.