St. James’s Palace, Prinzessin Augustas Wohnzimmer
8. November 1761
Agatha hasste diese Treffen zum Tee.
Der Tee war exzellent. Das Gebäck göttlich. Die Gesellschaft? Viel zu königlich.
Natürlich konnte man nicht ablehnen, wenn die Mutter des Monarchen nach einem verlangte. Man ließ alles stehen und liegen, nahm sein schönstes Tageskleid aus dem Schrank und begab sich ohne Umwege zur wartenden Kutsche.
Die Dringlichkeit des Ganzen hatte immerhin einen kleinen Vorteil. Als die Vorladung eingetroffen war, war Lord Danbury gerade drauf und dran gewesen, sie zu bespringen. Das wenigstens war Agatha nun erspart geblieben. Denn selbst Danbury begriff, dass die Mutter des Königs Vorrang hatte.
»Wie reizend von Ihnen, dass Sie Zeit für mich gefunden haben«, sagte Prinzessin Augusta, sobald Agatha Platz genommen hatte.
»Wie freundlich von Euch, mich immer wieder einzuladen.«
Augusta redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Wie ich höre, haben Sie die Königin mehrfach besucht.«
Agatha nahm die Tasse entgegen, die das Dienstmädchen ihr reichte. Sie hatte nicht sagen müssen, wie sie ihren Tee bevorzugte. Die Bediensteten wussten es inzwischen.
»Wir gehen gern im Garten spazieren«, erwiderte sie.
Die Prinzessin beugte sich vor. »Also vertraut sie sich Ihnen an.«
»Ja.«
»Nun?«
Agatha beschloss zu lügen. »Sie und der König sind jetzt sehr glücklich miteinander.«
»Wirklich?«
Es war keine Frage, eher eine Bekundung von Zweifeln.
»In der Tat.« Agatha nippte an ihrem Tee. »Nach ein paar angespannten ersten Tagen haben sie wundervolle Flitterwochen genossen. Und die Krönung hat sie einander noch näher gebracht.«
»Sie sahen in der Abbey ganz reizend zusammen aus«, murmelte Prinzessin Augusta.
»Oh ja. Die Verkörperung glückseliger Zweisamkeit.« Wenigstens das war keine Lüge. Welche charakterlichen Fehler der König und die Königin auch haben mochten, keiner konnte ihnen nachsagen, schlechte Schauspieler zu sein. Beide hatten gelächelt und gewinkt, Händchen gehalten und geküsst … Wäre Agatha nicht gezwungen gewesen, sich Charlottes Klagen in allen Einzelheiten anzuhören, hätte selbst sie geglaubt, das königliche Paar sei bis über beide Ohren verliebt.
»Ich hasse ihn«, hatte Charlotte ihr erst am vergangenen Tag wieder mitgeteilt. »Er bringt mich zur Weißglut. Vor aller Welt tut er immer so unglaublich höflich, aber das ist eine einzige Lüge. Er ist ein verlogener Lügner, der …«
Lieber Gott, hilf mir, hatte Agatha gedacht.
»… lügt«, hatte Charlotte ihre Tirade beendet.
Agatha wusste, wie es sich anfühlte, in einer lieblosen Ehe auszuharren, daher versuchte sie, so hilfreich wie möglich zu sein. »Ihr werdet das überleben«, tröstete sie die Königin behutsam. Solange Ihr unerschütterlich bleibt in dem Bemühen …«
»… schwanger zu werden«, fiel Charlotte ihr gereizt ins Wort. »Ich weiß.«
Agatha öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch Charlotte war noch nicht fertig.
»Ich bin unerschütterlich. Ich bin sozusagen die Verkörperung der Unerschütterlichkeit. Ich bin standhaft «, bekräftigte sie auf Deutsch. »Ich bin inébranlable . Ich werde auch in einer vierten Sprache unerschütterlich sein, wenn Sie mir einen Übersetzer besorgen. Ich tue nichts anderes. Wir tun nichts anderes, als zu versuchen, ein Baby in mich hineinzubekommen.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Agatha, denn es klang wahrhaftig entsetzlich.
»Es ist ein Albtraum.«
»Ich weiß, dass es schwierig ist. Der Akt …« Agatha dachte daran, wie Lord Danbury in sie hineinrammte, wieder und wieder. Es war unbehaglich, es war unbequem, und es war weiß Gott todlangweilig. Sie war dazu übergegangen, im Kopf Einkaufslisten zusammenzustellen und Briefe zu entwerfen, während er sich austobte.
Und all das musste Charlotte unter den wachsamen Blicken einer ganzen Nation erdulden. Natürlich nicht buchstäblich , trotzdem. Die Königin hatte zwar Macht, aber keine Privatsphäre. Alles, was sie machte, wurde kommentiert, auseinandergenommen und umgekrempelt.
Agatha hätte nicht mir ihr tauschen wollen, und das wollte einiges heißen. Immerhin war sie mit Herman Danbury verheiratet.
»Ich hasse alles an ihm«, nahm Charlotte ihr Klagen wieder auf. »Ich hasse sein lächerliches Gesicht. Ich hasse seine Stimme. Ich hasse es, wie er atmet .«
Wie er atmet? Perplex hob Agatha die Brauen. Das war wohl doch etwas übertrieben, oder? »Eure Majestät, Ihr könnt doch unmöglich …«
»Es ist untragbar«, fuhr Charlotte auf. »Ich kann nicht … Er …« Phhhrr, Brrrr, Phhhr, Prrrrrr, Shhhh, Shhhush .
Entsetzt starrte Agatha die Königin an, deren ruckartige Bewegungen sie zucken ließen wie eine Marionette. »Eure Majestät«, fragte sie vorsichtig, »geht es Euch nicht gut?«
»So atmet er!« Charlotte schrie jetzt praktisch.
Der König atmete definitiv nicht so, doch Agatha war zu klug, als dass sie es in dem Moment angemerkt hätte.
Genau wie sie jetzt zu klug war, ihre gestrigen Erlebnisse mit Prinzessin Augusta zu teilen.
»Zeigt sie irgendwelche Anzeichen einer Schwangerschaft?«, wollte die Prinzessin wissen. »Können wir bald mit einem Baby rechnen?«
Agatha unterließ es, darauf hinzuweisen, dass der König und die Königin kaum zwei Monate verheiratet waren. Selbst wenn Charlotte so schnell schwanger geworden war, gäbe es noch keine sichtbaren Hinweise darauf. »Mir ist nichts aufgefallen«, erwiderte sie stattdessen.
»Achten Sie sorgfältig darauf«, wies Augusta sie an. »Es besteht einiger Druck.«
Das war interessant. »Seitens Lord Butes?«, erkundigte sich Agatha betont beiläufig.
»Wer den Druck ausübt, ist nicht Ihre Angelegenheit.«
Agatha wartete. Eins, zwei …
»Ja, Lord Bute«, bestätigte Prinzessin Augusta gereizt. »Wir brauchen ein Baby. Ein königliches Baby gibt dem Volk einen Grund zu feiern. Der gesamten Nation. Es setzt für alle ein Zeichen der Liebe und sichert den Fortbestand der Blutlinie.«
»Natürlich.«
Wieder beugte Augusta sich vor, wenn auch höchstens zwei Zentimeter. »Ein Baby besiegelt das Große Experiment. Damit dürfen wir nicht scheitern.«
Agatha erkannte ihre Chance. »Vielleicht würde ja ein Ball dem Großen Experiment helfen«, schlug sie vor.
»Ein Ball?«
»Ja. Lord Danbury und ich würden gern den ersten Ball der Saison geben.«
Streng genommen entsprach das nicht ganz der Wahrheit. Lord Danbury war äußerst erpicht darauf, den ersten Ball der Saison zu geben. Agatha hielt es für eine schreckliche Idee. Danbury war sicher, dass die feine Gesellschaft gerne käme, nachdem er nun eine Mitgliedschaft im »White’s« ergattert hatte, doch sie wusste es besser. Der größte Teil des ton – wohlgemerkt des alten ton – würde eine Einladung der Danburys ablehnen. Sie würden gurren und girren, ein falsches Lächeln aufsetzen und Dinge sagen wie: Wir sind untröstlich, das zu versäumen . Und sich dann zur selben Zeit woanders versammeln und ausschütten vor Lachen.
Agatha hatte ihren Mann davor gewarnt, dass Prinzessin Augusta seinen Plan vermutlich nicht gutheißen würde. Er hatte so niedergeschlagen reagiert, dass es ihr fast das Herz gebrochen hatte. »Sie wedeln mit dem Glück vor meiner Nase herum und lassen es mich doch nie greifen«, hatte er gesagt und dabei furchtbar traurig und verzagt ausgesehen.
Obwohl sie ihn in vielerlei Hinsicht nicht ausstehen konnte, fühlte Agatha sich bemüßigt, ihn wieder aufzubauen. »Du bist genauso gut wie sie«, hatte sie ihm versichert.
Weil es stimmte. Die Eigenschaften, die Herman zu einem grässlichen Gatten machten, trafen auf alle Männer zu, zumindest soweit Agatha es beurteilen konnte. Und sie ertrug es nicht, wenn ihm vermittelt wurde, allein aufgrund seiner Hautfarbe weniger wert zu sein als die anderen.
Deshalb hatte sie ihm versprochen, es zu versuchen. Vielleicht würde sie sogar Erfolg haben. Immerhin hatte sie die Mutter des Königs bereits dazu überredet, ihnen Grundbesitz zu überschreiben. Wie schwierig konnte es sein, ihr eine Party abzuringen?
»Eure Königliche Hoheit«, fuhr sie mit aller gebotenen Ehrerbietung fort, »für mich als Hofdame der Königin wäre es doch durchaus angemessen, den ersten Ball der Saison zu veranstalten. Und für den ton wäre es ein erhebendes Zeichen der Vereinigung, findet Ihr nicht auch?«
Schon während Agatha gesprochen hatte, hatte die Prinzessin den Kopf geschüttelt. »Den ersten Ball der Saison? Bei Ihnen? Nein. Das würde niemals akzeptiert werden.«
Agatha hatte ein weit behüteteres Leben geführt als ihr Mann. Die giftigen Seitenhiebe und zermürbenden Verletzungen, die sich Tag für Tag summierten, bis klaffende, eiternde Wunden daraus wurden, hatte sie nie erfahren.
Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie sich nie in die Schusslinie begeben hatte. Anders als Danbury hatte sie nie versucht, in Institutionen zu gelangen, in denen man sie, wie sie wusste, niemals als gleichwertig anerkennen würde. Sie war nie auf Schulen gegangen, wo man auf sie herabgeschaut hätte, und hatte auch keine Bank betreten, in der man ihr Geld zwar gerne nahm, ihr aber keinen Tee anbot.
Nun wies Prinzessin Augusta sie ab, ohne sich ihre Argumente zu Ende anzuhören. Sie sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht gut genug war – dass die Danburys nicht gut genug waren, dass der gesamte neue ton nicht gut genug war.
Und das war inakzeptabel.
Agatha stellte ihre Tasse ab. Es war an der Zeit, etwas direkter vorzugehen. »Eure Hoheit, ich weiß, dass Ihr unsere Verabredungen zum Tee gerne fortsetzen würdet. Schließlich wäre es äußerst peinlich für Euch, wenn Ihr erst nachträglich von der Schwangerschaft der Königin erfahren würdet, nicht wahr?«
Die Prinzessin seufzte.
Agatha griff wieder nach ihrer Tasse. Sie brauchte sie, um ihr Lächeln dahinter zu verstecken.
»Ich werde mit Lord Bute darüber reden«, erwiderte Augusta.
Verdammt. Agatha wusste, was das bedeutete. Es würde keine Erlaubnis geben. Sie musste eine Entscheidung treffen.
Dafür brauchte sie drei Sekunden.
Die Danburys würden den ersten Ball der Saison geben. Sie musste nur sicherstellen, dass die Einladungen ausgeliefert wurden, bevor Prinzessin Augusta Gelegenheit erhielt, die Angelegenheit mit Lord Bute zu besprechen.
Violett, dachte sie, während die Kutsche sie wieder nach Hause brachte. Violett hatte sie schon immer gemocht. Es wäre eine wundervolle Farbe für die Dekorationen. Violett, kombiniert mit Silber und Weiß. Sie sah es praktisch schon vor sich.
Dabei würde es allerdings wohl auch bleiben. Lord Danbury dürfte darauf bestehen, das Haus in Gold zu dekorieren. Das war seine Lieblingsfarbe.
Aber das spielte keine Rolle. Es war nur eine kleine Schlacht, bedeutungslos, wenn man das große Ganze im Blick behielt. Sollte Herman doch glauben, die Kontrolle zu haben. Agatha störte es meistens nicht weiter, ihm diese Fantasie zu gestatten.
Schließlich kannte sie die Wahrheit. Sie mochte das Große Experiment nicht erdacht haben, aber nun trug sie die Verantwortung dafür. Und sie würde nicht zulassen, dass es scheiterte.
Buckingham House
15. November 1761
Eine Woche später fühlte Agatha sich nicht mehr ganz so selbstsicher. Die Antworten auf die Einladungen zum Danbury-Ball begannen einzutreffen, und bislang hatte kein einziges Mitglied des alten ton zugesagt.
Prinzessin Augusta hatte sie sogar offiziell gebeten, die Veranstaltung abzusagen.
Nun, gebeten war vielleicht nicht ganz das richtige Wort. »Ihr Ball wird der Ruin des Großen Experiments sein«, hatten ihre Worte gelautet. »Sie werden ihn absagen.«
Am schlimmsten war, dass sie nicht unrecht hatte. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Danburys den ersten Ball der Saison gaben und nur die Hälfte des ton daran teilnahm. Das würde alle Unkenrufer in ihrer Meinung bestätigen, dass man die Gesellschaft nicht einen könne und jeder Versuch sinnlos sei.
Königin Charlotte bekam von alldem nichts mit. Sie gab sich keine Mühe, über die hübschen Mauern ihres Palastes hinauszublicken und die britische Gesellschaft zu verstehen. Agatha versuchte, sich nicht darüber zu ärgern. Das arme Mädchen war fast noch ein Kind. Sie war ihrer Heimat entrissen worden, um einen Fremden zu heiraten, und sollte nun eine ganze Kultur verändern.
Was ihr allerdings niemand gesagt hatte .
Es hätte lustig sein können, wäre es nicht so grässlich gewesen. Großbritannien stand am Rande von etwas wahrhaft Großartigem und Erhebendem, weil ein junges Mädchen mit brauner Haut zur Königin erkoren worden war.
Aber sie wusste nichts davon. Charlotte hatte keine Ahnung, dass sie für Tausende ein Symbol der Hoffnung und des Aufbruchs war. Nein, kein Symbol. Sie war die Hoffnung und der Aufbruch.
Agatha bemühte sich um Geduld. Charlotte verdiente ein wenig Zeit, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Sie war erst siebzehn.
Agatha dagegen – und der Rest des neuen ton – hatte keine Zeit. Das Große Experiment fand jetzt statt.
Prinzessin Augusta redete gern darüber, wie bedeutungsvoll das alles war und dass der Palast standhaft bleiben musste in seiner Mission, die Gesellschaft zu vereinen. Natürlich wusste Agatha, dass die Prinzessin sich in Wahrheit nicht um das Schicksal der Danburys, der Bassets oder der Smythe-Smiths scherte. Sie wollte bloß nicht scheitern. Augusta legte allein deshalb Wert darauf, dass das Große Experiment ein Erfolg wurde, weil sie diejenige war, die es initiiert hatte. Nichts war der Mutter des Königs wichtiger als der Ruf der königlichen Familie.
Doch für Agatha und Lord Danbury, für die Bassets, die Smythe-Smiths und so viele andere ging es allerdings um mehr als ihren Ruf. Es ging um ihr Leben.
Agatha musste dafür kämpfen. Es führte kein Weg daran vorbei.
Daher machte sie sich zum ersten Mal unaufgefordert auf den Weg nach Buckingham House. Niemand hatte mit ihrer Ankunft gerechnet, als sie durch die große Säulenvorhalle schritt und den Butler wissen ließ, dass sie gekommen war, um die Königin zu sehen.
Sie konnte selbst kaum glauben, dass dies nun ihr Alltag war, dass sie jederzeit einen königlichen Palast betreten konnte, und zwar mit der Zuversicht, empfangen zu werden. Agatha hätte gern geglaubt, dass diese Ungläubigkeit nichts mit ihrer Hautfarbe zu tun hatte. Gewiss wäre jeder erstaunt, sich plötzlich auf so vertrautem Fuße mit dem britischen Königshaus wiederzufinden.
Und doch war sie nun hier.
»Lady Danbury.«
Vor ihr stand Brimsley, der Lieblingsdiener der Königin.
»Die Königin weilt in der Bibliothek«, informierte er sie. »Ich führe Sie zu ihr.«
»Liest sie gerade?«, erkundigte sich Agatha im Plauderton, während sie durch die langen, eleganten Flure von Buckingham House schritten. »Sie erwähnte, dass sie sich verstärkt mit englischsprachiger Lektüre beschäftigen möchte. Sie sagte, dass sie immer noch meist auf Deutsch denkt.«
»Über ihre Gedanken vermag ich nicht zu spekulieren«, erwiderte Brimsley. »Aber nein, sie liest nicht.«
»Oh. Was macht sie dann?«
Er räusperte sich. »Sie genießt die Aussicht.«
»In der Bibliothek?«
»Eins der Fenster bietet einen Blick auf den Gemüsegarten, Mylady.«
»Den Gemüsegarten«, wiederholte Agatha. Sie glaubte, sich verhört zu haben.
»Ja.« Brimsley nickte bekräftigend.
»Wie anregend.«
»Sie findet es anregend.«
Royals, dachte Agatha. Sie würde diese Leute nie verstehen.
Als sie die Bibliothek betraten, stand die Königin in der Tat an einem der Fenster, so dicht vor der Scheibe, dass sie sich praktisch ans Glas presste.
»Lady Agatha Danbury, Eure Majestät«, meldete Brimsley.
»Wir waren für heute nicht verabredet«, sagte Charlotte, ohne sich umzuwenden.
»Ich hoffte, ohne die anderen Hofdamen mit Euch sprechen zu können.«
»In Ordnung.« Noch immer vollkommen auf die Szenerie vor dem Fenster konzentriert, winkte die Königin sie näher.
»Es geht um den Ball, den ich veranstalte«, erklärte Agatha.
»Sie veranstalten einen Ball. Wie nett.«
Das klang vollkommen desinteressiert. Doch so schnell ließ Agatha sich nicht abwimmeln.
»Ich weiß, dass Ihr nicht teilnehmen werdet«, fuhr sie fort, »da der König keine gesellschaftlichen Zusammenkünfte besucht.«
»Ist das nicht seltsam?« Endlich wandte Charlotte sich zu ihr um. »Kennen Sie den Grund dafür?«
»Nein, ich …«
Schon starrte Charlotte wieder aus dem Fenster. Was um alles in der Welt sah sie dort? Agatha trat neben die Königin und spähte ebenfalls nach draußen. Da war nichts. Nur Beete und … noch mehr Beete. Die Königin schaute buchstäblich dem Kohl beim Wachsen zu. Agatha atmete tief durch.
»Mein Ball«, sagte sie lapidar. »Ich wollte fragen, ob Ihr die anderen Hofdamen dazu ermutigen könntet, ihn zu besuchen.«
»Haben Sie sie denn nicht eingeladen?«
»Doch.«
»Wo liegt dann das Problem?«
Agatha rief sich in Erinnerung, dass Charlotte jung war. Und an einem fremden Ort. In einem fremden Land. Da musste man ihr verzeihen, wenn sie sich so unfassbar begriffsstutzig zeigte. »Eure Majestät«, begann sie in geduldigem Ton, »sie werden nicht kommen, wenn …«
»Da ist er«, rief Charlotte.
Beinahe hätte Agatha aufgestöhnt.
Charlottes ganzes Gesicht verzog sich, so schnell rutschte sie an der Scheibe nach links, um einen besseren Blick zu erhaschen, auf …
Agatha lugte an ihr vorbei.
… den König?
Jetzt schüttelte Charlotte den Kopf. »Arbeitet er tatsächlich im …? Ich glaube, er arbeitet tatsächlich im Garten.«
»Eure Majestät?«
»Da ist George«, erklärte Charlotte. Sie klang vollkommen verwirrt. »Er gärtnert. Mit seinen eigenen Händen. Warum tut er das? Dafür gibt es doch Leute.« Sie drehte sich zu Agatha um. »Wir haben viele Dienstboten.«
»Eure Majestät«, stieß Agatha zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »um noch mal auf den Ball …«
»Ich dachte, dass es vielleicht eine Finte ist, aber er geht jeden Tag in diesen Garten. Das ist so merkwürdig.«
Allmächtiger! Agatha konnte sich nicht länger beherrschen.
»Eure Majestät«, sagte sie scharf und baute sich zwischen der Königin und dem Fenster auf. »Bitte.«
»Was soll das denn?«
»Prinzessin Augusta hat mich aufgefordert, meinen Ball abzusagen.«
Ungeduldig zuckte Charlotte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was das mit mir zu tun haben könnte. Wenn Prinzessin Augusta Sie bereits aufgefordert hat …«
»Ihr seid die Königin«, fiel Agatha ihr ins Wort. »Und mir ist klar, dass Ihr Euch über derlei erhaben fühlt. Wenn Ihr nicht die Königin wärt …«
»Die ich allerdings bin«, erklärte Charlotte schlicht.
Agatha unterdrückte den Drang, sie zu würgen. »Aber wenn Ihr es nicht wärt, dann würde sich Euer Leben hier vollkommen anders gestalten. Versteht Ihr nicht? Ihr seid die Erste Eurer Art. Ihr habt Türen geöffnet. Und uns zu den Ersten unserer Art gemacht.«
Schweigend schaute Charlotte sie an.
»Ihr habt unsere Situation verändert.« Agatha nahm jetzt kein Blatt mehr vor den Mund. »Wir sind neu. Könnt Ihr uns nicht sehen? Und das, was Ihr für uns tun sollt? Ich sage Euch, dass Ihr Eure Ehe vollziehen müsst. Ich sage Euch, dass Ihr schwanger werden müsst. Ich sage Euch, dass Ihr durchhalten müsst. Und all das sage ich Euch aus einem ganz bestimmten Grund .«
Agatha wagte einen kurzen Seitenblick auf Brimsley, um zu eruieren, ob er einschreiten würde. Sie bewegte sich auf sehr dünnem Eis. Doch der Leibdiener der Königin unternahm nichts, und Agatha wurde noch kühner.
»Ihr seid so absorbiert von der Frage, ob ein Mann Euch mag. Aber Ihr seid kein albernes, schwärmendes Mädchen. Ihr seid unsere Königin. Euer Fokus sollte auf Eurem Land liegen. Auf Euren Untertanen. Ihr müsst auf unserer Seite sein. Warum begreift Ihr nicht, dass Ihr unser Schicksal in Händen haltet? Bitte, Ihr müsst über diesen Raum hinausblicken.« Sie deutete durchs Fenster auf den König, der wirklich und wahrhaftig Beete hackte. »Ihr müsst über diesen Garten hinausblicken.«
Charlotte sagte nichts.
Agatha tat das Einzige, was ihr zu tun blieb. Sie knickste. »Die Mauern Eures Palastes sind zu hoch, Eure Majestät.«