23
Was war geschehen? Schmerzen, Schwäche. Sie fühlte sich selbst nicht mehr, alles war dumpf. Stimmen, laute Stimmen, doch sie schienen weit weg zu sein. Diese Schmerzen. Die machten alles taub. Das Licht war zu grell, sie konnte die Augen nicht öffnen. Sie wollte etwas sehen, doch die Augen waren ihr wie zugeklebt. Die Stimme.
»Pressen, Sie müssen pressen! In den Schmerz hinein!«
Schmerz, da war nur Schmerz. Etwas hatte sich in ihren Unterleib gebohrt, dehnte sich aus, zerdrückte ihre Organe, ließ ihr die Adern schwellen, dass sie gleich platzen mussten. Sie hatte keine Kraft mehr, konnte sich nicht mehr bewegen, nicht einmal den Kopf heben. Sie war vollkommen erschöpft. Viele Stunden schon lag sie so. Sie hatte Durst, ihr Rachen war ausgetrocknet, die Zunge, die Lippen wie Pergament. Es war, als wäre alles aus ihr herausgeflossen, alles Leben. Und als sie glaubte, es könnte nicht schlimmer werden, rollte eine neue Welle heran, erfasste sie, ein Krampf, der ihren Leib zusammenpresste. Sie wollte das nicht, doch ihr Mund öffnete sich, die trockene Haut platzte, ihre Kehle war wie Stacheldraht und sie schrie dagegen an.
Jemand packte sie an den Schultern. »Nicht schreien! Du vergeudest Atem!«, donnerte eine Stimme. Diese Stimme. Jetzt öffnete sie qualvoll die Augen und blickte hinein in das grelle Licht. Sie suchte nach dem Gesicht, zu dem die Stimme gehörte. Sie sah nichts, ihre Augäpfel verdrehten sich.
»Fassen Sie hier an! Ziehen! Ziehen Sie!«
»Wir müssen …«
»Wir haben keine Zeit mehr. Ricarda, reiß dich zusammen. Pressen. Es muss kommen! Jetzt!«
Sie presste, auch wenn es sie fast zerriss. Irgendetwas war nicht richtig. Diese Panik in den Stimmen. Was war los? Sie presste alles aus sich heraus, presste, dass ihre Zähne knirschten und das Blut aus den zersprungenen Lippen tropfte. In ihren Ohren rauschte es und gleich würde ihr der Körper zerspringen. Sie würde sterben. Und sie war so einsam mit diesen Gedanken.
»Jetzt. Ziehen Sie!«, befahl die Stimme. Das war ihr Vater.
»Schere! Dalli!«
Ricarda spürte plötzlich, wie der Druck nachließ, wie sie leicht wurde und alles von ihr abfiel. So leicht war sie plötzlich, dass sie sich am Bett festkrallte, um nicht loszufliegen. Der Schmerz ließ nach, verlor sich so schnell, dass es ihr vorkam, als sei er nie da gewesen. Nun spürte sie den Schweiß am ganzen Leib, roch all die Gerüche, die sie umgaben, nun spürte sie die Kälte auf ihrer Haut. Jemand legte eine Decke über sie. Ihre Lider schlossen sich, doch sie wollte sehen, wollte dabei sein. Sie riss die Augen auf. Sie hörte jemanden atmen. Erschöpfung. Angst. Erleichterung. Ansonsten Stille. Die Schwärze kam wie ein Schwarm schwarzer Käfer, wie eine Wolke, die sie umhüllte, summend, sirrend. Ricarda versuchte, die Augen wieder zu öffnen. Jemand berührte sie. Ihre Stirn. Ihr Handgelenk. Vertrieb die Dunkelheit. Doch kaum ließ sie los, kehrte sie zurück. Dann legte man ihr etwas um den Arm, ganz eng. Ricarda stöhnte leise.
»Ich messe nur Blutdruck«, flüsterte jemand.
»Warten Sie noch ein wenig mit der Nachgeburt, wenn sich aber in den nächsten zehn Minuten nichts tut, helfen Sie nach«, erteilte jemand Anweisungen. Noch einmal fühlte sie einen Schmerz, einen kleinen Stich im Arm. Dann war da wieder diese surrende Dunkelheit, hüllte sie ein. Sie hatte es überstanden, dachte sie und ließ sich endlich von der Müdigkeit überwältigen.
Sie lag lange in diesem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Die Augen geschlossen, nahm sie alle Geräusche wahr. Rascheln. Leises Flüstern. Gelegentlich klapperte etwas. Es hatte eine Zeit gebraucht, bis sie verstand, wo sie war. Die Wöchnerinnenstation. Doch alles war träge in ihr, ihre Gedanken tropften zäh. Sie wagte nicht, in sich hineinzuhorchen. Sie lebte. Sie wünschte sich, ewig so liegen bleiben zu können. Ewig im Nichts. Keine Gedanken. Keine Gefühle.
Doch dann näherten sich Schritte, Metall quietschte leise. Ricarda öffnete vorsichtig die Augen, wollte sie sich mit der Hand abschirmen und merkte, dass in ihrem Handrücken eine Infusionsnadel steckte, an der ein Schlauch hing. Sie blinzelte und richtete sich ein wenig auf. Die Bewegung verursachte wieder Schmerzen, wie ein Muskelkater am ganzen Körper.
Sie lag in einem Zimmer mit fünf weiteren Frauen, die alle Säuglingsbetten neben sich stehen hatten. Die Vorhänge der beiden großen Fenster waren aufgezogen. Draußen wurde es bereits hell, doch die großen Deckenlampen waren noch angeschaltet. Eine der Frauen hatte Ricarda vorher schon mal gesehen, gestern hatten sie sich ein Zimmer geteilt.
Plötzlich öffnete sich die Tür und fünf Schwestern kamen herein, mit jeweils einem fest eingewickelten, schlafenden Säugling auf dem Arm. Sie gingen an ihrem Bett vorbei und legten den anderen Frauen jeweils ihr Kind in die Arme. Ricarda beobachtete die Szene wie hinter einem Schleier. Die Erinnerungen, die sich in so weiter Ferne befunden hatten, kamen mit aller Wucht zurück. Wie nahe war sie gestern Nacht dem Tod gewesen? War jede Entbindung so? Warum hatte ihr das keiner gesagt, warum hatte sie keiner gewarnt? Ricarda sah zur Tür, wo blieb die Schwester mit ihrem Kind, wollte sie fragen, wagte es aber nicht. Es herrschte so eine andächtige Stimmung im Raum, voller Ehrfurcht und stiller Freude. Bestimmt würden sie ihr das Kind gleich bringen.
»Frau Raspe, kommen Sie bitte?«
Ricarda fiel es schwer, ihren Blick auf die Schwester zu fokussieren, die nun auf der anderen Seite an ihrem Bett stand.
»Ich?«
Wo ist denn mein Kind, wollte sie fragen. Mein Kind, wieso bringen Sie es mir nicht?
»Können Sie aufstehen? Ich helfe Ihnen. Wir müssen Ihren Kreislauf in Schwung bringen.«
Ricarda nickte der Frau zu, die sie freundlich ansah, aber keinen Widerspruch zu dulden schien. Mühsam stemmte sie sich hoch, ließ sich von der Krankenschwester helfen, schob ihre Beine über die Bettkante.
»Wohin muss ich denn?«, fragte sie. Eines der Neugeborenen begann in den Armen seiner Mutter mit noch schwacher Stimme zu schreien. Ein zweites setzte ein. Eine Schwester erteilte den frischgebackenen Müttern gleich einen Rat und zeigte ihnen, wie man dem Kind den kleinen Finger zum Nuckeln anbieten konnte.
»Kommen Sie, Doktor Liebig möchte Sie sprechen.« Die Schwester löste den Infusionsschlauch von der Nadel, hängte ihn über das Gestell.
»Ich weiß nicht, ob ich stehen kann.« Es fühlte sich an, als sei ihre Zunge taub, als wäre sie geschwollen. »Haben Sie keinen Rollstuhl?«
»Sie sind nur geschwächt, Frau Raspe. Aber keine Sorge, das wird schon. Sie werden sehen!« Die Schwester half ihr, die Füße in die Pantoffeln zu schieben, griff ihr dann unter den Arm. Ricarda kam auf die Beine und sah an sich herab. Sie trug nur einen Krankenhauskittel.
»Sie können sich gleich umziehen. Zuerst gehen Sie auf die Toilette, dann waschen Sie sich. Ich bleibe bei Ihnen, keine Sorge.«
Ricarda nickte und wagte vorsichtig ein paar Schritte. Als sie sich in der Tür noch einmal umdrehte, sahen sie alle an.
»Frau Raspe«, empfing sie der Arzt mit ernstem Gesicht und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er war ein älterer Mann, älter als ihr Vater, nicht sehr groß, mit akkurat gekämmtem Haar. In seiner Kitteltasche steckte eine zusammengeklappte Brille.
»Ist mein Vater nicht da?«, fragte Ricarda leise.
»Seine Schicht ist vorüber. Frau Raspe, wie geht es Ihnen?«
»Ich fühle mich sehr schwach. Aber das ist nicht so wichtig. Ich möchte wissen, wo mein Kind ist.«
Doktor Liebig nickte. Er hatte die Arme auf den Tisch gestützt und die Handflächen aneinandergelegt, als wollte er beten.
»Bei der Entbindung Ihres Kindes letzte Nacht kam es leider zu Komplikationen. Laut dem ersten Befund, hatte sich die Nabelschnur um den Hals des Kindes gewickelt. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es noch während des Geburtsvorganges verstorben ist.«
»Warum sagen Sie das?«, fragte Ricarda. Das betraf sie doch gar nicht. Gestorbene Kinder gingen sie nichts an. Sie wollte ihr Kind sehen. Ihr Baby.
»Frau Raspe, manchmal passiert so etwas. Da sind auch wir Ärzte machtlos.«
»Aber mein Vater war doch da … und ich war da … ich habe dieses Kind geboren …« Sie verstand einfach nicht, was hier gerade passierte. Ihr war schwindlig. Bestimmt hatte sie viel Blut verloren, und sie konnte sich daran erinnern, dass man ihr eine Spritze gegeben hatte.
Der Arzt hatte jetzt seine Hände vor sich auf dem Tisch liegen. »Frau Raspe, es ist, wie es ist. Das Kind ist gestorben. Das ist eine schlimme Sache, mit der Sie lernen müssen, umzugehen.«
»Es ist tot?«, hauchte Ricarda. »Aber mein Vater hat es gleich mitgenommen.«
»Wir haben versucht, es wiederzubeleben, doch der Geburtsvorgang hat zu lange gedauert und die Nabelschnur hatte sich, wie gesagt, mehrfach um den Hals gewickelt. Es ist tot. Und es ist besser so. Selbst wenn es überlebt hätte, wäre es wegen des minutenlangen Sauerstoffmangels im Gehirn schwer behindert gewesen.«
»Was?« Ricarda sah Doktor Liebig verständnislos an. Seine Worte reihten sich aneinander, hörten sich sinnvoll an, doch sie ergaben keinen Sinn. »Ich habe es doch in mir getragen, die ganze Zeit.«
»Frau Raspe, es ist nicht leicht, aber mit der Zeit werden Sie das akzeptieren. Ich muss Sie bitten, mir das hier zu unterschreiben.«
»Unterschreiben?« Ihr Blick begann zu verschwimmen. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Stift. Der Arzt schob ihr ein Formular zu, ein gelbliches Blatt Papier.
»Dort müssen Sie unterschreiben.«
»Was ist das?« Sie las ihren Namen, der Rest der Schrift verschwamm.
Der Arzt erklärte ihr etwas, das sie nicht verstand. Sie unterschrieb automatisch und starrte immer wieder den Arzt an. Es musste eine Verwechslung sein. Ihr Vater war doch Arzt, er war doch dabei gewesen. Wie konnte etwas Derartiges passieren?
»Wo ist mein Kind?«, fragte sie mitten hinein in Liebigs Ausführungen.
Der Arzt stockte. »Gleich nach der Entbindung haben wir es obduzieren lassen. Das ist ein üblicher Vorgang.«
»Wo ist es jetzt?«, fragte Ricarda. Sie konnte sich nichts darunter vorstellen. Es war ihr unmöglich, die Worte des Arztes mit sich in Verbindung zu bringen. Sie war gesund und ihr Kind ebenso.
»Es befindet sich noch in der pathologischen Abteilung, bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Dann wird es dem Bestattungsinstitut überwiesen.« Der Arzt nahm den Zettel.
»Ich möchte es sehen«, flüsterte Ricarda.
»Bitte?«, fragte der Arzt.
»Ich möchte es sehen«, wiederholte Ricarda leise.
»Also, Frau Raspe, das ist keine gute Idee. Ich empfehle Ihnen, das alles schnell zu vergessen. Sehen Sie es sich gar nicht erst an, das verschlimmert nur Ihr Leid. Glauben Sie mir. Das Beste ist, in die Zukunft zu blicken. Sie werden noch mehr Kinder haben. Sie sind noch sehr jung. Jetzt scheint es Ihnen vielleicht unmöglich zu sein, aber Sie verkraften das!«