27
Dresden, September 2018
»Tschüüüüß!« Ricarda winkte vom Balkon im ersten Stock dem abfahrenden Toyota hinterher. Ines’ Hand streckte sich noch mal zu einem letzten Winken aus dem Fahrerfenster. Die beiden Enkelkinder warfen ihr von der Rückbank Kusshände zu.
Ricarda sah sich um und seufzte. Es war immer so ruhig, wenn die Jungen nach ein paar Tagen bei ihr wieder abgeholt wurden. Sie tröstete sich damit, dass sie Ines und die Kinder das nächste Wochenende zur Geburtstagsfeier von ihrem Mann schon wiedersehen würde. Und jetzt musste sie erst mal aufräumen. Nach drei Tagen mit Tobias und Benny sah es hier aus wie ein Saustall. Zumindest nach ihren Maßstäben.
Und danach würde sie Yvonne anrufen. Vielleicht hatte sie Lust auf einen kurzen Radausflug zur Elbe. Es war noch immer wie im Hochsommer. Yvonne würde morgen wieder arbeiten müssen, aber sie mussten ja nicht zu lang unterwegs sein. Ricarda ging mit kaum merklichem Humpeln durch das Wohnzimmer. Das Humpeln und ein Schmerz in der Hüfte nach langem Gehen waren ihr von dem Unfall geblieben. Deshalb fuhr sie lieber Rad. Auch weil sie seitdem sowieso jede unnötige Autofahrt vermied. Als Fahrerin wie auch als Beifahrerin.
Wenn Ricarda über ihr Leben nachdachte, dann konnte sie nicht wirklich sagen, dass dies hier ein richtiger Neuanfang war. Es war vielmehr das Ende eines Lebensabschnittes, der sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren ganz gut entwickelt hatte. Davon zeugten unter anderem auch die vielen Karten und nunmehr verwelkten Blumensträuße, die sie von den Kollegen bekommen hatte. Dass ausgerechnet Stelzel, der ihr anfangs so viele Steine in den Weg gelegt hatte, beim Abschied Tränen in den Augen hatte, rührte sie noch immer. Sie hatten die letzten fünfzehn Jahre gemeinsam die Personalabteilung der Dresdner Filiale geleitet. Und Ricarda hatte den Eindruck, dass sie für ihn über die Jahre hinweg zu einer Art Mutterersatz geworden war. Sie lächelte. So änderten sich die Dinge manchmal.
Ricarda drehte die Musik ein wenig lauter. Das konnte sie sich in diesem Haus erlauben, ganz im Gegensatz zu der Plattenbauwohnung, wo sie vorher gelebt hatte. Seit drei Jahren wohnte sie nun in einer hübschen kleinen Wohnung in ihrem alten Stadtviertel Pieschen.
Ricarda machte sich ans Aufräumen, entsorgte die welken Blumensträuße und sammelte die Glückwunschkarten ein. Eigentlich müsste sie staubsaugen, dachte sie sich, aber die Versuchung, den Nachmittag ruhig angehen zu lassen und sich einfach auf den Balkon zu setzen und die Beine hochzulegen, war doch zu groß. Sie genoss zwar die Enkelbesuche, aber die beiden lebhaften Jungen kosteten sie viel Kraft. Sie holte sich aus der Küche ein Glas Limonade und ging hinaus auf den Balkon.
Kaum hatte sie es sich bequem gemacht, klingelte es an der Tür. Vorsichtig lugte sie über die Balkonbrüstung. Eine ihr unbekannte Frau stand unten vor der Eingangstür. Wer sollte schon an einem Sonntag etwas von ihr wollen? Ricarda beschloss, nicht zu Hause zu sein, und lehnte sich in ihrem Balkonstuhl wieder zurück.
Es klingelte erneut, und da ihre Balkontür offenstand, musste das Klingeln auch für die Frau unten auf der Straße deutlich zu hören sein. Außerdem war der aufgespannte Sonnenschirm zu sehen. Ricarda traute sich nicht, noch einmal nach unten zu sehen. Sie hatte keine Lust auf unerwarteten Besuch. Als es noch einmal klingelte, gab sie auf.
»Muss das sein?«, flüsterte sie, stand seufzend auf und ging zur Wohnungstür.
»Ja?«, fragte sie in die Sprechanlage.
»Entschuldigen Sie. Sind Sie Frau Raspe? Ricarda Raspe, ehemals Weber?«
»Wer fragt denn das?«
»Also, Sie kennen mich nicht. Ich würde gern …«
»Hören Sie, ich will nichts. Auf Wiedersehen!«, unterbrach Ricarda und legte auf. Was auch immer die Frau wollte, es konnte nichts Dringliches sein. Alles war gut, wie es jetzt war. Als es gleich wieder klingelte, stellte sie die Klingel einfach ab. Sie setzte sich auf die Couch im Wohnzimmer und atmete genervt aus. Mit einem Mal war die ganze schöne Stimmung weg. Jetzt musste sie hier herumsitzen und warten, bis die Fremde sich verdrückt hatte. Das Anliegen der Frau interessierte sie nicht. Und doch wusste Ricarda, dass sie sich ewig fragen würde, was sie gewollt hat, wenn sie ihr jetzt nicht aufmachen würde.
»Frau Raspe, bitte, ich will Sie nur kurz sprechen«, rief die Frau nun von der Straße herauf.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte Ricarda laut, verblüfft und verärgert zugleich. Sie stand wieder auf und ging auf den Balkon.
»Lassen Sie mich in Ruhe! Ich will nichts wissen!«, rief sie gedämpft nach unten, denn auch auf den anderen Balkonen nebenan und gegenüber saßen Leute. Schon hoben sich neugierig die ersten Köpfe.
»Schauen Sie! Bitte!«
Die Frau vor ihrer Haustür war in etwa so alt wie Ines, Anfang vierzig. Ihr Haar war kurz geschnitten und so schwarz, dass es gefärbt sein musste. Sie trug ein schlichtes Sommerkleid und Turnschuhe. Über die Schulter hatte sie eine Collegetasche gehängt. Mit beiden Händen hielt sie ein bedrucktes Blatt Papier hoch. Ricarda konnte auf die Entfernung zwar nicht erkennen, was auf dem Papier stand, trotzdem wusste sie augenblicklich, um was es sich dabei handelte.
Es war das Titelbild der Bild-Zeitung. Ihr Titelbild, von damals.
»Sind Sie das?«, rief die junge Frau nach oben.
Ricarda schüttelte energisch den Kopf. »Das war ein Fehler damals. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Es ist ewig her und längst vergessen! Ich habe Jahre gebraucht, um alles zu verarbeiten. Es hat fast mein Leben zerstört. Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich in Ruhe.« Ricarda stieß sich von der Brüstung ab und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie wollte die Tür schließen, doch die Gardine hing davor, die musste sie erst beiseitenehmen.
»Mein Name ist Behling«, rief die Frau wieder von unten hoch. »Claudia Behling. Ich bin durch Zufall auf Sie gestoßen. Es könnte sein, dass ich Ihre Tochter bin.«
Ricarda hatte die Gardine zur Seite geschoben und die Tür schon fast geschlossen. Für ein paar Augenblicke lehnte sie ihre Stirn an den hölzernen Rahmen und schloss die Augen.
Alles war gut, wie es war. Das Kind war begraben. Sie hatte zwei Enkel. Sie verstand sich mit Ines, und mit Steffen verband sie eine Freundschaft, deren Mehrwert sich aus ihrer vergangenen Liebe speiste. Sie hatte Freundinnen, und Yvonne hatte ihr vor vielen Jahren schon verziehen. Mit Conny, die wieder in Magdeburg lebte, traf sie sich regelmäßig. Sogar mit ihren fast greisen Eltern pflegte sie ein zwar distanziertes, doch freundliches Verhältnis. Sie hatte ausreichend Geld und so wenig Sorgen, dass es ihr beinahe langweilig war. Doch das wusste man zu schätzen, wenn man erst genug Sorgen gehabt hatte. Es gab keinen Grund, daran zu rütteln. Keinen Grund, daran etwas zu ändern. Wenn da nicht in der Stimme der Frau diese leise Verzweiflung gewesen wäre, die ihr allzu bekannt vorkam.
Ricarda öffnete die Augen wieder und ging auf den Balkon. Sie blickte kurz über die Brüstung.
»Also gut, kommen Sie hoch!«
»Und dann sind Sie in den Westen gegangen? Ganz allein?«, fragte Ricarda noch mal nach, nachdem sie sich ausführlich Claudias Geschichte angehört hatte, die Kindheit bei den strengen Eltern, den gescheiterten Fluchtversuch über Ungarn, die plötzliche Erkenntnis, dass sie ein adoptiertes Kind war. Die Geschichte klang echt. Claudia Behling wirkte nicht wie eine Lügnerin, doch Ricarda wollte vorsichtig sein. Schon einmal war ihr Vertrauen missbraucht worden. Sie hatte der fremden Frau im Wohnzimmer einen Platz angeboten, seit über einer Stunde saßen sie sich gegenüber und Claudia Behling erzählte.
»Die erste Gelegenheit habe ich genutzt und bin rüber in den Westen. Ich habe gar nicht erst abgewartet, was noch alles geschehen würde. Ich weiß noch: Ich hatte kaum was dabei, ein paar hundert Mark, Ost natürlich, und einen Rucksack mit ein paar Klamotten.« Claudia verstummte und starrte auf Ricardas gläsernen Wohnzimmertisch. Dann sah sie auf. »Ja, ich war allein.«
»Sie müssen mir das alles nicht erzählen«, sagte Ricarda leise.
»Ich weiß. Aber das gehört mit dazu, zu meiner Geschichte. Ich bin dann in so ein Auffanglager gekommen, wo ich mit lauter fremden Menschen in einem engen Bungalow gewohnt habe. Das war kein Leben. Immer dieser Streit und die vielen Kinder, die gar nicht wussten, was mit ihnen geschah. Ich wollte nach Hamburg. Keine Ahnung, warum, aber das hörte sich irgendwie gut an. Weil ich so jung war, kam ich in eine Art Heim. Ich konnte dann mein Abi machen, das war gut, hat mich zwar ein Jahr gekostet, aber es war die beste Entscheidung. Dadurch habe ich eine Ausbildung bekommen als Hotelkauffrau. Ich bin dann durch ein paar Hotels gegangen, habe mich hochgearbeitet. Das war alles okay. Ich hatte Freunde, bin viel verreist. Aber nach ein paar Jahren stellte ich fest, dass ich immer an zu Hause denken musste. Bescheuert, oder? Ich habe meine Eltern immer noch Mutter und Vater genannt. Da sieht man mal, wie sehr sich mir das eingebrannt hatte. Vor allem tat es mir um meinen Bruder Andreas leid, denn der konnte ja nun wirklich nichts dafür. Achtundneunzig beschloss ich dann, mich bei ihnen zu melden. Das war gar nicht so einfach. Ich musste sie erst mal finden. Die hatten ihr Grundstück abgeben müssen, weil es unrechtmäßig angeeignet war.« Claudia unterbrach sich und überlegte. »Komisch, dass man doch immer wieder zurückkehren will, obwohl es keine schöne Zeit gewesen war.«
»Ich kenne das«, sagte Ricarda. Es war seltsam, aber auch sie dachte immer wieder an ihre eigene Kindheit und Jugend zurück, wie an eine schöne Zeit. Vielleicht war es nur die wehmütige Erinnerung an die Jugend, wie sie fast jeder hatte. Die Suche nach ihrem Kind hatte sie so ausgefüllt, die Zeit so intensiv gemacht, dass die letzten fünfundzwanzig Jahre dagegen wie im Flug vergangen waren. Das waren schöne, beständige Jahre gewesen, aber sie waren kaum von bestimmten Ereignissen geprägt worden. Die Geburtstage ihrer Enkel. Die Hochwasser von 2002 und 2013. Die Trennung von Eric nach zehn Jahren. Das Unwetter im Flugzeug nach Zypern. Ereignisse, die allenfalls kleine Wegmarken waren in einem großen diffusen Zeitraum. Während sie von den Jahren davor scheinbar jeden einzelnen Tag noch im Kopf hatte.
»Jedenfalls hatte ich mir vorgenommen, gelassen zu bleiben«, fuhr Claudia in ihrer Erzählung fort. »Egal, wie sie reagieren, ich wollte mich nicht aufregen. Aber als ich sie wiedersah, war ich entsetzt. Sie wohnten in einer Plattenbauwohnung mitten in Berlin. Beide lebten von staatlicher Hilfe und Arbeitslosengeld. Das Leben hatte sie verändert, und sie waren bitter und böse auf alles und alle. Nur nicht auf sich selbst. Sie besaßen keinerlei Selbstreflektion. Man hatte ihnen das Haus weggenommen, und sie taten so, als sei das meine Schuld. Sie wollten gar nicht kapieren, dass es ihnen gar nicht gehörte. Und natürlich wollte niemand meinem Vater einen Job geben, und meine Mutter war arbeitsunfähig. Selbst dass sie Rente bekamen, genügte ihnen nicht. Was für verbitterte Menschen!« Claudia schwieg wieder und schien sich in ihren Erinnerungen kurz zu verlieren. Ricarda ließ sie und wartete geduldig ab, bis Claudia weiterredete.
»Und Andreas, der war sehr reserviert, regelrecht verschlossen. Er hatte es schwer gehabt in der Schule. Weil er der Sohn von einem Parteibonzen war. Nach der Wende haben alle angefangen, ihn zu mobben. Damals hat man das bloß noch nicht so genannt, aber es muss schlimm gewesen sein für ihn. Wir schreiben uns gelegentlich. Vater wurde dann auch bald krank, er hatte schon immer mit Zucker zu kämpfen gehabt. Aber ich glaube, er hatte zu saufen begonnen. Er starb zwei Jahre später, aber das habe ich auch erst vor Kurzem erfahren.« Claudia zuckte gleichgültig mit den Achseln, doch Ricarda sah ihr an, dass es ihr nicht egal war.
»Sind sie auf die Adoptionsangelegenheit eingegangen?«
Claudia winkte ab. »Es hat auch keiner von denen gefragt, wie es mir ergangen ist. Es hat sich auch keiner entschuldigt oder wollte von sich aus das Thema ansprechen. Die taten einfach so, als sei ich irgendeine alte Bekannte, und mein Besuch war keineswegs willkommen. Als ich mich dann vom ersten Schock erholt hatte, habe ich all meinen Mut zusammengenommen. Ich habe nach den Adoptionsunterlagen gefragt und woher sie mich bekommen hatten und ob sie wüssten, wer meine Eltern sind. Meine Mutter ist völlig ausgetickt. Ob ich denn niemals Ruhe geben wollte, schrie sie mich an, dabei hatte ich nur dieses eine Mal gefragt. Andreas hat später versucht, Unterlagen zu finden, doch die waren allesamt verschwunden. Also, dieser Tag, etwas Deprimierenderes habe ich noch nicht erlebt, nicht einmal, als ich mit zweihundert Ostmark in der Hand im Auffanglager stand.«
»Es wird für sie alle schwer gewesen sein«, versuchte Ricarda zu moderieren. »Ob etwas richtig oder falsch ist, lässt sich von außen immer leichter beurteilen.«
Claudia verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Das mag sein, aber trotzdem frage ich mich, wie man nur so uneinsichtig sein kann. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie mich wirklich haben wollten als Kind. Vermutlich wäre das alles gar nicht so schlimm geworden, wäre Mutter nicht mit Andreas schwanger geworden. Ich meine, Andreas kann da ja auch nichts dafür, und irgendwie ist es doch logisch, dass man das eigene Kind lieber hat.«
Ricarda sah das anders, doch sie wusste nichts zu sagen in diesem Moment. Sie fürchtete, Claudia erhoffte sich zu viel von ihr. Außerdem waren sie noch immer Fremde.
»Das ist jedenfalls auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen. Anfangs war mir das gar nicht bewusst. Ich habe mich immer nur gefragt, was mit mir nicht stimmte, warum ich immer so voller Zweifel war. Ich habe keine feste Beziehung auf die Reihe bekommen, der Gedanke daran, ein Kind zu kriegen, löste in mir Panik aus. Ich würde gar nicht wissen, wie man damit umgehen sollte.«
»Natürlich wüssten Sie das, glauben Sie mir. Und Sie würden es bestimmt viel besser machen.«
Claudia lachte auf und winkte ab. »Ich weiß nicht. Manchmal glaube ich, ich habe eine richtige Psychose. Ich träume oft von mir. Immer denselben Traum. Ich sehe mich als kleines Kind. Ich weiß gar nicht, wer noch da ist. Ob das meine richtige Mutter ist im Hintergrund oder die Adoptivmutter? Ob es überhaupt jemand ist, den ich kenne. Und ich sehe mir selbst von außen zu. Der Traum kommt immer mal wieder, und ich weiß, ich hatte den auch schon als Jugendliche, eigentlich auch schon als Kind. Ich war mal in psychologischer Behandlung, wo man mir sagte, dass es eine typische Art sei, mit einer traumatischen Situation umzugehen. Dabei tritt der Betroffene aus seinem Körper heraus und betrachtet die Szene und sich von außen, als gehörte er nicht dazu. Das kann bei manchen zu sogenannten dissoziativen Persönlichkeitsstörungen führen. Sie meinten, es könnte vielleicht der Moment gewesen sein, als ich meiner Familie weggenommen wurde. Aber ich weiß nicht, mir kommt das nicht so vor. Also, der Traum ist nicht so dramatisch.« Claudia grinste und wirkte mit einem Mal verlegen. »Jetzt denken Sie bestimmt, womit Sie das verdient haben, dass ich hier meine ganze Geschichte erzähle, und fragen sich, worauf ich hinauswill!«
»Das besprechen wir noch.« Ricarda streckte Claudia die Hand entgegen. »Sagen wir Du. Ich bin Ricarda.«
Claudia nahm ihre Hand und lächelte.
»Wollen wir etwas essen?«, fragte Ricarda. »Ich kann Pizza bestellen.«
»Ich will dir nicht zur Last fallen.«
Ricarda konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Das sagst du jetzt, nach diesem Überfall?«
Claudia wurde rot im Gesicht. »Bitte entschuldige, aber ich bin ziemlich verzweifelt gewesen«, versuchte sie sich zu verteidigen.
»Das habe ich nicht so gemeint. Ich kann mich gut in deine Situation versetzen, ich habe Ähnliches durchgemacht.« Ricarda stand auf, um ihr Smartphone zu holen. Natürlich hatte sie Claudias Geschichte bewegt, doch ihr war bewusst, dass das mit ihrer eigenen Geschichte nichts zu tun hatte. Diese war abgeschlossen, aufgeklärt, zu den Akten gelegt. Nichtsdestotrotz hatte sie sich vorhin dabei ertappt, wie sie nach Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen Claudia und Ines gesucht hatte.
Sie zuckte zusammen, als Claudia sie auf einmal beim Handgelenk packte. »Weißt du, als ich in dem Lager ankam, musste ich in die Passstelle. Ich habe viele Anträge ausfüllen müssen, und die Frau, die da saß, hatte bestimmt schon hunderte von Leuten in der Woche vor mir dagehabt und ein paar tausend in dem Monat. Die sah mich an und zog plötzlich ihre Brieftasche raus und drückte mir fünfzig Mark in die Hand. Sie hat gesagt, sie würde mich gern mit zu sich nehmen, aber das dürfte sie nicht. Ich habe das Geld genommen, so verblüfft war ich. Ich dachte erst, das bekommt jeder. Als ich das später endlich kapiert hatte, da war ich so … Also, genau so fühle ich mich jetzt!«
Eine Stunde später waren die Pizzen gegessen und eine Weinflasche geöffnet. Claudia schob den Teller beiseite und zog ihre Unterlagen aus der Tasche.
»Also, es gibt Ämter, die helfen dir bei der Suche. Oft wurden Kinder vom Jugendamt aus desolaten Verhältnissen herausgenommen. Das waren dann Eltern, die als asozial galten, die Alkoholiker waren oder gewalttätig gegen die Kinder geworden sind. Da kam es manchmal durchaus zu Zwangsadoptionen, aber eher selten. Man muss da also vorsichtig sein in seinem Urteil. Es gab auch Zwangsadoptionen, die politisch motiviert waren. Und da wird es schon schwieriger. Du weißt selbst, damals galt man als kriminell, wenn man sich politisch gegen die DDR
engagiert hatte oder versucht hatte, zu fliehen. Das gehörte auch zum Konzept der Stasi, die Beschuldigten systematisch fertigzumachen. Zuerst wurden ihnen Fehler oder Faulheit bei der Arbeit unterstellt, dann wurde der Freundeskreis agitiert, bis sich alle abgewendet haben, die gesamte Familie wurde mit hineingezogen, bis wirklich niemand mehr mit dir zu tun haben wollte. Und schließlich, wenn man immer noch nicht eingeknickt war, gingen sie daran, dir die Kinder wegzunehmen. Oder sie haben die Leute verhaftet und die Kinder wurden in Heime gebracht.«
»Warst du denn in einem Heim?«, fragte Ricarda
Claudia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht als Baby. Aber ich weiß nicht einmal, ob ich nicht vorher in einer anderen Pflegefamilie gewesen bin, ehe ich zu den Behlings kam. Ich war noch ziemlich klein. Es gibt Fotos von mir, da könnte ich zwei oder drei Jahre alt gewesen sein. Ich glaube, da kann man sich an nichts wirklich erinnern.«
»Und hast du irgendwas über deine Herkunft herausfinden können?«
»Das ist ja der Punkt. Ich war auf unzähligen Behörden, und man wollte mir wirklich helfen. Ich war bei Stasiunterlagenbehörden, auf Meldeämtern, Standesämtern, habe Geburtsregister studiert und habe mit verschiedenen Adoptionsvermittlungsstellen in den Jugendämtern gesprochen. Aber ich bin nicht weitergekommen. Andreas hat dann was gefunden, was mir wenigstens einen Hinweis auf das Amt gab, das damals für meine Eltern zuständig war. Und ich habe dann tatsächlich das bekommen.« Claudia öffnete die schmale vergilbte Aktenmappe und schob sie Ricarda zu. »Ich war so froh, weil ich glaubte, endlich auf der richtigen Spur zu sein.«
Ricarda sah sich die Unterlagen an und blätterte in den maschinenbeschriebenen Formularen. »Erklär mir das mal.«
»Das sind meine Adoptionsunterlagen. Mein Name, mein Alter, mein Geburtstag, die Namen meiner Adoptiveltern, deren Geburtsdaten, alles Mögliche. Nur die Namen meiner leiblichen Eltern sind nicht verzeichnet. Schau, hier. Das wurde einfach alles freigelassen. Ich habe dann erfahren, dass meine Adoptivmutter meinen Namen eintragen ließ. Es ist also nicht einmal mein wirklicher Name. Und selbst mein Geburtstag scheint erfunden zu sein, um meine wirkliche Herkunft zu vertuschen.«
Ricarda bemerkte zu spät, dass Claudias Stimmung gekippt war. Gerade noch schien sie voller Eifer zu sein, ihr Schicksal zu erzählen, plötzlich versagte ihr fast die Stimme. »Ich weiß nicht, wer ich bin, verstehst du das?« Fast flehend sah sie Ricarda an.
Ricarda war versucht, die Frau in die Arme zu nehmen. Doch etwas in ihr ließ sie zögern. Auch wenn sie beschlossen hatte, ihr zu vertrauen und ihr zu helfen, war sie einfach noch nicht bereit, sich ganz auf sie einzulassen. Sie legte tröstend ihre Hand auf Claudias Unterarm. Sie selbst hatte Jahre gebraucht, mit ihrem Leben klarzukommen. Die Suche nach dem Kind war der Sinn ihres Lebens gewesen. Als sie schließlich den Tod akzeptiert hatte, gab es diesen Sinn nicht mehr, und eine Leere war entstanden, die sie nur nach und nach füllen konnte.
»Du bist immer du, egal welchen Namen dir deine Eltern mal gegeben haben!«, sagte sie zu Claudia und warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
»Ich weiß. Aber kannst du meine Verzweiflung wenigstens verstehen? Alle, die ich traf, hatten irgendwann ihre echten Eltern gefunden. Und auch den Grund, warum sie adoptiert waren. Manche Eltern waren in den Westen gegangen und hatten die Kinder zurückgelassen, manche waren lange im Gefängnis gewesen, manche hatten nach der Entlassung aus dem Knast abgelehnt, ihre Kinder wiederzusehen. Das ist natürlich auch schlimm. Aber ich, ich weiß noch nicht mal, wer sie waren. Ich frage mich immer wieder, warum sie nie versucht haben, mich wiederzubekommen. Durften sie nicht? Wollten sie nicht, oder wussten sie es nicht besser?«
»Wie wollen wir denn anfangen?«, unterbrach Ricarda, um Claudia auf andere Gedanken zu bringen.
Claudia sah auf. »Vielleicht hast du eine Idee? Ich dachte, dass du damit Erfahrung hast. Ehrlich gesagt, ich klammere mich inzwischen an jeden Strohhalm. Als ich den Zeitungsartikel von dir fand … na ja …. also, ich müsste dreiundsiebzig geboren sein …«
Das war genau der Gedanke, dem Ricarda sich bis zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs mit aller Macht verwehrt hatte. Der Tod ihres Kindes war bestätigt. Das war amtlich, das war belegt. Ricarda langte nach ihrem Weinglas und trank es in einem Zug aus. Doch obwohl alle Vernunft dagegensprach und sie gar nicht wissen konnte, ob Claudia ihr nicht doch nur etwas vormachte, war dieses Feuer in ihr plötzlich wieder entfacht.
»Also, ich will wirklich nicht unverschämt sein oder dich bedrängen. Verstehe mich bitte richtig, aber heutzutage lässt sich leicht ein DNA
-Abgleich machen. Das ist auch gar nicht mehr so teuer.« Claudia sah sie fragend und voller Hoffnung an.
Ein DNA
-Abgleich. Ricarda nickte reflexartig. In Gedanken war sie ganz woanders.