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Dresden, September 2018
Ricarda taumelte leicht, als sie die Stasiunterlagenbehörde verließ. Es war nicht so sehr die spätsommerliche Wärme, die ihr zu schaffen machte, wenn sie auch einen Teil dazu beitrug. Sie fühlte Claudias besorgten Blick auf sich ruhen, wollte sich aber souverän geben. Schweigend liefen sie zum Auto, das sie etwas weiter weg hatten parken müssen. Als sie über einen Bordstein fast ins Leere trat, griff Claudia nach ihrem Oberarm. Ricarda schüttelte den Kopf. Es war zwar schön, nicht allein zu sein in diesem Moment, doch es täuschte nicht darüber hinweg, dass sie ganz allein mit dem klarkommen musste, was sie soeben erfahren hatte.
Der kleine Mercedes hatte in der Sonne gestanden und sich in den letzten vier Stunden ordentlich aufgeheizt.
»Soll ich die Klimaanlage einschalten?«, fragte Claudia.
Ricarda schüttelte den Kopf. Sie bekam Halsschmerzen davon. Sprechen konnte und wollte sie nicht. Noch nicht. Sie musste nachdenken. »Sieh mich doch nicht immer so an«, bat sie schließlich. »Ich bin ja nicht krank oder so.«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, entschuldigte sich Claudia.
»Du?«, fragte Ricarda etwas zu schrill. »Warum das denn?«
»Na ja, immerhin habe ich dich dazu gebracht, deine Stasiakten noch mal anzusehen.«
Ricarda schüttelte den Kopf und sah die jüngere Frau traurig lächelnd an. »Das ändert ja nichts an dem, was geschehen ist. Ich bin dir sogar dankbar. Irgendwann hätte ich es ja sowieso gemacht.«
»Aber es hat nichts besser gemacht. Eher schlimmer«, sagte Claudia betrübt.
Ricarda winkte ab. Claudia hatte recht. Es hatte sie tatsächlich nicht weitergebracht. Ihr Vater war verdächtigt worden, auf seinen Reisen ins nicht sozialistische Ausland Geschäften nachzugehen, von denen die DDR
nichts wissen sollte. Andererseits war er vom Ministerium für Außenwirtschaft, das später Ministerium für Außenhandel hieß, immer wieder angefordert worden. Speziell von einer eigens vom Bereich Kommerzielle Koordinierung gegründeten Firma namens Intrac, die für die KoKo verschiedenste Beziehungen mit westlichen Firmen unterhielt. Die Intrac schloss unter anderem Verträge für Öllieferungen und Entsorgung westdeutschen Sondermülls ab, für die Stromversorgung Westberlins, für Kredite, für den Import von Südfrüchten, aber auch für Freikäufe von Inhaftierten. Welche Rolle ihr Vater da spielte, wem er zum Freikauf verholfen haben soll, oder ob er wirklich nur medizinische Präparate verkaufte, war jedoch nicht auszumachen. Vater hatte offenbar eine Affäre gehabt mit einer jungen Begleiterin, die als seine Assistentin angestellt war und gleichzeitig für das MfS spionierte. Man hatte dieses Verhältnis geduldet oder gar gefördert, um ihn erpressbar zu machen. Doch irgendwas hatte die Stasi dann davon abgehalten, genau das zu tun. Was das war, stand wahrscheinlich in Vaters Akten, vermutete Ricarda. Diese durfte sie nicht einsehen. Was sie wusste, hatte sie sich aus der Akte von Claudias Adoptivvater und aus ihrer eigenen Akte zusammengereimt. Sie hatte Kopien davon dabei, doch viel weiter brachte sie das nicht. Sie hatte also etwas und hatte doch nichts. Ihr einziger Anhaltspunkt war IM
Elbhang, die Geliebte ihres Vaters, die ihn gleichzeitig ausspionierte. Sie musste die Identität dieser Person herauskriegen, koste es, was es wolle.
»Und nun? Willst du nach Hause?«, fragte Claudia.
»Nein, wir fahren zu Steffen.«
»Jetzt?«
»Genau jetzt. Er hat Dienst.«
Steffen, der schon seit einigen Jahren im Schichtbetrieb bei einem Sicherheitsdienst arbeitete, hatte seinen Arbeitsplatz im gläsernen Pförtnerhäuschen eines Pharmaziebetriebs an der Leipziger Straße. Seine Aufgabe war es, die Angestellten ein und aus zu lassen, Besucher zu registrieren und die Schranke für Fahrzeuge zu öffnen. Ein schlecht bezahlter, eintöniger Arbeitsplatz, mit dem er die Zeit bis zur Rente überbrücken wollte.
Steffen war von seinem Pförtnerstuhl aufgestanden, als er die beiden Frauen durch die große Glastür kommen sah. Er hatte sich einen Vollbart wachsen lassen und war grau geworden über die Jahre. Er wirkte reserviert, vor allem Claudia gegenüber, die er nicht kannte.
»Ricarda, du kannst nicht einfach hierherkommen. Das ist mein Arbeitsplatz!«, empfing er sie vorwurfsvoll.
Ricarda ersparte sich irgendeine Begrüßung. Sie fiel mit der Tür ins Haus, so wütend war sie. »Steffen, warum habt ihr die Überreste des Kindes im Sarg einäschern lassen?«
Steffen war irritiert. »Was …? Wieso fragst du das?«
»Steffen, warum?«
»Einfach so, ich weiß nicht mehr. Warum fängst du plötzlich wieder damit an? Es war doch alles gut.«
Ricarda schaute ihm unverwandt in die Augen. »Hast du das gemacht, damit man keinen DNA
-Abgleich durchführen kann?«
»Was?«, Steffen riss die Augen auf, sein Blick huschte zwischen ihr und Claudia hin und her. »Wie kommst du auf so was?« Er blickte auf Claudia. »Und wer ist das?«
»Lenk nicht ab. Das ist jetzt unwichtig! Ich will wissen, warum du das gemacht hast!« Ricardas Stimme klang hart und metallisch.
»Ich weiß es nicht!«, fuhr Steffen sie an. Auch er war jetzt wütend. »Einfach so, vielleicht schlug es jemand vor. Ich weiß wirklich nicht. Wir hatten doch ganz andere Sorgen. Dass du vielleicht stirbst, zum Beispiel!«
Ricarda zeigte sich unbeeindruckt. »Steffen, an dem Tag, nachdem ich das Kind verloren hatte, am Morgen, da war mein Vater bei uns in der Wohnung gewesen. Was wollte er?«
Steffen stöhnte auf und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er schüttelte den Kopf und öffnete dann den Mund. Doch anscheinend erkannte er in Ricardas Gesicht, dass jetzt nicht die Zeit war, sich herauszureden.
»Also gut. Er gestand mir, dass er das Kind nicht hatte retten können. Er sagte, ich sollte mich um dich kümmern.«
»Das hat er gesagt? Sonst nichts?«
»Nein, nichts!« Steffen sah zu Claudia, deren Anwesenheit ihn offensichtlich verunsicherte.
»Hat er dir Geld gegeben?«, fragte Ricarda weiter.
»Er bot mir an, uns zu unterstützen.«
Ricarda legte jetzt beide Fäuste energisch auf den lackierten Holztresen vor Steffen. »Hat er dir Geld gegeben?«, fragte sie.
»Ja. Wir haben später den Kleiderschrank davon gekauft, ich habe dir gesagt, es sei eine Prämie gewesen.«
Ricarda nickte. Sie hatte es ja schon gewusst, aus den Akten, doch sie hatte es sich noch mal aus seinem Mund bestätigen lassen wollen. Sie spürte, wie Tränen, Scham und Wut in ihr aufstiegen.
»Barbara war bei dir gewesen, ihr habt Schnaps getrunken!«, stieß sie hervor.
Steffen seufzte. »Ja, aber das war Zufall. Sie wusste nichts von dem verlorenen Kind, sie wollte dich besuchen. Ich erzählte es ihr, und du kennst sie doch. Sie will immer alles genau wissen, und dann haben wir zusammen was getrunken. Sie meinte, das würde guttun nach so einem Schock. Ich habe es dir damals nur nicht erzählt, weil du auf keine falschen Gedanken kommen solltest. Es ging dir sowieso schon nicht gut.«
Ricarda machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Und ein Mann war auch da gewesen, an diesem Morgen. Wer war das?«
»Ein Mann?« Steffen schien überlegen zu müssen, was Ricarda noch ungeduldiger werden ließ.
»Ein Polizist!«
Jetzt schien Steffen sich zu erinnern. Ricarda war sicher, er spielte das nur.
»Was wollte der? Jetzt rede halt endlich, Steffen. Warum war ein Polizist da?«
»Ach ja, ich erinnere mich. Seine Frau war zur selben Zeit wie du im Krankenhaus. Wir hatten uns draußen getroffen und ich habe ihm von unserem Kind erzählt. Anscheinend wollte er der Sache nachgehen. Keine Ahnung, wie das weiterging. Ich habe ihn nie wiedergesehen! Woher weißt du das alles überhaupt?«
»Ist es wahr, dass du zu meinem Vater gegangen bist und ihn gebeten hast, dafür zu sorgen, dass ich irgendwas studieren darf, nachdem man mich vom Medizinstudium ausgeschlossen hatte?«
»Ich wollte doch nur, dass du etwas zu tun bekommst. Ich hatte Angst, du würdest durchdrehen!« Steffen wand sich unter ihren Vorhaltungen, sie sah es ihm deutlich an. Aber sie konnte keine Rücksicht mehr nehmen.
»Aber du bist hinter meinem Rücken zu meinem Vater gelaufen!«
»Na ja, hinter deinem Rücken, das klingt so …«, wollte er beschwichtigen. Draußen hupte es, und Steffen presste eilig den Knopf für die Schranke.
»Du bist sehr oft bei meinem Vater gewesen. Noch als wir geschieden waren!«
Nun verhärtete sich Steffens Gesicht. »Das ist nicht verboten!«
»Nein, das ist es nicht, aber weißt du, wie sich das für mich anfühlt? Wie Verrat! Ich habe zu dir gehalten, weil ich dich geliebt habe, auch als meine Eltern mich dafür rauswarfen und drohten, mich zu enterben. Ich habe dir erzählt, was ich glaube, was geschehen ist, und du verbündest dich mit meinem Vater.«
»Was heißt hier verbünden? Ich habe dich doch auch geliebt, und ich wollte, dass alles wieder gut wird!«
»Ach ja? Indem du mich an den Mann verrätst, von dem ich glaube, dass er mir mein Kind genommen hat? Gibt’s noch etwas, das ich wissen sollte?«
Steffen hob beschwichtigend die Hände. »Hör mal, Ricarda!«
»Nein, ich höre jetzt nicht!«, fuhr sie ihn an. »Ich weiß, dass du dich auch jetzt noch mit Barbara triffst und auch das ist nicht verboten. Aber sie war mal meine Freundin und nicht deine, und ihr scheint ausgiebig über mich zu reden. Das habt ihr früher schon gemacht. Und du warst nicht umsonst immer in der Kneipe, in der sie damals gearbeitet hat.«
Steffen wollte widersprechen, doch dann sackte er resigniert in sich zusammen.
»Du warst dreiundneunzig in meiner Wohnung, als ich in Leipzig war«, begann Ricarda nun in etwas gemäßigterem Ton, obwohl es ihr alle Beherrschung abverlangte, nicht zu schreien. »Du hast in meinen Unterlagen gesucht!«
Steffen wich ihrem Blick aus und hob erklärend die Hand, doch er schwieg.
»Wer hat die Einäscherung veranlasst? Und wage es jetzt nicht, mich anzulügen!«
»Dein Vater riet mir dazu«, murmelte Steffen. Nun sah er endlich auf und schaute Ricarda ins Gesicht. »Dein Vater war es auch, der den Job in Leipzig vermittelt hat. Er meinte, so kämst du auf andere Gedanken.«
»Auf andere Gedanken!«, fauchte Ricarda. In dem Augenblick betrat ein älterer Mann das Pförtnerhaus und legte Steffen einen Ausweis auf den Tisch.
»Eine Verschwörung ist das. Mein Vater vermittelt den Job, Barbara ruft mich deshalb an. Ihr wolltet, dass ich weg bin aus Dresden, dass ich mich nicht mehr kümmern kann. Ihr alle!«
»Aber alles fing wieder von vorn an!«, klagte Steffen.
Der Mann sah sie irritiert an, nahm wortlos seinen Ausweis wieder an sich und verließ eiligen Schrittes die Pforte.
»Nein, Steffen, es fing nicht wieder an, es hat niemals aufgehört. Nur als ihr mich glauben ließet, es sei vorbei. Da habe ich euch vertraut, dir und auch Ines.«
»Aber da war ein Kinderskelett, Ricarda. Das musst du uns glauben. Ines hat es gesehen. Wir wollten nur, dass der Albtraum aufhört, dass du endlich ein richtiges Leben führen kannst. Niemand hat an irgendwelche DNA
-Tests gedacht. Wessen Kind sollte es denn auch sonst gewesen sein in dem Sarg?«
Ricarda wischte auch diesen Satz mit einer Handbewegung fort. »Wer ist IM
Rauch?«, fuhr sie ihren Exmann an.
»Was?«, fragte Steffen und reizte Ricarda damit beinahe bis zur Weißglut.
»IM
. Ein Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi«, erklärte sie sarkastisch. »IM
Rauch, weißt du, wer das war?«
Steffen starrte sie fassungslos an und schüttelte dann heftig den Kopf.
»Dann sage ich es dir. Das war Barbara! Sie war IM
Rauch. Sie hat Berichte über mich geschrieben. Detailgenau, von dem Tag an, als ich das Kind verlor, bis zur Wende! Ich habe meine Stasiakten eingesehen. Gerade eben. Ich habe sie dabei. Kopien! Hätte ich das nur vor zwanzig Jahren schon so machen können!«
»Barbara?«, fragte Steffen und wurde weiß im Gesicht.
»Ja, Barbara! Wer war IM
Quaste?«
Steffen raufte sich die Haare. »Ich weiß es nicht! Wirklich. Ich wusste auch nicht, dass Barbara …«, sagte er und seine Verzweiflung klang echt.
»Und IM
Elbhang?«
Steffen riss verzweifelt die Hände hoch. »Hör auf damit, Ricarda! Das weiß ich auch nicht!«
»Und IM
Knabe?«, fragte Ricarda unerbittlich weiter.
Steffen wollte sie jetzt an der Schulter fassen, wie er es früher schon immer getan hatte, wenn sie sich seiner Meinung nach in etwas hineingesteigert hatte. Ricarda schlug seine Hand weg und richtete ihren Zeigefinger auf ihn. Ihre Stimme war kalt und tonlos.
»Du warst das! Du warst IM
Knabe!«
Den ganzen Weg von der Behörde bis hierher, das gesamte Gespräch über hatte sie sich beherrschen müssen. Jetzt mussten die Worte raus. Doch diesen Verrat so klar beim Namen zu nennen, hatte sie aus der Fassung gebracht. Der Blick verschwamm ihr. Die Gewissheit, dass selbst das, was sie noch an guten Erinnerungen mit Steffen geteilt hatte, alle Erlebnisse, alle schönen Momente von nun an verloren waren, zog ihr einerseits den Boden unter den Füßen weg und schaffte andererseits eine Klarheit in ihr, wie sie sie noch nie zuvor im Leben verspürt hatte. Sie brachte kein Wort mehr heraus und wusste doch, das konnte auch nicht auf später verschoben werden, denn es würde kein Später mehr geben. Sie wischte ihre Tränen nicht weg und schämte sich ihrer auch nicht, als wieder ein Besucher die Pforte betrat und verstört innehielt.
»Komm!«, sagte Ricarda zu Claudia und ging durch die Tür, hinaus ins Freie. Sie atmete tief die frische Luft ein und spürte Claudias Arm, der sich um ihre Schultern legte. Gemeinsam gingen die Frauen zum Auto.
Erst im Auto suchte sie nach einem Taschentuch und presste es sich vor das Gesicht. Sie war wieder dort, wo sie mal angefangen hatte. Und sie konnte nicht einmal dankbar sein für die letzten zwei Jahrzehnte, in denen alles gut gewesen zu sein schien. Denn sie waren ein einziger Betrug, eine Lüge, nichts als eine Verschwörung gegen sie.
»Er kommt her!«, warnte Claudia, doch schon war Steffen an der Beifahrertür. Ricarda versuchte noch, sie zu schließen, doch sie verfehlte den Griff.
»Ricarda«, flüsterte Steffen und kauerte jetzt in der offenen Beifahrertür neben dem Auto. »Du musst das verstehen. Ich hatte doch keine Wahl. Die setzten mich unter Druck. Das war kein Spaß, wirklich. Und lies doch auch mal, was ich geschrieben habe. Nichts. Nur Alltägliches. Irgendwas Unbedeutendes. Irgendwann wollten sie gar keine Berichte mehr von mir.«
Ricarda sah ihn unter Tränen an. »Du hattest immer eine Wahl. Ich war deine Frau. Du hättest Nein sagen können. Andere haben das auch gemacht. Und selbst wenn nicht, du hättest es mir einfach sagen können, anstatt mich ein Leben lang zu belügen! Fahr bitte los, Claudia!«
Claudia startete den Motor und Ricarda zog energisch die Tür zu. Steffen war aufgestanden und zurückgewichen.
»Was hast du denn jetzt vor?«, rief er.
Ricarda ließ das Fenster hinunter. »Ich fahre jetzt zu meinem Vater. Und wage es nicht, ihn vorher zu informieren. Ich will jetzt wissen, was geschehen ist!«
Claudia war aus der Parklücke gefahren und steuerte auf die Ausfahrt zu. Die Leipziger Straße war frei, deshalb gab sie Gas. Doch Steffen lief ihnen noch ein Stück nach.
»Nichts ist geschehen!«, rief er ihnen nach. »Nichts!«