28
Dresden, September 2018
Sie hatten sich für den nächsten Tag an der Elbe verabredet, wo sie nun auf einer Bank saßen. Radfahrer und Inlineskater huschten an ihnen vorbei, gelegentlich schlenderte ein Spaziergänger entlang. Fast war es zu warm in der Sonne. Ricarda hatte nicht gut geschlafen, sie war unruhig gewesen und von Rastlosigkeit erfüllt. Außerdem hatte sie immer wieder an Steffen denken müssen.
»Magst du mit nach Berlin fahren?«, fragte Claudia unvermittelt, nachdem sie lange schweigend nebeneinandergesessen hatten. »Andreas rief mich vorhin an. Meine Mutter musste ins Krankenhaus, und er hat die Gelegenheit genutzt, die Wohnung nach Unterlagen zu durchsuchen. Er sagt, er hätte verschiedene Sachen gefunden.« Claudia hielt inne. »Was ist denn mit dir?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Ricarda. Sie wusste es wirklich nicht. Es war ein dumpfes Gefühl, wie eine Übelkeit, die vom Magen aus langsam nach oben stieg und gleich ihre Kehle erreichen würde. Während ihrer schlaflosen letzten Nacht war ihr etwas in den Sinn gekommen. Ihr war wieder eingefallen, wie sie damals nach der ersten Woche im neuen Job in Leipzig nach Hause gekommen war und ihr dieser Papierschnipsel aufgefallen ist, der aus ihrer Schrankwand herausgeschaut hatte.
»Steffen, mein Exmann, an den musste ich gerade denken. Immerzu hat er mich gedrängt, die Sache endlich auf sich beruhen zu lassen. Eigentlich schon unmittelbar nach der schrecklichen Entbindung.« Ricarda schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken wegwischen. Sie durfte auf keinen Fall wieder in ihr altes Denkmuster verfallen. Claudia hatte sie mit ihrer fixen Idee völlig durcheinandergebracht. »Claudia, du musst dir im Klaren sein, dass wir höchstwahrscheinlich zwei verschiedenen Fällen nachgehen. Die Tatsache, dass du dreiundsiebzig geboren bist, hat rein gar nichts zu bedeuten.«
»Na ja, deswegen meinte ich ja … Wir können den Test machen, dann haben wir Klarheit. Das dauert nur ein paar Tage.« Claudia sah Ricarda an, die aber starr geradeaus auf die Elbe blickte.
»Du darfst dir da keine falschen Hoffnungen machen, Claudia.« Ricarda drehte sich jetzt doch zu ihr hin. »Es wäre schön, ja, sicher, irgendwie … wie ein Wunder. Aber Wunder gibt’s nicht, verstehst du?«
Claudia wollte ganz offensichtlich widersprechen, dann aber hob sie ratlos die Schultern. »Es kann ja zumindest nicht schaden, sich gegenseitig zu unterstützen.«
Ricarda lächelte traurig. »Nein, ganz sicher nicht. So eine Suche kann ganz schön einsam machen.«
Claudia nickte und schwieg. Eine Weile saßen sie beisammen und sprachen nicht, beobachteten die Leute, Studenten, die Picknick auf den Elbwiesen machten, Hundehalter, die ihre Tiere ins Wasser springen ließen, ein Partyfloß, das die Elbe hinabtrieb.
»Und?«, wandte sich Claudia wieder an Ricarda. »Kommst du nun mit nach Berlin?«
»Heute?«
»Ich kann nicht länger warten, ich will wissen, was Andreas gefunden hat.«
»Mit dem Auto?«, fragte Ricarda und Claudia nickte. Sie ahnte, dass Claudia sie nicht allein als emotionale Stütze brauchte, sondern auch als Rückhalt, falls sie doch auf ihre Adoptivmutter treffen sollte.
Sie atmete tief durch. »Na, gut.«
Zuerst war sie erleichtert gewesen, als sie in Berlin endlich von der Autobahn herunterfuhren, doch angesichts des Verkehrs in Neukölln währte die Erleichterung nur kurz. Wenn sie im Auto saß, hatte sie nach wie vor die Bilder von ihrem Unfall vor Augen, wie sie die Kontrolle verlor und die Welt sich zu drehen begann. Sie schwitzte vor Angst. Erst jetzt bemerkte sie, wie ihre Hand wehtat, so sehr hatte sie sich während der Fahrt am Türgriff des alten A-Klasse Mercedes festgehalten.
»Du schwitzt ja!«, lachte Claudia, als sie an der nächsten Kreuzung halten musste.
Ricarda brachte ein gequältes Lächeln zustande und schaute angestrengt nach draußen. Sie war schon ewig nicht mehr in Berlin, geschweige denn in Neukölln oder Kreuzberg gewesen. Sie waren gerade zur nachmittäglichen Stoßzeit angekommen, und der Verkehr staute sich überall.
Es dauerte noch eine ganze Stunde, bis sie am Haus von Claudias Adoptivmutter ankamen. Der riesige Wohnblock wirkte wenig einladend. Auf Claudias Klingeln hin wurde die Haustür mit einem Summen geöffnet. Der Hausflur bestätigte Ricardas ersten Eindruck. Unter den Briefkästen lagen Stapel von alten Werbeblättern, die seit Ewigkeiten nicht abgeholt worden waren, manche Briefkästen waren kaputt und heruntergerissen, der Fußboden war ungepflegt. Ein enger Aufzug, der seltsame Geräusche von sich gab, brachte sie in die siebte Etage. Ricarda war erleichtert, als die Tür sich wieder öffnete und sie dem Gestank darin entkommen konnte. Sie folgte Claudia durch einen schmalen Flur. An einer der hinteren Wohnungstüren stand ein Mann und erwartete sie schon. Ricarda wusste, Andreas musste um die vierzig sein, doch er wirkte deutlich älter. Er war sehr groß und hatte ein gepflegtes Äußeres, aber seine Miene war irritierend starr, sie verriet nichts, weder Freude noch irgendeine andere Emotion. Ricarda fiel ein, dass sie gar nicht seinen Beruf kannte. Er könnte alles sein, dachte sie, Finanzbeamter oder Türsteher, man sah es ihm einfach nicht an.
Claudia begrüßte ihn, indem sie ihm über die Schulter strich. »Das ist Ricarda, eine Freundin von mir.«
»Guten Tag«, sagte Ricarda.
Andreas nickte ihr langsam zu. »Du hast gar nicht gesagt, dass du jemand mitbringst.«
»Hat sich so ergeben. Ist sie da?«, fragte Claudia.
Andreas schüttelte den Kopf, und Claudia konnte ihre Erleichterung kaum verbergen. Sie winkte Ricarda in die Wohnung, an Andreas vorbei, der keine Miene verzog. Ricarda fühlte sich nicht wohl dabei.
Im Gegensatz zum Haus war die Wohnung ausnehmend sauber. Die Zeit schien hier stillzustehen. Ricarda bemerkte sofort, dass sämtliche Möbel noch aus der DDR -Zeit stammten, die Schrankwand, die Couch, der verstellbare Couchtisch, der Esstisch, die Stühle. Das Schaugeschirr in der Schrankwand. Die Stereoanlage. Allein der Röhrenfernseher war ein Westmodell, wenn auch mindestens zwanzig Jahre alt. In der Schrankwand fanden sich Bilder und Urkunden aus der DDR , zwei Orden hingen in einem Bilderrahmen. Es sah aus wie in einem Museum. Frau Behling hatte sich sozusagen in ihrer Vergangenheit verkrochen, hatte eine Zeit lebendig erhalten, in der noch alles gut gewesen war.
Als Ricarda zu Claudia sah, bemerkte sie, dass diese sie aufmerksam beobachtet hatte.
»Gruselig, oder?«
»Mutter konnte nie davon lassen«, erklärte Andreas. »Sie redet immerzu darüber, wie man sie um das Haus betrogen hat. Siegerjustiz, sagt sie immer.« Er blieb unschlüssig in der Tür stehen.
»Ich hole mal was zu trinken«, kündigte Claudia an und ließ Ricarda bei Andreas zurück.
»Was sind Sie denn von Beruf?«, fragte Ricarda, um gar nicht erst Verlegenheit aufkommen zu lassen.
»Ich bin in einer Großhandelsgesellschaft. Eigentlich ist ihr Sitz in Hamburg, ich betreue die Zweigstelle in Berlin, so kann ich immer nach Mutter sehen.«
»Und haben Sie Frau und Kinder?«
»Kinder nicht. Hat sich bis jetzt noch nicht ergeben.« Andreas zeigte keine Regung im Gesicht.
Ricarda lächelte verlegen. »Claudia meinte, Sie hätten etwas gefunden …?«, begann sie, um das Thema zu wechseln.
Anstatt zu antworten, ging er ins Nebenzimmer. Ricarda versuchte, neugierig einen Blick durch die Tür zu werfen und erkannte das Fußende eines Bettes, auch das ein DDR -Modell, und einen Kleiderschrank. Den gleichen hatte sie auch schon mal besessen. Andreas kam mit einem Waschkorb zurück, den er auf den Couchtisch stellte. Claudia hatte drei Gläser mit Leitungswasser gebracht und ließ sie sich abnehmen.
»Es ist alles da drin«, sagte Andreas und deutete auf den Korb. Claudia blies die Backen auf, angesichts des Wustes an Papieren.
»Ich hab das im Kleiderschrank und einen Teil da unten in der Schrankwand gefunden. Der Schlüssel zu dem Fach war in einer Dose in der Küche.«
Claudia begann die Papiere zu durchstöbern.
»Mutter wird das nicht gefallen«, fügte Andreas hinzu.
»Was ist denn das hier?«, fragte Claudia und hob etwas Schweres aus dem Korb. »Das ist doch von der Stasi!«
Andreas zuckte mit den Schultern. »Ich hab das nur grob durchgeblättert, ich bin nicht scharf drauf, mir das anzusehen.«
Ricarda sah Claudia über die Schulter. Der prall gefüllte Pappordner war tatsächlich Ernst Behlings Stasiakte.
»Die müssen sie doch geklaut haben!«, keuchte Claudia aufgeregt und trug den Ordner zum Esstisch.
Andreas langte nach einem Blatt, das herausgefallen war, und reichte es Claudia zurück. »Nach der Wende hatte Vater viel Besuch. Ich musste immer aufs Zimmer, aber ich habe gelauscht. Die waren alle sehr aufgeregt und haben geflüstert und diskutiert.«
»Mensch! Die ganze Zeit ist das hier!«, stöhnte Claudia. »Schau dir das mal an. Protokolle ohne Ende.« Claudia blätterte eine Seite nach der anderen um.
»Warte, geh noch mal zurück!«, rief Ricarda, der etwas aufgefallen war. Claudia blätterte zurück.
»Bericht über ein scheinbar spontanes Treffen im Lilienstein«, las sie leise vor und fuhr mit dem Finger über die maschinengeschriebenen Zeilen auf dem vergilbten Papier. »Hier, Dresden, das ist ein großes Hotel auf der Prager Straße gewesen.«
Plötzlich packte Claudia sie fast schmerzhaft am Oberarm. »Da!«, rief sie und tippte auf eine Stelle weiter unten im Text. »Doktor Raspe!«
Ricarda wurde schwindlig.
Claudia las weiter. »Der Inhalt des Gespräches konnte nicht ermittelt werden. IM Finsterwald beobachtete das Treffen von der Bar aus, berichtete, dass das Gespräch sich von einer erst scheinbar freundschaftlichen Zusammenkunft zu einem ernsten Gespräch entwickelte. Wir erhoffen uns weitere Informationen von IM Elbhang und IM Rauch.«
»IM Rauch!«, entfuhr es Ricarda. »Der stand auch in meiner Stasiakte!«
»Und weißt du, wer das war?«
Ricarda schüttelte den Kopf. Dass tatsächlich eine Verbindung zwischen ihr und Claudia bestand, musste sie erst mal verarbeiten. Vor allem aber durfte sie sich nicht hineinsteigern, sie musste sachlich bleiben, einen kühlen Kopf bewahren.
»Vierundneunzig habe ich meine Akte eingesehen, aber da erfuhr ich nur, dass es IM s gab, nicht, wer sie waren«, flüsterte Ricarda, kaum in der Lage, überhaupt etwas zu sagen.
»Das war ja vor über zwanzig Jahren. Das hat sich alles geändert«, kommentierte Claudia.
»Anscheinend waren ein paar IM auf mich angesetzt. An IM Rauch kann ich mich entsinnen und noch andere.«
Claudia blätterte weiter. »Ich weiß aus meiner Akte, dass auf meinen Vater einige angesetzt waren. Unsere Nachbarn zum Beispiel. Die sind extra auf das Grundstück nebenan gezogen, da war ich gerade zehn. Und Kollegen von ihm. Hier, IM Finsterwald, das war Herr Liebschütz.«
»Herr Liebschütz?«, fragte Andreas erstaunt. »Der hat mir immer Matchbox-Autos mitgebracht!«
Claudia verzog das Gesicht. »Und mir einen Walkman. Den musste ich nachher Mutter geben. Vater war bei der KoKo beschäftigt, Kommerzielle Koordinierung. Für eine Firma namens Intrac.«
»Mein Vater durfte auch in den Westen«, sagte Ricarda. »Deshalb wurde er auch von der Stasi überwacht.«
»Lebt dein Vater eigentlich noch?«, fragte Claudia.
»Ja, meine beiden Eltern leben noch. Beide über neunzig. Mein Vater zehrt von seinem vergangenen Ruhm, und Mutter sowieso. Ginge es nach denen, dürfte es die DDR auch noch geben. Es ging ihnen immer gut.« Ricarda schwieg verbittert.
»Du müsstest erneut Akteneinsicht beantragen. Inzwischen kann man das online machen und bekommt sogar ziemlich schnell einen Termin«, sagte Claudia, während sie weiter in dem Ordner blätterte.
»Hier!«, rief sie plötzlich. »Ich hab es ja gewusst. Vater war in Westberlin. Ziemlich oft sogar. Schau mal, davon habe ich gelesen. Die haben anscheinend Westberliner Müll entsorgt und es sich gut bezahlen lassen. Da wurde ja extra eine Müllverbrennungsanlage gebaut. Diese Firma Intrac hat wohl die meisten Geschäfte geregelt, die nicht über den geplanten Außenhandel der DDR liefen. Die haben auch den Verkauf von Häftlingen in die BRD geregelt, soweit ich weiß. Schau dir das an! Vater wird als absolut zuverlässig eingestuft.«
Ricarda schwirrte der Kopf. Davon hatte damals auch etwas in dem Zeitungsbericht über sie gestanden. Dass ihr Vater das Kind womöglich für den Freikauf eines Häftlings hergegeben hätte. Damals erschien das so hanebüchen, so absurd.
Claudia schien von Ricardas Erschütterung kaum etwas mitzubekommen. Sie schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. »Mutter dagegen haben sie als Unsicherheitsfaktor eingeschätzt. Zeichnet sich durch ihre aufbrausende Art aus« , zitierte sie, »ist immerzu darauf bedacht, Beachtung geschenkt zu bekommen, drängt sich sehr in den Vordergrund. Behling selbst vermutet, ihre Unzufriedenheit ist in dem unerfüllten Kinderwunsch begründet. Es wird angeraten, ihr eine Funktion zukommen zu lassen, die sie in ihrer Freizeit ausfüllt.« Sie las den Text stumm zu Ende und blätterte auf die nächste Seite. Andreas sah seiner Schwester über die Schulter. Ricarda hatte sich einen Stuhl herangezogen.
Die nächsten Seiten waren nicht relevant. Offensichtlich war Behling intensiv beobachtet worden. Protokolle verschiedener IM s berichteten detailgenau vom täglichen Leben, von Wochenendausflügen, den Besuchen bei seinen und den Schwiegereltern, Feten mit Freunden und Bekannten, von dem Urlaub im Harz. Dann aber entdeckte Ricarda wieder etwas.
»Hier, wieder IM Elbhang!« Sie deutete auf die entsprechende Stelle. »Ein erneutes Treffen von deinem und meinem Vater. Wieder im Hotel. Sie haben eine Reise nach Hamburg besprochen. Daran kann ich mich erinnern, dass er mal in Hamburg war.«
Claudia stieß Ricarda an. Sie war schon weiter im Text und zeigte auf eine Passage weiter unten.
»… mit der Maßgabe zur Beschaffung vertraulicher Informationen, ein außereheliches Verhältnis anzubahnen« , las Ricarda. »IM Elbhang ist eine Frau!«, schlussfolgerte sie und las weiter, »…spielt in die Hände, dass IM Elbhang sich von Dr. Raspe durchaus angezogen fühlt. Es wird empfohlen, darauf aufzubauen. Inzwischen ist mit der Observierung des Ehepartners von IM Elbhang wie gehabt fortzufahren. Achtung! Weder die Zielperson selbst noch die Drahtzieher des geplanten Fluchtversuches sind festzunehmen, außer bei akuter Fluchtgefahr. Die Operation Brücke darf unter keinen Umständen gefährdet werden. IM Finsterwald begleitet B. und R. als Protokollführer, wird jede Abweichung vom Reiseweg und jegliche ungeplante Treffen mit Dritten über den üblichen Weg melden. Wichtig! IM Finsterwald und IM Elbhang wissen nichts voneinander. Sämtliche Aktionen sind mit den Genossen in Dresden abzustimmen.«
»Was hat denn das alles zu bedeuten?«, fragte Claudia.
»Dein Vater und mein Vater waren neunzehnhundertsiebzig zusammen in Hamburg. Anscheinend war das keine offizielle Delegation, sondern eine richtige Geschäftsreise. Wenn du sagst, Intrac hat solcherart Geschäfte betreut, warum nicht auch den Verkauf von medizinischen Präparaten oder Forschungsergebnissen? Außerdem hatte mein Vater anscheinend ein Verhältnis. Blätter mal weiter!«
Ricarda sah Claudias Bruder an. »Sie wissen nicht zufällig, woher Ihre Eltern diese Akte haben? Die muss ihnen ja zugespielt worden sein.«
Andreas schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, es waren Männer da, gleich nach der Wende. Ich war ja noch ein Kind, ich habe mir nicht alles gemerkt. Manche waren Kollegen von früher, andere kannte ich nicht. Mutter war oft sehr wütend. Sie sagte, man hätte die Demonstranten zusammenschießen sollen. Wie in China. Von Claudia hat sie gesagt, sie wäre eine undankbare Göre.« Wieder hob er die Schultern.
»Hat sie das gesagt, ja?«, fragte Claudia und gab sich gelassen. Doch Ricarda sah ihr an, wie die Worte an ihr zehrten.
Andreas nickte. »Sie sagte, du wärst sonst in dem Heim geblieben.«
»In dem Heim?« Claudia sah auf.
Andreas nickte wieder. Er begann, im Wäschekorb nach weiteren Unterlagen zu suchen. Dann nahm er einen Brief mit aufgerissenem Umschlag heraus und gab ihn Claudia. Diese musterte den Brief, als ginge eine Gefahr von ihm aus. Ricarda nahm ihn kurzentschlossen an sich.
»Soll ich?«
»Da steht drin, welches Waisenhaus das war«, erklärte Andreas.
»Andi, warum sagst du das nicht?«, rief Claudia.
»Ich dachte, das wüsstest du schon längst.«
Ricarda las den Brief und hob beschwichtigend die Hand. »Da steht nichts über dich, Claudia, nur dass sie am 30. August ’75, um neun Uhr morgens zu einem ersten Gespräch erscheinen sollten. Haus der fröhlichen Kinder. In Königs Wusterhausen.«
»Aber wieso fünfundsiebzig?«, fragte Andreas.
»Das sagte ich ja. Ich muss schon zwei oder drei gewesen sein, als sie mich adoptierten.« Claudia erhob sich.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Ricarda.
»Nach Königs Wusterhausen! Die müssen doch Akten haben.«
Ricarda griff nach Claudias Arm. »Lass uns doch erst einmal herausfinden, ob dort jemand ist und ob wir einen Termin bekommen. Morgen vielleicht. Jetzt ist es schon zu spät. Inzwischen können wir die Unterlagen weiter durchgehen.«
»Willst du hier schlafen?«, fragte Claudia.
»Hier wird sich doch ein Hotel finden, wir sind doch in Berlin!«