AGATHA

St. James’s Palace,
Prinzessin Augustas Wohnzimmer
21. September 1762

»Ich bin überrascht, Sie schon so bald wiederzusehen«, sagte die Prinzessin. »Haben Sie Neuigkeiten?«

»Neuigkeiten?«, fragte Agatha.

»Aus Buckingham House.«

»Nein. Ich habe keine Neuigkeiten.«

Augusta hob die Brauen. Warum sind Sie dann hier? , schien ihr Blick zu fragen.

Agatha holte tief Luft. »Ich muss es wissen, Königliche Hoheit. Gab es eine Entscheidung?«

Die Prinzessin hatte offensichtlich beschlossen, so zu tun, als ob sie nicht wüsste, worauf Agatha hinauswollte. »Eine Entscheidung worüber?«

»Den Titel. Ist mein Sohn Lord Danbury?«

Das war die Frage, doch so vieles blieb dabei unausgesprochen. Würden Lord und Lady Smythe-Smith ihren Titel an ihre Kinder vererben? Würde es jemals einen zweiten Duke of Hastings geben? Das Schicksal zahlreicher Menschen hing von dieser einen Entscheidung ab.

»Wie ich Ihnen bereits sagte, ist das eine Entscheidung, die nur Seine Majestät treffen kann«, erwiderte Prinzessin Augusta. »Man sollte meinen, dass Sie selbst ohne Probleme an entsprechende Informationen gelangen könnten. Sie stehen dem königlichen Paar doch nahe. Sie waren bei der Geburt dabei. Bei der Geburt meines Enkels.«

»Ich kann nicht …« Agatha schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen. »Ich kann mit dem König oder der Königin nicht über derlei Themen sprechen.«

»Wie schade. Es könnte so hilfreich sein.« Einen Moment schwieg die Prinzessin, dann beugte sie sich plötzlich vor. Ihr Blick war scharf. »Ihre Majestät versucht, die Krone zu führen. Dessen bin ich mir sicher. Was wissen Sie darüber?«

Agatha hielt ihre Zunge im Zaum. Sie würde Charlotte nicht noch einmal verraten. Egal, was auf dem Spiel stand.

»Dann eben der Ball«, sagte Augusta. »Mir wurde zugetragen, dass sie in Buckingham House einen Ball veranstalten wollen. Was wissen Sie darüber?«

»Gar nichts«, erwiderte Agatha aufrichtig. »Ich habe keine Einladung erhalten.«

»Die sind noch nicht verschickt worden. Ich bin sicher, Sie stehen auf der Gästeliste. Genau wie der Rest des ton . Beide Seiten, nehme ich an?«

Agatha schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Eure Hoheit. Ich habe Ihre Majestät seit Wochen nicht mehr gesehen.«

Verärgert presste Prinzessin Augusta die Lippen aufeinander. »Ich nehme an, Sie haben vernommen, was sich vor dem Parlament ereignet hat?«

»Nur, dass Seine Majestät sich nicht wohlfühlte«, entgegnete Agatha vorsichtig. »Eine Halsentzündung, habe ich gehört.«

Sie hatte nichts dergleichen gehört, nahm jedoch an, dass es das war, was die Prinzessin am liebsten hören wollte. Agathas Kenntnis über den Zustand des Königs hatte sie zu allen möglichen schrecklichen Spekulationen verleitet. Doch sie würde die Königin nie fragen, was tatsächlich vorgefallen war. Denn es ging sie nichts an. Und es stand ihr ganz gewiss nicht zu, es mit der Mutter des Königs zu diskutieren.

»Ich frage mich, was sie sich von diesem Ball erhoffen«, bemerkte Prinzessin Augusta.

»Ich kann mich nur wiederholen, Eure Hoheit. Bis zu diesem Nachmittag wusste ich nicht mal, dass ein solcher Ball geplant ist.«

Die Prinzessin beäugte sie misstrauisch. Es war offensichtlich, dass sie nicht wusste, ob sie ihr glauben konnte. »Nun«, begann sie, »wie ungünstig, dass Sie nicht offen mit mir sprechen. Dabei hatten wir doch dieses ausgesprochen überzeugende Arrangement, oder nicht? Wurden nicht all Ihre Bedürfnisse erfüllt? Wäre es nicht ein Jammer, wenn Sie dieses sehr schöne Anwesen verlieren würden, in dem Sie nun wohnen?«

Agatha stockte der Atem. Sie hatte nicht gedacht, dass sie ihr Zuhause verlieren könnte. Zugegeben, sie besaß kein Geld, und es war gut möglich, dass Dominic den Danbury-Titel nicht erbte, aber nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass die Krone sich Danbury House zurückholen könnte.

Und dann …

Oh nein … Lieber Gott, bitte nicht … Sie brach in Tränen aus. Hässliche, laute Tränen.

Augusta starrte sie mit blankem Entsetzen an. »Schhhh«, machte sie unbehaglich. »Hören Sie auf. Tun Sie das nicht. Nein. Nein.«

Doch Agatha konnte nicht aufhören. Der Druck des vergangenen Jahres, der Druck ihres gesamten Lebens hatte in diesem einzigen demütigenden Moment einen Damm brechen lassen, und sie konnte genauso wenig aufhören zu weinen, wie sie aufhören konnte zu atmen.

Sie weinte wegen ihrer Jahre mit Herman, der sie nie als eigenständige Person betrachtet hatte. Sie weinte wegen all der Anstrengungen, die sie unternommen hatte, um das Große Experiment zu unterstützen, und die ihr niemals jemand danken würde. Sie weinte, weil diese Bemühungen daran scheiterten, dass Prinzessin Augusta, Lord Bute und die anderen zu verflucht selbstsüchtig waren, als dass sie ihre Herzen und ihren Verstand für Menschen geöffnet hätten, die nicht so aussahen wie sie. Und sie weinte um ihren Sohn. Sie weinte auch um sich. Und sie weinte, weil sie das jetzt verdammt noch mal brauchte.

»Nun, nun.« Hektisch winkte Augusta die Bediensteten aus dem Zimmer. »Sie müssen damit aufhören«, sagte sie zu Agatha.

Doch sie konnte nicht aufhören. Sie hatte Jahre voller Tränen in sich. Jahrzehnte.

Schließlich zog Augusta eine kleine Flasche unter einem der Sofakissen hervor und goss etwas Flüssigkeit in Agathas Tee. »Birnengeist«, erklärte sie. »Den lasse ich mir aus Deutschland kommen. Nun trinken Sie. Und hören Sie umgehend auf zu weinen. Bitte.«

Agatha trank. »Tut mir leid«, brachte sie heraus. »Ich …«

»Nein«, fiel Augusta ihr bestimmt ins Wort. »Ich will nichts von Ihren Bürden wissen und auch nicht hören, welche Probleme Sie umtreiben. Das ist mir herzlich egal.«

Aus wässrigen Augen starrte Agatha sie an. Die Prinzessin war ein merkwürdiger Mensch. Sie handelte mütterlich und redete mit harter, unbeugsamer Stimme.

Agatha trank noch einen Schluck. Der Birnengeist war gut, und er half tatsächlich.

Augusta schenkte ihr Tee nach.

»Ich will, dass Sie mir zuhören«, fuhr die Prinzessin fort. »Als mein lieber Ehemann starb, musste ich mich der Gnade seines Vaters, des Königs ausliefern. Ich nehme an, Sie kannten George II . nicht. Er war ein brutaler, böser Mann. Mein Gatte verabscheute ihn. Ich verabscheute ihn. Und er war grausam zu Georgie. Mein Sohn hatte Blutergüsse, ich hatte auch Blutergüsse. Aber es gab keine andere Möglichkeit.«

Nie hätte Agatha gedacht, dass sie sich dieser Frau nah fühlen könnte, doch in diesem Moment tat sie es, zumindest ein kleines bisschen.

»Ich ertrug es«, fuhr Augusta fort. »Und mit den Jahren lernte ich, dass ich mich nicht mit der Nutzlosigkeit weiblicher Betätigungen abfinden musste. Stattdessen sicherte ich die Position meines Sohns als König. Ich fand einen Weg, mein eigenes Schicksal zu kontrollieren.«

Erneut hielt sie ihr die Flasche mit dem Obstbrand hin. Agatha nickte und akzeptierte einen weiteren Schuss in ihren Tee.

»Ich mag Sie nicht«, betonte Augusta streng. »Aber Sie waren bisher eine bewundernswerte Gegnerin für mich. Unsere Kämpfe verschaffen mir Befriedigung. Daher geht das hier …«, sie deutete auf Agathas tränenüberströmtes Gesicht, »… überhaupt nicht. Sie dürfen nicht hierherkommen und losschluchzen. Sie können nicht aufgeben. Sie sind eine Frau. Bedecken Sie Ihre Blutergüsse und ertragen Sie das Leben. Verlieren Sie nicht die Kontrolle über Ihr Schicksal, Agatha.«

Agatha nickte und atmete ein paarmal tief durch, um sich zu sammeln. Vielleicht gab es ja einen Weg. Vielleicht musste sie Charlotte nicht verraten. Vielleicht konnte sie Augusta mit ein paar kleinen Brocken Unsinn bei Laune halten. Oder sich damit zumindest etwas Zeit verschaffen.

»Nun erzählen Sie mir« sagte Augusta, »wie gestaltet sich der Alltag in Buckingham House?«

Agatha reckte das Kinn. Sie konnte gewiss ein paar Informationen zusammentragen, die ihre Ergebenheit der Königin gegenüber nicht gefährdeten. »Ich glaube, dass diese Auskunft davon abhängt, was aus dem Titel meines Sohnes wird, Eure Hoheit.«

Augusta lächelte. Ihre Gegnerin war zurück.

Danbury House, Wohnzimmer
23. September 1762

»Sie sind so still heute«, bemerkte Adolphus.

Agatha lächelte ihm zu. Der Bruder der Königin hatte sie seit der Geburt des kleinen Prinzen oft besucht. Zwischen ihnen war eine Freundschaft entstanden.

»Das war nicht meine Absicht«, erwiderte sie. Tatsächlich grübelte sie immer noch über ihr Gespräch mit Prinzessin Augusta. Sie hatte ihr irgendeine Geschichte aufgetischt, dass man munkelte, der König hätte eine Stimmbandentzündung, glaubte allerdings nicht, dass das ausreichte, um die Prinzessin in ihrem – und Dominics – Sinne aktiv werden zu lassen. Schließlich hatte Agatha ihr keine echten Informationen über den König und die Königin geliefert. Es war nur Klatsch gewesen, und noch dazu von ihr erfundener.

»Na los.« Sie schaute Adolphus auffordernd an. »Erzählen Sie, was Sie diese Woche so erlebt haben.«

»Ich habe einige Fortschritte bei den Handelsabkommen gemacht«, erwiderte er nicht ohne Stolz. »Die Briten sind ein eigensinniges Völkchen.« Er grinste charmant. »Natürlich spreche ich nicht von den Damen.«

Sie nickte gnädig. »Natürlich nicht.«

Er lächelte, doch sie war in Gedanken noch immer bei Prinzessin Augusta. Sie konnte die Frau nicht leiden. Vermutlich würde sie sie niemals mögen. Doch sie respektierte sie. Wie lange war es her, seit Prinz Frederick gestorben war? Es mussten mehr als zehn Jahre sein. In all der Zeit hatte Augusta für ihre Familie und für sich selbst gekämpft. Sie war von Männern umgeben gewesen, die ihr ständig vorgeschrieben hatten, was sie denken und tun sollte, und doch war es ihr weitgehend gelungen, ihre Unabhängigkeit zu wahren.

Agatha war nicht zwingend einverstanden mit Augustas Methoden oder Ansichten, aber sie konnte nicht anders, als zu bewundern, wie souverän sie sich ihren Platz in einer Welt erkämpft hatte, die von Männern beherrscht wurde.

»Agatha«, sagte Adolphus mit einem Mal ernst. »Meine Geschäfte hier sind beendet. Mein Neffe ist geboren. Ich werde bald nach Hause zurückkehren.«

»Ich dachte auch nicht, dass Sie bleiben würden. Aber ich hoffe, dass wir uns bei Ihrem nächsten Englandbesuch wiedersehen.«

»Nein«, erwiderte er. »Oder vielmehr … Ich hatte gehofft …«

Neugierig musterte sie ihn. Für gewöhnlich war sein Auftreten so stilvoll und selbstsicher. Dass er ins Stammeln geriet, schien ihr gar nicht zu ihm zu passen.

»Agatha«, sagte er noch einmal. »Würden Sie in Erwägung ziehen, mit mir zu kommen? Als meine Ehefrau?«

»Ich … ich …« Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein sollen. Er hatte seinen Wunsch, ihr den Hof zu machen, recht unmissverständlich geäußert, und sie selbst hatte Coral anvertraut, dass sie ihn – und seinen unausweichlichen Antrag – als Lösung ihrer Probleme betrachtete.

Doch nun, da es passierte, wusste Agatha nicht, was sie tun sollte.

»Ich weiß, dass es recht schnell kommt«, fuhr Adolphus fort. »Sie sind fast noch in Trauer, und ich habe gerade erst begonnen, Sie zu umwerben. Aber ich glaube, wir könnten zusammen glücklich sein.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte sie.

»Sie brauchen jetzt noch gar nichts zu sagen. Ich werde Sie nicht mit blumigen Worten überschütten, da ich weiß, dass sie keine Frau für blumige Worte sind, aber ich bin sicher, dass da etwas ist.«

Er setzte sich neben sie und berührte ihr Kinn. »Da ist etwas zwischen uns«, flüsterte er und küsste sie. Erst ganz sanft, dann mit aufflammender Leidenschaft.

»Entscheiden Sie sich nicht sofort«, bat er, nachdem er die Lippen von ihren gelöst hatte. »Denken Sie darüber nach. Ich erwarte Ihre Antwort.«

Er erhob sich. Seine Haltung war perfekt, und die Verbeugung, mit der er sich von ihr verabschiedete, von unübertroffener Eleganz.

Fassungslos starrte Agatha ihm nach.

Kurz nachdem er gegangen war, kam Coral ins Zimmer gestürmt. »Werden Sie Ja sagen?«, fragte sie.

»Haben Sie an der Tür gelauscht?«

»Würden Sie mir glauben, wenn ich Nein sage?«

Agatha verdrehte die Augen.

»Er ist ein sehr attraktiver Mann«, bemerkte die Zofe.

»Ja.«

»Und Sie müssten sich keine Sorgen mehr um die Zukunft machen.«

»Ja.«

»Oder das Titelproblem.«

»Ja.«

»Und dann ist seine Schwester auch noch Königin Charlotte. Stellen Sie sich vor, Sie wohnen im Palast, wenn Sie Ihre Heimat besuchen.«

»Ja«, antwortete Agatha noch einmal.

Coral ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen, etwas, das sie normalerweise nicht tat. »Ich habe die Sprache geübt. Ich diene der Königin«, sagte sie auf Deutsch. »Das heißt: ›Ich diene der Königin‹. Das sind Sie. Sie würden eine Königin sein. Und wenn man zu einem Königshaus gehört, muss man sich nie mehr um irgendwas Sorgen machen, denn …«

»Halten Sie den Mund, Coral«, flehte Agatha. Sie musste nachdenken.

Coral schnitt eine Grimasse, stand auf und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Sie werden seinen Antrag doch annehmen?«

»Gehen Sie, Coral«, erwiderte Agatha nur.

Denn sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde.