Buckingham House
Ein paar Stunden später
Es war so weit. Das Baby kam, und es würde, Gott war sein Zeuge, die leichteste Geburt in der Geschichte der Menschheit werden.
Er war König. Das musste doch für irgendwas gut sein.
Man hatte Charlotte in ihr Schlafgemach geführt, das mit aller gebotenen Sorgfalt in ein Entbindungszimmer verwandelt worden war. George hatte es nur kurz gesehen, dann war er hinausgescheucht worden, von so ungefähr jedem Anwesenden.
Doch er lauschte an der Tür. Und wenn hin und wieder ein Dienstmädchen herauskam, um Handtücher oder Tee oder Ähnliches zu holen, wurde das arme Ding vom König einer hochnotpeinlichen Befragung unterzogen.
Eins oder zwei waren unter Tränen weggelaufen.
Aber zumindest blieb er so immer auf dem neuesten Stand.
Charlotte ging es gut. Aber sie hatte Schmerzen. Aber das war normal. Aber sie hatte Schmerzen.
Aber noch mal, Eure Majestät, das ist völlig normal. Und sie erträgt es wie eine Königin .
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragte er scharf.
Das Dienstmädchen brach in Tränen aus. Da waren es schon drei.
In diesem Moment gelangte er zu dem Schluss, dass der Hofarzt längst hätte hier sein müssen, um ihr beizustehen. Sie war, verdammt noch mal, die Königin von Großbritannien und Irland. Jeder Mediziner des Landes sollte jetzt an ihrer Seite sein.
Außer Doktor Monro, aber das verstand sich wohl von selbst.
Auf der Suche nach Reynolds marschierte er den Flur entlang. Der Kammerdiener war der Einzige, dem George an diesem Punkt noch vertraute, abgesehen vielleicht von Brimsley, aber aus irgendeinem Grund war Brimsley gestattet worden, im Entbindungszimmer zu bleiben. Dort stand er seit vier Stunden mit dem Gesicht zum Fenster, hatte man George berichtet.
»Reynolds«, brüllte er.
Zwei Lakaien stürmten auf ihn zu.
»Aus dem Weg!«, donnerte George.
Die Lakaien ergriffen die Flucht.
Als George um eine Ecke schlitterte, stieß er fast mit Reynolds zusammen.
»Wo ist der Doktor?«, fragte er. »Warum ist er noch nicht da? Sie kann das nicht ohne einen Arzt machen. Opium! Sie braucht Opium!«
»Ich habe Euch gesucht, um Euch mitzuteilen, dass der königliche Hofarzt soeben eingetroffen ist. Ich glaube, er ist jetzt bei Ihrer Majestät.«
George benötigte eineinhalb Sekunden, um diese Information zu verarbeiten, dann drehte er auf dem Absatz um und rannte zurück zu Charlottes Schlafzimmer. Vor dessen Tür jetzt plötzlich mehrere Männer herumlungerten. Großer Gott! Gab es denn gar keine Privatsphäre mehr?
»Eure Majestät«, riefen die Männer im Chor.
George versuchte, sie alle zu begrüßen. »Erzbischof. Premierminister. Lord Bute. Hallo. Danke, dass Sie gekommen sind. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.« Er schob sich an ihnen vorbei, um mit dem Arzt zu reden, doch der Erzbischof hielt ihn zurück.
»Eure Majestät«, mahnte Lord Bute. »Ihr wollt doch gewiss nicht ins Entbindungszimmer gehen. Was da drin passiert, ist Frauenangelegenheit.«
»Wir werden hier draußen warten«, verkündete der Erzbischof heiter.
»Gut.« George trommelte nervös mit den Händen gegen seine Beine. »Ja.«
Er lief auf und ab. Er schaute Hilfe suchend zu Reynolds. Lief weiter. Zuckte zusammen, als ein gellender Schrei ertönte.
»Charlotte«, flüsterte er und stürzte auf die Tür zu.
Diesmal war es Reynolds, der ihm eine Hand an den Arm legte, um ihn aufzuhalten. »Das ist ganz normal«, erklärte er mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme.
»Und woher wollen Sie das wissen?«
»Äh, ich habe Dinge gehört.«
»Sie haben Dinge gehört«, wiederholte George ungehalten.
»Ich habe zwei Schwestern. Sie haben Kinder.«
»Ach, und Sie waren bei den Geburten dabei, was?« George hatte keine Ahnung, warum er sich Reynolds gegenüber so unleidlich verhielt. Vermutlich musste er einfach irgendwen anfahren, und dafür konnte er schlecht den Erzbischof wählen.
»Nein«, erwiderte Reynolds auf seine unerschütterlich gleichmütige Art. »Aber beide Schwestern sind ausgesprochen redselig, und so wurde ich über jedes noch so kleine Detail informiert.«
Ein weiterer Schrei, wenn auch vielleicht nicht ganz so grell wie der erste.
»Das kann nicht normal sein«, beharrte George.
Reynolds öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch in diesem Moment wurde die Tür zum Entbindungszimmer geöffnet, und Lady Danbury streckte ihren Kopf heraus.
Sehr zu Georges Überraschung. Wann war sie eingetroffen?
»Eure Majestät«, sagte sie. »Sie fragt nach Ihnen.«
»Er darf da nicht rein«, mischte der Erzbischof sich ein.
Lady Danbury schaute George eindringlich an. »Eure Majestät.«
George wandte sich an den Erzbischof. »Gefällt es Ihnen, der Erzbischof von Canterbury zu sein? Würden Sie gern noch länger der Erzbischof von Canterbury bleiben?«
Indigniert senkte der Erzbischof das Kinn. »Eure Majestät …«
George beugte sich so weit vor, dass er praktisch Nase an Nase mit dem Geistlichen stand. »Glauben Sie, Sie können Erzbischof bleiben, wenn Sie sich dem Oberhaupt der Church of England widersetzen? AUS DEM WEG !«
Die Mundwinkel des Erzbischofs senkten sich so weit, dass er einer misslaunigen Schildkröte glich. Er murmelte etwas Zustimmendes und trat beiseite.
»Hier lang, Eure Majestät.« Lady Danbury führte ihn an Charlottes Bett.
»Mein Liebling!« Er nahm ihre Hand. »Ich bin jetzt hier.«
Sie schenkte ihm das zittrigste aller Lächeln. »Ich will das nicht machen.«
»Zu spät, fürchte ich.« Er lächelte ebenfalls, bemüht, ihr durch gute Laune Kraft zu geben. »Aber ich bin bei dir. Und wenn ich könnte, würde ich die Schmerzen auf mich nehmen.«
»Vielleicht wäre das ja ein neues wissenschaftliches Experiment«, schlug Charlotte vor.
»Ich mache mich sofort an die Arbeit«, versuchte George zu scherzen, und sie lachten beide, was half, die Zeit zu überbrücken, bis Charlotte von einer weiteren Wehe überwältigt wurde.
»Aaaaaaahhhh!«, stöhnte sie.
»Gibt es nichts, was man gegen ihre Schmerzen tun könnte?«, fragte George.
»Ich habe ihr bereits Laudanum gegeben«, sagte der Arzt. »Aber ich wage nicht, noch mehr davon zu verabreichen. Die Dosierung muss sorgfältig abgewogen werden.«
George drehte sich zu Lady Danbury um. »Vielleicht etwas, auf das sie beißen kann. Würde das helfen? Sie haben das schon durchlebt, nicht wahr?«
»Vier Mal, Eure Majestät«, bestätigte Lady Danbury.
»Und? Was denken Sie?«
Lady Danbury warf einen Seitenblick auf den Doktor. »Sie verliert Blut.«
»Ist das normal?«, wollte George wissen.
»Ja«, erwiderte Lady Danbury zögernd. »Aber das hier kommt mir ziemlich viel vor.«
»Doktor«, blaffte George. »Was ist los? Warum ist da so viel Blut?«
»Eine Frau muss während der Geburt Blut verlieren«, erklärte der Arzt herablassend. »Das ist Teil der …«
»Ich kenne mich mit Anatomie aus«, fiel George ihm bissig ins Wort. »Ich will wissen, warum sie so viel Blut verliert.«
Der Arzt beugte sich zwischen Charlottes gespreizte Beine, drückte auf ihren Bauch und griff dann in sie hinein. George verzog das Gesicht. Jede Handlung des Doktors versetzte Charlotte in gequältes Wimmern.
»Das Baby ist in Steißlage«, verkündete der Arzt schließlich. »Wir müssen die naturgegebene Entwicklung abwarten.«
»Wie lange wird das dauern?«
Der Doktor zuckte mit den Schultern. »Das kann man nie genau vorhersagen. Es ist bei jeder Gebärenden anders.«
George blickte fragend zu Lady Danbury. Die schüttelte den Kopf.
»Das ist alles ganz natürlich«, beharrte der Doktor. »Völlig normal.«
»Doktor«, widersprach George, »wenn wir alle Entscheidungen der Natur überließen …«
Wieder stieß Charlotte einen Schrei aus. George eilte zurück an ihre Seite und tupfte ihren Hals und ihre Stirn mit einem kühlen Tuch ab.
»Nein, Charlotte«, versuchte er, sie zu necken. »Das geht so nicht. Du weckst die Nachbarn.«
»Von denen wir ja auch so viele haben«, murmelte sie.
»Du machst das sehr gut.« Er drückte ihre Hand. Dass sie in einem solchen Moment scherzen konnte … Sie war großartig. Das hatte er sofort erkannt, gleich als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Doch jetzt brauchte sie seine Hilfe.
Erneut wandte er sich dem Arzt zu. »Ich hatte als Junge ein Lieblingspferd. Bei seiner Geburt war es in Steißlage, und die Pferdeknechte, sie … Ich habe es auch bei Schafen gesehen, bei Kälbern … Es gibt Möglichkeiten, der Natur in solchen Situationen auf die Sprünge zu helfen. Das Baby zu drehen. Das stimmt doch, oder?«
Entsetzt starrte der Mediziner ihn an. »Ja, es gibt Methoden. Aber bei einer königlichen Patientin …«
»Bereiten Sie das vor!«, befahl George. »Auf der Stelle!«
»Eure Majestät, sie ist weder ein Pferd noch ein Schaf.«
»Wir sind alle Tiere, Doktor, und mir ist sonnenklar, dass dieses Baby da rausmuss. Wenn wir das mit einem Kalb oder Lamm hinkriegen, dann lässt es sich doch gewiss auch mit einem winzigen Menschen machen.«
»Wie kann ich helfen?«, fragte Lady Danbury.
»Wir beide werden sie festhalten, während der Doktor arbeitet.«
Sie nickte und kam rasch an seine Seite.
»Ich glaube, wir müssen dich ein Stück bewegen«, sagte er zu Charlotte. »Nur bis zur Bettkante. Leg deine Arme um meinen Hals.« Er schaute Lady Danbury an. »Stützen Sie ihre Schultern.«
»Ich bin bereit«, verkündete der Arzt.
»Ich nicht«, schrie Charlotte.
»Doch, meine Liebste, das bist du«, versicherte George. »Weißt du noch? Zusammen. Zusammen können wir alles schaffen.«
»Ihr seid die stärkste Frau, die ich kenne«, pflichtete Lady Danbury ihm bei.
»Und du wärst damals problemlos über die Gartenmauer gekommen, wenn du nicht all diese Röcke getragen hättest«, ergänzte George. »Auch wenn ich sehr froh bin, dass es dir nicht gelungen ist.«
»Ihr müsst mir ein paar deutsche Flüche beibringen«, verlangte Lady Danbury.
»Was?«, fragte Charlotte.
Lady Danbury suchte Georges Blick und zwinkerte. Sie arbeiteten gut zusammen, wenn es darum ging, Charlotte abzulenken, während der Arzt das Baby drehte.
»Sie denkt sich gerne Wörter aus«, informierte George sie. »Wussten Sie das?«
»Das wusste ich tatsächlich. Es ist wohl so eine deutsche Sache.«
»Es ist eine deutsche Sache«, stieß Charlotte gepresst hervor.
»Auch das könntet Ihr mir beibringen«, entgegnete Lady Danbury.
»Warum wollen Sie … AUA ! … Deutsch lernen?«, keuchte Charlotte.
»Oh, um meinen Horizont zu erweitern. Außerdem sind wir Freundinnen. Wäre es nicht amüsant, eine Geheimsprache zu haben?«
»Nicht besonders geheim«, wandte George ein. »Der halbe Palast spricht Deutsch.«
»Fast geschafft«, sagte der Doktor.
Gott sei Dank, dachte George.
»Habt Ihr das gehört?«, fragte Lady Danbury. »Er ist fast fertig, Eure Majestät. Bald werdet Ihr …«
»So«, verkündete der Arzt. »Das Baby ist gedreht.«
Alle sanken vor Erleichterung in sich zusammen.
»Was jetzt?«, wollte George wissen.
»Wir warten darauf, dass es wie jedes andere Baby zur Welt kommt.«
»Ist das Ihr Ernst?«, schrie George ihn an.
»Ich bin ganz sicher, dass es nun nicht mehr lange dauert«, beteuerte der Doktor.
Und er sollte recht behalten. Dreißig Minuten später hielt George seinen neugeborenen Sohn im Arm. »Er ist perfekt, Charlotte. Möchtest du ihn halten?«
Sie nickte.
Vorsichtig legte George das Baby in ihre Arme. Dann drehte er sich zu Lady Danbury um, der er in diesem Moment mehr Vertrauen entgegenbrachte als dem Doktor. »Denken Sie, dass jetzt alles in Ordnung ist?«
»Ja. Die Nachgeburt ist gekommen, und die Blutung hat aufgehört.« Sie sah verstohlen zum Arzt und dann wieder zu George. »Darf ich offen sprechen, Eure Majestät?«
»Selbstverständlich.«
Sie senkte die Stimme. »Ich glaube, Ihre Majestät – und Seine kleine Hoheit – könnten Euch ihr Leben verdanken. Ich bin keine Expertin für Entbindungen …«
»Abgesehen davon, dass Sie es vier Mal getan haben«, warf George ein.
»Abgesehen davon, dass ich es vier Mal getan habe«, wiederholte sie lächelnd. »Doch Frauen reden darüber. Ich höre Geschichten. Eine Gebärende kann nicht endlos in den Wehen liegen, wenn das Baby in Steißlage ist. Es war höchste Zeit, etwas zu unternehmen.«
George schluckte. Er war nicht sicher, ob ihre Worte sein Selbstvertrauen stärkten oder nacktes Entsetzen auslösten. Wie leicht hätte alles schiefgehen können. »Vielen Dank, dass Sie hier sind«, sagte er. »Sie waren eine gigantische Hilfe für die Königin. Und für mich.«
Ihre Augen weiteten sich, doch sie akzeptierte das Kompliment mit einem liebenswürdigen Nicken. Dann deutete sie zur Tür. »Ich glaube, da draußen sind ein paar Leute, die den neuen Prinzen gern kennenlernen würden.«
George hob fragend die Brauen.
»Eure Mutter«, präzisierte Lady Danbury. »Und der Bruder Ihrer Majestät.«
»Ah. Nun, dann sollte ich sie wohl besser nicht warten lassen.«
»Nein«, bestätigte Lady Danbury. Um ihren Mund spielte ein kleines, wissendes Lächeln.
»Ah, wie ich sehe, haben Sie bereits Bekanntschaft mit meiner Mutter geschlossen«, bemerkte George.
»Sie hat mich ein paarmal zum Tee eingeladen«, bestätigte Lady Danbury.
»Wir werden sie nicht los, bevor sie das Baby gesehen hat, und ich möchte sie nicht hier ins Zimmer bitten. Charlotte braucht Ruhe. Wären Sie so nett, bei ihr zu bleiben, während ich den Prinzen mitnehme?«
»Selbstverständlich.«
George beugte sich über Charlotte und küsste sie auf die Stirn. »Darf ich ihn für einen Moment ausleihen?«
»Ja«, murmelte Charlotte. »Ich bin tatsächlich ziemlich müde.«
»Ruh dich aus. Lady Danbury bleibt bei dir, während ich unseren Sohn meiner Mutter und deinem Bruder präsentiere.«
Charlotte nickte schläfrig und schloss die Augen. Vorsichtig hob George das gewickelte Baby hoch und trug es in den Flur hinaus, wo Augusta und Adolphus warteten.
»Mein Enkelsohn«, rief Augusta entzückt.
»Er ist prachtvoll«, sagte Adolphus. »Wie geht es Ihrer Majestät?«
»Sie gönnt sich eine wohlverdiente Ruhepause«, erwiderte George.
Augusta beugte sich über das winzige Bündel. »Ist er gesund? Oh, ich wünschte, ich könnte seine Finger und Zehen zählen.«
»Ich versichere dir, dass es jeweils zehn sind. Und das Kindermädchen hat mich ermahnt, ihn unter keinen Umständen aus seinen Schichten zu nehmen.«
»Die scheinen mir aber auch besonders kunstvoll gewickelt zu sein«, scherzte Adolphus.
Augusta starrte in das Gesicht des kleinen Prinzen. »Wie schön er ist.« Dann warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf Adolphus, wandte sich an ihren Sohn und senkte die Stimme zu einem Flüstern: »Gibt es irgendwelche Anzeichen von …«
»Wovon, Mutter?«, fragte George herausfordernd.
Augusta schien sich Adolphus’ Präsenz allzu sehr bewusst zu sein, als dass sie deutlicher geworden wäre. »Ich frage ja nur …« war alles, was sie sagte.
»Er ist unser nächster König.« George schaute seiner Mutter direkt ins Gesicht. »Könnte er etwas anderes sein als perfekt?«