25
Dresden, März 1973
Sein Herz schlug laut, als er wieder draußen war. So etwas hatte er noch nie getan. Jetzt hatte er wirklich Gesetze gebrochen. Warum eigentlich, fragte er sich. In seiner Situation wäre es doch viel besser gewesen, sich unauffällig zu verhalten. Dass Dinge geschahen, die ihn nichts anzugehen hatten, wusste er. Die DDR
war ein kleiner fragiler Staat, ein Dorn im Auge der Westmächte, dieser Kriegstreiber und Imperialisten. Er musste sich mit allen Mitteln verteidigen. Dabei gab es viel wichtigere Leute als ihn, die sich darum kümmern sollten. Männer mit Macht und Entscheidungsgewalt. Sein Führungsoffizier zum Beispiel, Voigt. Doch ebendieser Mann, auf den er so große Stücke gehalten hatte, hatte sich gerade als hartherzig und mitleidlos gegenüber einer jungen, verzweifelten Frau erwiesen, die jetzt nackt und tot in einem Keller der Stasizentrale aufgebahrt lag. Zeichnete dies einen großen Strategen aus, oder hatte er angesichts seiner großen Aufgaben einfach nur seine Menschlichkeit verloren? War die DDR
nicht ein Staat, der seine Bürger zu schützen versprach? Galt das nur für die, die sich anpassten? Offenbar gab es hier keinen Spielraum. Aber wollte nicht jeder einfach nur zufrieden leben?
Voigt hatte mit seinem Verhalten etwas in Rust ausgelöst, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, das sein ganzes Weltbild erschütterte. Der Tod dieser jungen Frau, der eindeutig höheren Stellen von Nutzen sein sollte, konnte nicht einfach hingenommen werden. Das durfte er einfach nicht akzeptieren.
Die Abenddämmerung hatte schon eingesetzt und mit ihr der Feierabendverkehr. Busse und Bahnen waren voll, die Autos, Wartburgs, Trabants, einige Ladas und neue Dacias aus Rumänien, ratterten über das Kopfsteinpflaster und stauten sich vor den Ampeln. Blaue Abgase mischten sich mit feuchter kalter Luft. Rust sah sich um. Jeder da draußen konnte bei der Stasi sein. Der Mann an der Haltestelle, der nicht in den Bus gestiegen war. Der Raucher an der Mauer vor dem Klinikgelände. Die Frau auf dem Beifahrersitz des geparkten Skoda. Die Straßenbeleuchtung schaltete sich ein, das gelbe Licht verschwamm im feuchten Dunst. Rust schüttelte sich und spürte die Angst, die sich leise einschlich. Was war das für ein Leben? Wenn man hinter jedem Fremden und jedem Bekannten einen Spitzel vermutete? Wenn man sich niemandem mehr anvertrauen konnte? Wenn sie jederzeit in deine Wohnung kommen konnten, deine Briefe lasen, deine Gespräche belauschten? Heute war er noch als einer der ihren in der Stasizentrale empfangen worden. Doch man hatte ihm deutlich gemacht, was ihn erwartete, wenn er die Seiten wechseln würde.
Rust steckte die Hände in die Jackentaschen und ging los. Dagmar Krügers Akte hatte er unter seiner Jacke versteckt. Sie war nicht sehr dick, er spürte, wie die Pappe an seinem Pullover rieb, und er hielt sie durch den Stoff der Jacke fest, damit sie nicht herausrutschte. Sollte er nach Hause gehen? Dann würde er sich demnächst wieder aus der Wohnung schleichen müssen. Es sei denn, sie waren ihm sowieso längst auf den Fersen. Rust sah sich um, obwohl er sich geschworen hatte, das nicht zu tun. Er wollte sich geben wie jemand, der nichts zu verbergen hatte. Doch als ihn nur Sekunden später ein Radfahrer von hinten eilig überholte, spürte er die Angst wieder. So war das also, es konnte einen mürbe machen. Wie lang hielt man das aus? Und noch ein Gedanke schlich sich ein, den er kaum wagte, zu Ende zu denken: War das nicht dasselbe wie unter den Nationalsozialisten? Diese Angst vor der geheimen Polizei, die ständige Angst vor Denunzianten? Die Angst, über Nacht abgeholt zu werden? Sollte das der Kitt sein, der dieses Land zusammenhielt?
Als er schon bei der nächsten Kreuzung angelangt war, fiel ihm die Gaststätte ein, in der er schon einmal gewesen war. Dort würde er abwarten und beobachten, ob ihm jemand gefolgt war.
Er wartete etwa zehn Minuten, dann erst wagte er, seine Jacke zu öffnen. Die Kellnerin brachte ihm ein Kännchen Kaffee, beachtete ihn aber sonst nicht weiter. An den anderen Tischen war nicht viel los, ein paar ältere Damen tranken Kaffee und aßen Blechkuchen. Rust nahm die Akte hervor, legte sie auf den Stuhl neben sich. Er gab Kaffeesahne in seinen Kaffee, rührte und kostete. Noch immer geschah nichts weiter, niemand kam herein, und alle anderen Gäste waren schon vor ihm da gewesen. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, wagte er, die Akte herauszuziehen und aufzuschlagen.
Es war eine ganz normale Kaderakte, die weniger Informationen preisgab als erhofft. Dagmar Krüger war etwas älter gewesen als er, war seit zwei Jahren mit Norbert Krüger verheiratet und hieß mit Mädchennamen Schulze. Mehrmals hatte sie einen Antrag auf Versetzung gestellt, dem jedoch nicht stattgegeben worden war. Der Grund ihrer Versetzungsgesuche war nicht angegeben. Enttäuscht ließ Rust die Akte sinken. Die ganze Aufregung war umsonst gewesen. Er war zu keinem Ergebnis gekommen.
»Na, keine Lust zum Lernen?«, fragte die Kellnerin.
Rust fuhr zusammen. Er hatte sie nicht kommen sehen. Hastig schaute er auf die offene Akte.
»Ökonomie, oder?« Die Kellnerin warf einen halb belustigten, halb neugierigen Blick auf die Blätter.
Rust seufzte und nickte, wenn er jetzt hastig den Hefter zuschlagen würde, machte er sich nur verdächtig.
»Habe ich auch zu studieren begonnen. Bin aber geext worden.« Sie setzte sich ganz ungeniert ihm gegenüber.
»Ach, ja?«, fragte Rust und nutzte die Gelegenheit, die Mappe beiseitezuräumen.
»Ich habe wohl zu oft kritische Fragen gestellt. Dabei sollte man doch Fehler ansprechen dürfen, damit sie behoben werden, oder?«
»Allerdings«, erwiderte Rust so neutral wie möglich. Er traute der Situation nicht. Suchte sie nach Anschluss oder gehörte sie zu denen? Das war absurd.
»Dabei habe ich es wirklich gut gemeint. Ich habe mich gefragt, wie eine Planwirtschaft funktionieren soll, wenn die Betriebe und Kombinate nicht mal ausreichend mit Materialien versorgt werden können. Ich war zur praktischen Arbeit in verschiedene Betriebe delegiert, und egal wo, immer wieder standen die Maschinen still. Keine Kohle, kein Zement, kein Granulat, keine Muttern. Und sobald es hieß, es gäbe irgendwo etwas im Laden, rannten sowieso alle vom Arbeitsplatz weg. Musstest du noch nicht in die Produktion?«
Rust schüttelte den Kopf. »Habe gerade angefangen. Bin erst von der Fahne zurück.«
Die Kellnerin stöhnte auf. »Warst du etwa drei Jahre?«
Rust nickte. Er wusste, es war von großem Vorteil, sich freiwillig drei Jahre zur Nationalen Volksarmee zu verpflichten, statt der üblichen anderthalb Jahre, um einen guten Studienplatz zu ergattern.
»Na ja, nun mach ich das.« Die junge Frau sah an sich herab und lachte. Rust fand sie hübsch und nett, aber er hatte momentan andere Sorgen. Doch ihre Worte hatten ihn noch nachdenklicher gemacht. Offensichtlich hatte er sich ein ganz anderes Bild von dem sozialistischen Staat gemacht, dem er seine Treue geschworen hatte. Wie konnte er so blind gewesen sein. Was hatte er sich immer gedacht, wenn er die verfallenen Altbauviertel sah? Jeder wusste, wie schwer es war, an eine Wohnung zu kommen. Radeberger Pilsner bekam man allenfalls einmal im Jahr, der Kaffee war gestreckt, und wenn das Auto kaputt war, musste man in der Werkstatt darum betteln, dass sie ein Ersatzteil besorgten. Und dann wurde jeden Abend in der ›Aktuellen Kamera‹ im Fernsehen von der Übererfüllung der Pläne und den gebrochenen Normen berichtet, wo doch der alltägliche Mangel so offensichtlich war. War es vielleicht das, was seinen Chef Seidel so zynisch gemacht hatte?
»Na, ich lass dich mal«, sagte die Kellnerin und erhob sich wieder.
»Ich möcht gleich zahlen.« Rust hatte beim Gedanken an Seidel eine Eingebung gehabt.
»Dann kriege ich achtzig Pfennig.«
Rust kramte eine Mark hervor und schob sie über den Tisch.
»Vielleicht kommst du ja mal wieder. Bin fast immer da«, sagte sie und zwinkerte ihm aufmunternd zu.
»Bestimmt«, log Rust, zog sich die Jacke über und steckte die Akte ein.
An der Fritz-Reuter-Straße stieg Rust aus der Straßenbahn. Es war nun fast dunkel. Unauffällig sah er sich um und blieb deshalb unter der Bahnunterführung stehen. Über ihm bremste eine S-Bahn mit schrillem Kreischen. Da ihm kein Verfolger auffiel, ging er in die Hechtstraße, in der, laut Akte, Dagmar Krügers Eltern wohnten.
Bei einer großen blechernen Mülltonne, die in einem offenen Hauseingang stand, hielt er an, öffnete den Deckel und warf die Akte hinein. Sie nützte ihm nichts mehr, und er wollte nicht, dass sie bei ihm gefunden wurde. Er fühlte sich zwar befreiter, trotzdem scheute er die Begegnung mit Dagmar Krügers Eltern. Langsam ging er weiter. Ein lachendes Kind auf dem Fahrrad kam ihm entgegen, verfolgt von weiteren Kindern zu Fuß. Ein Mann trat aus einem Hauseingang, er hatte lange Haare, wie eine Frau. Die Hauswände waren grau und mit Kreide bekritzelt. Unkraut wuchs aus den Gehwegritzen und am Bordstein. Vor einem Gemüseladen hatte sich eine lange Schlange gebildet. Rust ging an der Reihe geduldig wartender Leute vorbei, zögerte am Eingang, um durch die offene Tür zu sehen, was es denn gab.
»He, nicht vordrängeln!«, rief jemand.
»Die machen eh gleich zu. Ist kurz vor sechs«, murrte ein anderer.
Rust ging weiter, ohne erkannt zu haben, was im Laden angeboten worden war. Vermutlich aber waren es Bananen. Eine junge Frau mit einem großen Schäferhund kam ihm entgegen. Das Tier zerrte an der Leine und die Frau musste sich weit nach hinten lehnen, um den Hund zu zügeln. Aus dem nächsten Hauseingang rollte ein Gummiball. Eine Junge kam ihm nachgelaufen, blieb unsicher stehen, als er Rust erblickte, dem der Ball bis vor die Füße gerollt war. Rust schoss ihn mit dem Fuß zurück. Der Junge nahm den Ball auf und eilte ohne Dank ins Haus zurück.
Rust fiel auf, dass er hier in einer völlig anderen Welt war.
Weiter oben in der Hechtstraße wurde es ruhiger. Ein Blick auf die Hausnummern zeigte Rust, dass er sich verschätzt hatte. Die Hechtstraße war sehr lang, das Haus, in dem Schulzes wohnten, musste an der Hansastraße liegen. Er hätte mit dem Bus ganz anders fahren können, doch nun hatte er den halben Weg schon zu Fuß zurückgelegt.
Die Straßenbeleuchtung wurde immer schlechter, je näher er der Adresse kam. Die Gaslaternen spendeten kaum Licht. Doch noch war es nicht ganz dunkel, über dem Himmel lag ein grauer Schimmer. Der Häuserblock, in dem die Schulzes wohnten, war dreistöckig. Zu jedem Hauseingang gehörten je sechs Wohnungen. Rust hatte bisher noch kein verdächtiges Auto entdecken können, doch eigentlich war zu erwarten, dass die Eltern der Hebamme auch observiert wurden. Den Stasileuten würde auffallen, dass jemand klingelte. Rust hoffte, dass er in der Dunkelheit nicht erkannt wurde. Ob sie inzwischen wussten, dass er nicht mehr zu Hause war und dass sie eine leere Wohnung bewachten?
Im Hauseingang hatte Rust Mühe, die Klingelschilder zu lesen. Er nahm sein Feuerzeug zu Hilfe und fand den richtigen Namen. Bevor er klingelte, probierte er die Haustürklinke aus. Die Tür ließ sich öffnen. Jetzt klingelte er und lauschte in das dunkle Haus hinein. Irgendwo oben hörte er die Klingel schrillen, doch niemand reagierte, nichts geschah. Rust betrat das Haus und schloss die Haustür lautlos. Dann tastete er sich im Dunkeln voran. Er schlich sich das Treppenhaus hoch, las in der ersten Etage wieder mit Hilfe des Feuerzeuges die Namensschilder. Bei Schulze klopfte er und lauschte an der Tür. In der Wohnung war es still. Auch durch die Ritzen der Briefklappe war kein Licht zu erkennen. Stattdessen waren jetzt aus der Nachbarwohnung Geräusche zu hören. Rust gab auf und eilte die Treppe wieder hinunter.
Er kam sich vor wie ein Dilettant, als er wieder auf der Straße stand. Er wollte Kriminalpolizist, wenn nicht gar Agent sein und stellte sich an wie ein Anfänger. An der ersten verschlossenen Tür musste er bereits aufgeben und wusste nicht weiter. Stattdessen hatte er sich selbst in Gefahr gebracht. Lächerlich. Er rammte wütend die Hände in die Jackentaschen und ging Richtung Hansastraße und dem Friedhof, der sich hinter der Mauer auf der anderen Straßenseite befand.
Der Gehweg war unbefestigt und wurde immer schmaler, je weiter er ging. Der letzte Häuserblock endete, dahinter befand sich nur noch verwildertes Gelände. Ein Trabant schepperte an ihm vorbei, viel zu schnell auf dem feuchten Pflaster. Von der Hansastraße war beständiges Verkehrsrauschen zu hören.
Rust glaubte, Schritte hinter sich zu vernehmen, sah sich um. Tatsächlich schloss eine Person eilig zu ihm auf. Rust zog die Schultern hoch und wich nach links aus. Vielleicht hatte es der andere nur eilig. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl mit dem Unbekannten im Rücken. Er blieb stehen, um ihn passieren zu lassen, und nahm sich derweil eine Zigarette heraus.
Der Schlag traf ihn am Kopf, in dem Moment, als er sich umdrehen wollte. Rust taumelte rückwärts und stieß gegen einen Zaun, der brach und mit ihm ins Gebüsch kippte. Rust sah den nächsten Schlag kommen, schützte sich mit den Armen. Der Angreifer war kräftig und behände.
»Schweine! Verdammte Schweinehunde!«, keuchte dieser, während er weiter auf Rust einschlug. Zwar fing dieser die meisten Schläge ab, doch zum Gegenangriff war er noch nicht gekommen. Als der Gegner anfing, nach ihm zu treten, wich er zur Seite aus, kam auf die Füße, ging zwei, drei Schritte zurück, um dann gegen den Fremden anzurennen. Wie ein Ringer packte er ihn tief um die Hüfte, hob ihn aus und wollte ihn herumwerfen. Der andere aber drehte sich geschickt in der Luft, riss Rust mit sich, so dass beide auf die Straße stürzten.
Sofort warf sich der Angreifer wieder auf Rust, wälzte sich auf ihn und begann, mit beiden Fäusten wild auf Rusts Kopf einzuschlagen.
»Ihr Schweinehunde!«, zischte er und keuchte vor Anstrengung. Rust wusste sich nicht anders zu helfen, riss den Mann am Jackenaufschlag und zerrte ihn zu sich herunter. Dann packte er ihn mit einer Hand im Genick und presste ihm zwei Finger in die Rippen.
»Ich habe eine Pistole, ich schieße!«, drohte er und schmeckte Blut im Mund.
Der Angreifer hörte augenblicklich auf zu schlagen.
»Geh runter von mir!«, befahl Rust und schob den Mann mühsam zur Seite. Der verharrte kraftlos auf den Knien und Rust konnte aufstehen.
Er klopfte sich die Hosen ab, fühlte, wie nass er geworden war. Bestimmt war die Jacke völlig verdorben, so wie sie sich im Schlamm gewälzt hatten. Der andere kniete noch immer, mit einer Hand hielt er sich das Gesicht.
»Wer sind Sie?«, fragte Rust und blieb aber in sicherem Abstand. Ein Auto bog weit vorn in die Straße. »Wollen Sie nicht aufstehen?«
Das Auto näherte sich, dem Geräusch und der Form der Scheinwerfer nach war es ein Trabant. Schon hatte sein Scheinwerferlicht Rust und den Fremden erfasst. Das Auto bremste kurz ab, beschleunigte dann, lenkte dabei weit auf die andere Straßenseite und verschwand. Rust aber hatte im Licht gesehen, dass der andere weinte.
»Sind Sie Herr Krüger? Dagmar Krügers Mann?«, fragte Rust. Eigentlich war das eher unwahrscheinlich, doch anders konnte sich Rust es nicht erklären.
»Ihr wisst doch genau, wer ich bin!«, schniefte der andere.
Rust griff ihm unter die Achsel und half ihm, aufzustehen.
»Ich gehöre nicht zu denen«, sagte er.
»Du hast doch gesagt, dass du ’ne Knarre hast.«
»Ich bin Polizist, aber ich bin nicht von denen. Also, sind Sie Herr Krüger?«
»Ich bin Dagmars Bruder! Schulze. Waldemar.« Der Mann löste sich aus Rusts Griff und zog ein Taschentuch heraus, um sich zu schnäuzen. »Wenn Sie nicht von denen sind, was wollen Sie dann hier?«
»Können wir in Ruhe reden? An einem Ort, wo keiner zuhört?«, flüsterte Rust.
»Dir trau ich keinen Meter!«
»Ich weiß, dass Dagmars Mann beim Fluchtversuch verhaftet wurde und im Gefängnis sitzt. Vielleicht sogar auf der Bautzner.«
Der Mann schwieg. Rust konnte sein Gesicht nicht erkennen in der Finsternis.
»Ich weiß nichts darüber!«, sagte er leise, doch ihm war anzuhören, dass die Nachricht ihn getroffen hatte.
»Wissen Sie …« Rust zögerte. »Wissen Sie, dass Ihre Schwester tot ist?«
Schulze gab einen erstickten Laut von sich. Rust glaubte zu erkennen, dass er nickte.
»Glauben Sie, Dagmar hat sich deshalb umgebracht? Wegen ihres Mannes?«, fragte Rust.
»Niemals!«, schniefte der Mann. »Niemals würde sie sich umbringen.«
Rust trat jetzt näher an ihn heran. »Es ist etwas geschehen, und ich möchte das gern verstehen. Ich war heute Morgen in Dagmars Wohnung. Sie wollte sich eigentlich mit mir treffen, doch sie kam nicht. Ich weiß, etwas war im Ofen versteckt, aber es war verschwunden. Was war das?«
»Hör mal, denkste, ich bin dumm? Denkste, ich weiß nicht, dass du mich auch nur aushorchst?« Schulze stieß Rust beiseite und wollte gehen, doch Rust hielt ihn am Arm fest.
»Ich weiß, es ist schwer, mir zu trauen. Ich bin Polizist und ich stand auch mit der Stasi in Kontakt. Nur so konnte ich von Dagmar erfahren. Ich will gar nichts wissen über sie. Mich interessiert Doktor Raspe, Dagmars Chef.«
Rust war sich bewusst, wie weit er sich hier aus dem Fenster lehnte vor einem Fremden, von dem er nicht einmal wusste, ob es wirklich Dagmars Bruder war. Er hatte es mit einem Geheimdienst zu tun, und genauso arbeiteten Geheimdienste, mit Tricks, Lügen und Fälschungen.
Doch er spürte, dass der Name Raspe bei dem Mann etwas ausgelöst hatte.
»Vor einigen Tagen starb ein Kind bei der Geburt. Es war das Enkelkind von Raspe. Er selbst war dabei, doch irgendwas stimmt nicht an der Geschichte.«
Der Mann zögerte noch und schwieg. »Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?«, fragte er plötzlich.
»Meinetwegen.« Rust langte in seine Jacke und holte aus dem Portemonnaie seinen Personalausweis und die Dienstmarke heraus, um sie Schulze zu zeigen. Der betrachtete beides kurz im Schein eines Feuerzeugs, sah dann prüfend nach rechts und links.
»Ich weiß, wo wir hingehen können, aber wir müssen ein Stück laufen.«
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Rust hatte nicht gefragt, wohin Schulze gehen wollte. Sie waren Richtung Hansastraße gegangen, vorher aber links in einen schmalen Weg abgebogen, der parallel zu der großen Hauptstraße verlief und zu einer Kleingartenanlage führte. Dahinter musste sich das Stadion der Bauarbeiter mit seiner Radrennbahn befinden, wenn sich Rust richtig erinnerte. Am Tor der Kleingartensparte sah Schulze sich noch einmal um und kletterte dann darüber. Rust folgte ihm. Sie liefen weiter, kletterten wieder über ein Tor, in einen der Gärten hinein. Es war stockdunkel und sie mussten sich vorsichtig den schmalen gepflasterten Weg zu der Gartenlaube vortasten. Dort suchte Schulze den Boden ab und fand unter einem großen Blumentopf den Schlüssel.
»Wegen der Russen«, erklärte Schulze ungefragt. »Die kommen und brechen in die Lauben ein. Wenn sie den Schlüssel leicht finden, machen sie wenigstens die Schlösser nicht kaputt.« Er schloss die Tür auf, winkte Rust hinein und schloss hinter sich wieder zu.
»Arme Schweine, die Soldaten, die klauen nur Essen und Steppdecken. Radios und anderes Zeug lassen sie stehen.«
Rust wusste davon. Manchmal folgten sie mit Hunden der Spur der Einbrecher, und immer endete die Suche vor den Kasernentoren der Sowjetarmee.
Es war kalt und dunkel in der Laube und roch muffig, nach feuchtem Holz, alten Polstern, Teerpappe und verbranntem Laub.
»Die Laube gehört einem Freund von mir. Wir können kein Licht machen, aber ich habe eine Elektroheizung.«
»Das geht schon so.« Rust tastete nach einem Stuhl und setzte sich. Die Sitzfläche war unangenehm kalt. Auch Schulze setzte sich.
»Seit einem Jahr geht das so«, begann Schulze.
»Alle möglichen Dinge wurden Dagmar in die Schuhe geschoben. Immer wenn etwas schiefging, hatte sie Schuld. Dumme Gerüchte wurden gestreut. Sie würde klauen auf Arbeit, sie wäre nicht geeignet für ihren Beruf. Das kam alles von außen.«
»Wie meinen Sie das?«
»So arbeiten die, wenn sich einer unbeliebt gemacht hat und sie ihn nicht wegen irgendwas drankriegen können. Die Stasi. Die diffamieren und lügen. Damit wollen sie einen vom Kollektiv ausgrenzen. Dagmar und Norbert hatten sie schon lange auf dem Kieker gehabt. Aber dass der Norbert versucht hat, abzuhauen, hätte ich nicht gedacht. Die hatten doch schon einen Antrag auf Ausreise gestellt. Warum sollten sie auch länger hierbleiben? Er durfte nicht studieren, eine Wohnung bekamen sie auch nicht. Es wundert mich nicht, dass die Stasi das ausgenutzt haben soll, dass der Dagmar ein Kind bei einer Geburt gestorben ist.«
»Was ist mit Doktor Raspe?«, fragte Rust direkt.
»Sie hat mal erzählt, dass der häufiger in den Westen darf. Und dass er ein großes Grundstück bekommen hat. Der ist ja ein Experte für irgendwas. Dem müssen sie schon was bieten, damit er hierbleibt, in der DDR
. Einmal durfte Dagmar mal mit ihm auf Dienstreise. Also, sie war delegiert. Seitdem hängt ihr die Stasi an der Hacke.«
»Sie durfte mit?«
»Ja, nach Hamburg. Anscheinend hat sie dort irgendwas mitbekommen. Etwas, das sie wohl nicht sehen sollte. Ich weiß nicht, was das war. Aber eines ist sicher: Da läuft was auf höherer Ebene. Die Regierung, die macht doch Geschäfte mit denen da drüben.«
»Warum sollte sie das tun?« Mit dem propagierten Klassenfeind? Trotz aller Zweifel, fragte sich Rust, was das für einen Sinn machen würde.
»Mach doch die Augen auf!« In seiner Empörung war Schulze wieder ins Du gewechselt. »Ohne den Westen und ohne die Sowjets könnte dieses Land doch gar nicht existieren. Und denen da drüben ist das doch nur recht. Sie machen Geschäfte und sichern den Bonzen hier die Existenz. So ist das. Das soll bloß keiner mitbekommen. Und genau deshalb haben sie Dagmar jetzt aus dem Weg geräumt.«
Es war zu dunkel im Raum, als dass Rust das Gesicht des Mannes genau erkennen konnte. Er versuchte sich an Voigt zu erinnern, dessen mitleidslose Miene, die kalten Worte. Aber hatte Voigt den Eindruck gemacht, dass er sich verantwortlich fühlte für den Tod der Frau? Nein, entschied Rust.
»Das glaube ich nicht.«
»Ach, nein?«, fuhr Schulze auf, und Rust wich instinktiv ein wenig zurück. »Denkste, sie erfährt, dass ihr Mann beim Fluchtversuch verhaftet wird und bringt sich als Nächstes um? Warum sollte sie das tun? Sie ist meine Schwester, ich weiß, sie macht das nicht! Frag dich lieber, wem das denn dienen soll!«
Rust wiegte nachdenklich den Kopf im Dunkeln. Nicht nur einmal hatte er es mit Selbstmördern zu tun gehabt, und immer sagten die Verwandten, dass sie niemals damit gerechnet hätten. Zwar waren Rust selbst ja auch Zweifel gekommen, dass Frau Krüger sich umgebracht hat, doch die Vorstellung, dass Voigt den Befehl gegeben haben soll, Frau Krüger umzubringen, erschien ihm dann doch zu ungeheuerlich.
»Die Stasi hat doch ihre Methoden, Gegner aus dem Verkehr zu ziehen. Dafür gibt es Gerichte und Gefängnisse.«
»Gegner! Wie du redest!« Schulze zischte zynisch. »Wo lebst du denn? Gegner! Die wollten nur eine Wohnung und leben, wie sie leben wollten. Aber Leute wie du sehen überall Feinde, Spione und Faschisten, das ist doch vollkommen bescheuert. Das sind normale Menschen. Die wollen arbeiten und was kriegen dafür. Die Verrückten sind doch die Regierung und die Stasi. Die haben dich so eingelullt, dass du das nicht kapierst.« Schulze war nicht mehr zu stoppen. »Denkst du wirklich, die da drüben werden alle nur ausgebeutet? Wieso fahren die denn alle Autos und machen Urlaub in Italien oder Spanien? Ich frage dich: Wieso können wir nirgendwo hinfahren? Dagmar war doch drüben. Klar, da sieht man auch mal Obdachlose, aber den allermeisten geht’s gut und Assis haben wir hier auch! Mag sein, dass da drüben das Geld regiert und ein paar Leute arbeitslos sind, aber hier bestimmen andere, was aus dir wird. Und wenn du nicht spurst, dann wirst du eingeschüchtert. Erst die Arbeit, dann die Freunde, dann die Familie, bis du allein dastehst. Und wenn das alles nichts geholfen hat, dann gehst du in den Bau oder sie machen dich kalt. So läuft das! Mach die Augen auf, Mensch!« Schulze hieb die Faust auf den Tisch, und Rust spürte, wie seine Wut den ganzen Raum ausfüllte, dass der Mann in diesem Moment zu allem bereit schien.
»Hat sich der Raspe denn daran beteiligt, Dagmar auszugrenzen?«, fragte er nach längerem Schweigen.
»Einmal hab ich Dagmar nach Radebeul gefahren«, begann Schulze unvermittelt zu erzählen. »Vor ein paar Wochen war das. Die musste da was mit dem Raspe klären. Das hat ewig gedauert. Als sie wiederkam, wollte sie nichts erzählen. Das machte sie sonst eigentlich schon. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis. Aber an diesem Tag war sie anders, so schweigsam. Und ich weiß, sie hatte etwas in der Manteltasche. Das hat sie versucht, vor mir zu verbergen. Ich hab getan, als hätte ich es nicht bemerkt.«
»Könnte es sein, dass es ein Bündel Geldscheine gewesen war? Westgeld!«
Schulze schwieg und überlegte. »Vielleicht war sie in irgendwas verwickelt. Vielleicht wurde sie bestochen? Oder erpresst. Das ist ja beinahe dasselbe«, mutmaßte er. »Dieser Besuch dort war mir eh nicht geheuer. Mir war es zu langweilig im Auto, deshalb bin ich ausgestiegen und ein bisschen spazieren gegangen. Um das Grundstück herum. Als ich an der Einfahrt vorbeikam, standen da ein Auto und zwei Kerle. Die sahen wie Leibwächter aus und hatten garantiert Wummen unter der Jacke.«
»Pistolen?«
»Ja, die haben gewartet. Ich bin schnurstracks vorbei und hab mich wieder ins Auto gesetzt.«
»Und das Auto? War das ein Moskwitsch? Mit Berliner Kennzeichen?«
Schulze hob den Kopf. »Woher weißt du das?«
Rust zögerte kurz, doch sie hatten schon so viel gesagt, es kam nun darauf nicht mehr an. Deshalb begann er zu erzählen.
»Kennst du die Adresse von dem Fahrzeughalter?«, fragte Schulze leise, nachdem Rust mit seiner Geschichte zu Ende war. Aber Rust schwieg dazu. Er hatte die Nummer des Autos überprüfen lassen und den Halter ermittelt. Den Zettel trug er seitdem mit sich herum.
»Du weißt es! Hab ich recht?«, schlussfolgerte Schulze aus dem Schweigen. »Und dir hängt die Stasi jetzt auch an? Dem Raspe waren sie ja auch auf die Pelle gerückt. Das weiß ich von Dagmar. Und ich glaube, vor dem Haus vom Raspe stand damals auch ein Wartburg mit Insassen. Aber wer waren denn dann die Kerle mit dem Moskwitsch?«
Rust zuckte mit den Schultern.
Schulze dachte weiter laut nach. »Vielleicht macht der Raspe Geschäfte mit dem Westen? Entweder aus eigenem Antrieb oder auf Befehl von oben. Vielleicht hat Dagmar Schweigegeld bekommen? Ich habe da mal was von medizinischen Versuchen läuten hören.«
»Was für medizinische Versuche?«, fragte Rust leise.
»An Menschen. Die testen hier Medikamente für Westfirmen.«
Rust stöhnte auf. Das kam ihm alles viel zu abwegig vor. Wer setzte eigentlich immer solche Gerüchte in die Welt? Weshalb sollte man das eigene Volk für den Klassenfeind solcher Experimente unterziehen?
Schulze hatte da seine eigene Meinung. »Den Schweinen traue ich alles zu. Buchstäblich! Auch das mit dem Kind! Ich kenne welche, die sitzen im Bau, denen hat man die Kinder weggenommen und anderen Leuten gegeben. Verstehste? Zwangsadoption. Die sind weg! Und wenn der Raspe sowieso nicht scharf auf das Kind war, wieso soll er es nicht seiner Tochter weggenommen haben?«
Rust sagte nichts dazu. Es arbeitete in ihm. Er war in einer Stadt aufgewachsen, die wegen der Faschisten und Imperialisten noch fast dreißig Jahre nach dem Krieg halb in Trümmern lag. Eine neue Gesellschaftsform sollte daraus erwachsen, ein Staat für die Arbeiter und Bauern, die bisher immer nur die Unterdrückten waren. Klar, dass nicht alle davon profitierten, die Großgrundbesitzer, die Bourgeoisie, die Gestrigen, die Industriellen, die Bürgerlichen. Rust wusste, dass vieles nur Fassade war. Doch musste dieser Staat schon solche Methoden anwenden, um das eigene Volk zu unterdrücken? Wenn er jetzt alles aufgab, woran er noch vor ein paar Tagen geglaubt hatte und wofür er bereit war zu kämpfen, wirklich bereit war, was würde das für ihn bedeuten? Sollte er werden wie sie? Die immer ankämpfen mussten gegen den Druck, die sich nie sicher sein konnten, wem sie vertrauen durften?
»Pass auf«, sagte Schulze. »Du nimmst meine Karre. Ist ’ne ES
250, schon über zwölf Jahre alt, aber funktioniert einwandfrei. Du fährst nach Berlin, nur, um mal zu sehen, was los ist. Was sind das für Leute? Warum sind sie in Dresden gewesen, im Krankenhaus? Waren das Ärzte?
Rust sah auf. Er hatte auch schon darüber nachgedacht, dorthin zu fahren. Aber Schulze wusste nicht alles über die Leute in Berlin, denen das Auto gehörte.
»Die Karre ist außerdem gar nicht meine, läuft auf ’nen Kumpel. Aber der ist bei der Fahne, der braucht sie jetzt nicht. Du bist mir das schuldig. Ernsthaft. Guck, was da läuft.«
»Und dann?«
Schulze antwortete nach kurzem Zögern. »Ich kenne einen Weg, Informationen in den Westen zu bringen. Gegen die Presse dort drüben können sie hier nichts ausrichten. Da steht es dann schwarz auf weiß geschrieben und jeder sieht, was das für Schweine sind.«
Rust atmete tief durch. So etwas in der Art hatte er befürchtet. Das war was ganz anderes, als einem Verbrechen nachzugehen. Das war Verrat. Spionage. Sabotage. Fahnenflucht. Dann wäre er ein Überläufer. Ein Agent für den Feind. Das wollte er nicht sein. Er wollte der DDR
dienen, er hatte einen Eid geschworen. Aber er wollte wissen, was es mit dem Kind auf sich hatte, warum die Hebamme plötzlich tot war und warum die Stasi den Doktor im Visier hatte. Das war er Dagmar Krüger schuldig, denn für ihren Tod fühlte er sich mitverantwortlich.
»Also gut, ich fahre dorthin und sehe mir das an. Mehr aber nicht. Vielleicht spreche ich dann mit meinem Chef darüber.«
Diese Aussage befriedigte Schulze nicht, das spürte er an dessen zurückhaltender Reaktion.
»Was erhoffst du dir denn?«, fragte Rust deshalb nach. »Wieso vertraust du mir so plötzlich?«
»Ich erhoffe mir gar nichts, im Gegenteil. Und ich habe ganz und gar kein Vertrauen zu dir. Wahrscheinlich bist du ja einer von denen. Aber ich mache mir nichts vor. Ich komme hier nicht weg. Wenn ich zur Polizei gehe und behaupte, es war Mord, lachen die mich nur aus. Irgendwann werden sie dem Norbert sagen, was mit Dagmar geschehen ist, und dann wird er einknicken und denen erzählen, was sie hören wollen. Und dann werden sie mich holen. So wird das sein. Also, machst du das?«
»Es macht sie aber nicht wieder lebendig.«
»Mensch, natürlich nicht, ich bin doch nicht blöd«, ereiferte sich Schulze. »Aber soll ich stattdessen hier sitzen und nichts tun?«
Rust holte tief Luft. »Ich muss vorher noch mal heim. Ich brauche Kleidung und Geld. Und ich muss meiner Frau Bescheid sagen.«
»Nee, nee, so geht das nicht, du hast doch selbst gesagt, die beobachten dich. Wenn du erst heimgehst, sind sie wieder an dir dran. Ich habe einen Helm. Du kannst doch Motorrad fahren als Bulle, oder?«
Rust nickte. Schulze beugte sich vor und packte ihn fest an der Schulter. »Mach das für Dagmar. Bei dir ist noch nicht alles verloren.«
Rust nickte, doch es gefiel ihm nicht, wie der Mann mit ihm sprach, als ob er sich sicher glaubte, auf der richtigen Seite zu sein. Er wollte sich selbst ein Bild machen.
»Ich habe gesagt, ich fahre, aber ich mache es auf meine Weise. Ich gehe jetzt nach Hause und schlafe mich aus. Morgen fahre ich mit meinem Auto. Und ich sage meiner Frau Bescheid. Schließlich habe ich nichts zu verbergen.«
Sie hatten nicht vor seinem Wohnblock gestanden, weder am Abend, als er heimgekommen war, noch am Morgen, als er losfuhr. Rust war erleichtert. Er schraubte den Tankdeckel zu, klappte die Motorhaube herunter und ließ sie einrasten. Dann ging er in die Tankstelle, um zu bezahlen.
Eigentlich bereute er es bereits, versprochen zu haben, nach Berlin zu fahren. Aber er hatte es sich nun mal vorgenommen und er würde es tun, wenn auch nur in der Hoffnung, dass sich alles als ein dummer Spuk entpuppte. Übermorgen würde er wieder seinen Dienst antreten. Und in einem Monat würde Heike hoffentlich ein gesundes Kind kriegen. Dann würden sie Eltern sein. Man konnte sich nicht mit jedem Elend dieser Welt auseinandersetzen. Das hatte ihm Seidel schon geraten, als er vor einem Jahr dessen Abteilung zugeteilt worden war. Und dass es Dinge gab, in die man sich einfach nicht einmischen sollte.
Es konnte doch durchaus sein, dass sich Dagmar Krüger umgebracht hatte. Aus Schulzes Reaktion konnte man schließen, dass sie von dem Fluchtversuch gewusst hatte, er jedenfalls schien es gewusst zu haben. Vielleicht hatte ihr Mann das Westgeld selbst mitgenommen?
Rust schob sich im Autositz zurecht. Es herrschte viel Verkehr auf der Autobahn, und er hatte sich nur mit Mühe einfädeln können. Jetzt beschleunigte er auf Achtzig, viel mehr war bei diesen Witterungsverhältnissen nicht aus dem Auto herauszuholen. Eine Weile lauschte Rust besorgt dem hellen Geknatter des Motors, der in letzter Zeit immer wieder Probleme gemacht hatte. Doch das befürchtete Stottern blieb aus und die Maschine lief einwandfrei.
Nun hatte er drei Stunden Zeit, sich zu überlegen, wie er vorgehen sollte. Bis auf diese eine Adresse in Berlin hatte er nichts. Er konnte also nur dorthin fahren, sehen, um was für Leute es sich handelte, und beobachten, was sie taten.
Die Räder des Wagens rumpelten über die Platten der Autobahn, ein W50 vor ihm stieß beständig eine schwarzgraue Dieselabgaswolke aus, warf Gischt auf, die sich als grauer Film auf die Frontscheibe legte. Rust schaltete die Scheibenwischer ein, ließ das Gaspedal los und vergrößerte so den Abstand wieder ein wenig. Der Laster schien ohne Ladung zu fahren. Es war unmöglich, ihn auf gerader Strecke zu überholen. Deshalb fuhr er weiter hinter ihm her und folgte ihm auch auf die Überholspur, um an einem Wartburg mit Anhänger vorbeizuziehen.
Fast erschrak er, als er im Rückspiegel plötzlich ein weiteres Auto entdeckte. Er scherte rasch wieder nach rechts ein, der Wartburg hinter ihm beschleunigte nur kurz und hielt dann aber die Geschwindigkeit neben ihm. Rust sah vorsichtig hinüber, konnte aber kaum etwas erkennen. Er sah zwei Leute im Wagen sitzen. Der Beifahrer gab ein Zeichen.
Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es Rust. Wie naiv war er eigentlich? Hatte er wirklich gedacht, sie ließen sich so leicht abschütteln? Anscheinend hatte er nicht schnell genug reagiert, deshalb näherte sich der Wartburg plötzlich seitlich und drängte ihn über den Seitenstreifen. Schon ratterten die Räder über den Dreck. Rust bremste ab und sah im Rückspiegel, dass ein zweites Fahrzeug hinter ihm so dicht aufgefahren war, dass die Lichter schon nicht mehr zu sehen waren. Der erste Wartburg setzte sich jetzt vor ihn, und der Beifahrer gab ihm ein Zeichen, er sollte folgen.
Der Wartburg fuhr noch einige hundert Meter in immer langsamer werdendem Tempo und hielt dann an einer Stelle, wo der Seitenstreifen etwas breiter und das Gelände daneben, bis auf eine niedrige Böschung, flach und dünn bewaldet war. Die Beifahrertür öffnete sich und eine Person stieg aus, die Rust sofort als seinen Führungsoffizier vom MfS erkannte. Voigt trug seinen langen Mantel, stand jetzt bewegungslos neben dem Auto und starrte Rust auffordernd an. Rust stellte den Motor ab und stieg aus.
Als Rust sich dem Offizier näherte, wandte sich dieser ab und kletterte über die Böschung in das angrenzende Wäldchen. Der Verkehr rauschte vorbei, es roch nach Treibstoff, Ozon und moderndem Laub. Rust folgte dem Mann und sah sich noch einmal um. Die anderen Männer waren auch alle aus ihren Fahrzeugen gestiegen.
Schweigend stapften Voigt und Rust über den sandigen Waldboden. Tief im Wald, die Autobahn war schon nicht mehr zu sehen, blieb Voigt unvermittelt stehen. Seine Hände steckten in den Manteltaschen. Irritiert sah sich Rust noch einmal um und entdeckte die anderen Männer, die in einigem Abstand hinter ihnen blieben.
»Was haben Sie vor, Rust?«, fragte Voigt und sah ihn grimmig an.
»Ich fahre nach Berlin«, antwortete Rust wahrheitsgemäß.
Voigt kam einen Schritt näher heran und zog seine rechte Hand aus der Manteltasche. Er hielt eine Pistole darin.
»Was soll ich von Ihnen halten, Rust? Verraten Sie es mir!«
Rust dachte eine Sekunde nach. Mit Ausflüchten und Ausreden würde er bei so jemandem wie Voigt nicht weiterkommen. »Ich ermittle weiterhin im Fall Krüger«, erwiderte er.
Voigt kam jetzt noch näher an ihn heran. So nah, dass Rust schon seinen Atem spürte.
»In wessen Auftrag?«
»In meinem eigenen Auftrag, sozusagen. Mich lässt einfach nicht los, dass die Frau sich umgebracht haben soll.« Rust sah dem Mann in die Augen. Nun galt es zu beweisen, aus welchem Holz er wirklich geschnitzt war. Sich selbst zu beweisen. Der Schwur, sein Leben einzusetzen, galt erst wirklich in dem Moment, da er eingefordert wurde.
Voigt trat noch dichter an ihn heran. »Wollen Sie damit sagen, die Frau wurde umgebracht? Von wem? Von uns?«
Rust wich nicht zurück. »Ich habe nur Zweifel, die ich beseitigen möchte«, sagte er leise und hoffte, dass man nicht das Beben in seiner Stimme hörte.
»Denken Sie, Ihr gestriges Treffen mit einem Staatsverräter blieb uns verborgen? Was hat er Ihnen erzählt? Hat er vielleicht sogar das Geld von seiner Schwester gestohlen? Wissen Sie, was er ist? Ein asoziales Element, arbeitsscheu, faul, schiebt seine Religion vor, um den Dienst an der Waffe zu verweigern. Einer wie der ist unserer Gesellschaft nicht würdig. Haben Sie sich überzeugen lassen von ihm? Sind Sie so leicht beeinflussbar und wankelmütig! Wie schwach sind Sie eigentlich?«
»Ich bin nicht schwach!« Rust blickte dem Führungsoffizier fest in die Augen und staunte fast über sich selbst und seine forsche Reaktion. Aber Voigt hatte nichts von seinem Eindringen in die Personalabteilung des Krankenhauses erwähnt. Sie wussten also doch nicht alles.
»Nein? Beweisen Sie das, erklären Sie mir, was Sie vorhaben! Und bitte schlüssig. Wissen Sie, was das ist?« Voigt drückte ihm die Pistole gegen die Nieren. Rust ahnte, dass das keine rhetorische Frage war, dass er eine Waffe hatte, war ja eindeutig.
»Meine Dienstwaffe?«, vermutete Rust.
»Wir haben uns dem Sozialismus verschrieben, all die Opfer, die gebracht wurden von unseren Brüdern und Genossen, die sollen nicht umsonst gewesen sein. Verstehen Sie das, Rust?«
»Ich verstehe!« Das war eine Drohung. Sie konnten ihn umbringen und würden es wie einen Selbstmord aussehen lassen. Ein Überläufer, ein Verräter, der mit seinem Gewissen nicht mehr auskam. »Ich weiß, dass Raspe vom MfS beobachtet wird, ich habe von Schulze erfahren, dass Frau Krüger etwas über Raspe gewusst haben muss. Raspe scheint etwas zu verbergen, das mit seinen Reisen in die BRD
zu tun hat, deshalb wird er doch von Ihnen überwacht, oder? Ich musste schnell handeln gestern und konnte Sie nicht informieren. Ich habe eine Adresse von dem Halter eines Fahrzeugs, das zweimal aufgetaucht ist. Ein Moskwitsch mit Berliner Kennzeichen. Es war in der Nacht im Krankenhaus, als Raspe sein Enkelkind verlor, und es stand, laut Schulzes Aussage, einige Zeit davor bei Raspe auf dem Grundstück.«
»Zeigen Sie!«, befahl Voigt und streckte eine Hand aus.
»Was?«
»Die Adresse! Oder haben Sie die nur im Kopf?«
Rust holte seine Brieftasche heraus und gab Voigt den Zettel mit der Adresse. Der las ihn, schnippte mit dem Finger einen seiner Männer heran und zeigte ihm den Zettel. Daraufhin sah dieser Voigt fragend an, verzog unmerklich das Gesicht und nickte.
Voigt überlegte und gab dann Rust den Zettel zurück, indem er ihn mit einer Mischung aus Wut und Unwillen fest an die Brust drückte.
»Weshalb wir gegen Raspe ermitteln, geht Sie nichts an. Aber fahren Sie nach Berlin. Finden Sie heraus, ob und wie Raspe mit diesen Leuten in Verbindung steht. Aber ich will Berichte. Jedes Detail, lassen Sie nichts aus. Verstanden?«
Rust nickte und nahm den Zettel zurück. Voigt packte ihn am Handgelenk. »Ich will mich in Ihnen nicht getäuscht haben, Rust. Der Feind ist überall. Für ihn sind solche Geschichten überlebenswichtig, sie schaden uns mehr als alles andere. Und Vorsicht, Rust! Wir sind immer da. Denken Sie daran. Keine Sperenzien! Sobald noch mal ein Verdacht auf Sie fällt, kenne ich keine Gnade mehr. Betrachten Sie das als eine Art Prüfung!«
»Zu Befehl!« Rust hob die Hand zum militärischen Gruß, doch Voigt war noch nicht fertig.
»Noch was. Sie handeln auf eigene Gefahr. Wenn Sie jemand fragt: Wir kennen uns nicht. Wir haben uns noch nie gesehen. Ich habe Ihren Namen noch nie gehört! Wenn Ihnen etwas geschieht, sind Sie auf sich gestellt!«
Voigt ließ Rust stehen und winkte seinen Männern, ihm zu folgen.
Rust wartete, bis die Männer gegangen waren. Dann hob er beide Hände und betrachtete seine zitternden Finger. Er hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet, doch das hier eben hatte alles noch mal übertroffen. Voigt war zu allem fähig. Rust konnte ihn sogar verstehen. Immerhin war er bisher so etwas wie ein Schützling des Stasioffiziers gewesen, und nichts war schlimmer, als der Verrat aus den eigenen Reihen. Er durfte sich von nun an keine Fehler mehr leisten.
Er zündete sich eine Zigarette an und ging langsam zu seinem Auto zurück. Noch immer zitterten ihm die Finger. Sie zitterten auch noch, als er die Stadtgrenze Berlins erreichte.