»Ist sie dünn oder dick? Welche Hautfarbe hat sie? Und welche Haarfarbe?«
Unterwegs in den Straßen der Rechtschaffenen komme ich an verschiedenen chassidischen Höfen vorbei. Karlin-Stolin, Satmar, Lelev, Duschinsky, Brazlaw, Tora VeYira, Toldos Aharon, Toldos Avrohom Yitzchok, Shomer Emunim und viele andere, die nur der Herr lesen und aussprechen kann.
Ich erinnere mich an einige dieser Höfe, vor allem einer aber ist mir im Gedächtnis geblieben, Toldos Aharon, dessen Mitglieder als Reb Arelach bezeichnet werden, also als Anhänger von Rabbi Aharon Roth (oder Aaron Rote), der unter dem Namen Reb Arele bekannt war. Viel weiß ich nicht über sie, nur das, was ich hörte, als ich noch hier lebte. Die Gemeinschaft war, so wurde mir damals erzählt, eine jiddischsprachige Gruppe von Fanatikern in goldenen Kaftanen, allesamt glühende Antizionisten. Stimmt das? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich ihnen seinerzeit aus dem Weg gegangen bin, jetzt aber bei Gelegenheit gerne herausfinden würde, wer sie eigentlich sind.
62Ja, ich weiß ziemlich wenig über sie. Aber wenn ich mich recht entsinne, handelt es sich um einen chassidischen Hof, der in den 1920er Jahren von Reb Aharon Roth gegründet wurde, ursprünglich unter dem Namen Shomer Emunim. Diese Gruppe spaltete sich schließlich in drei Gruppierungen auf, Toldos Aharon, Toldos Avrohom Yitzchok und Shomer Emunim, die heute alle in Mea Schearim und anderswo eine Blütezeit erleben. Die verheirateten Frauen dieser drei chassidischen Höfe, so wurde mir erzählt, rasieren sich nach der Hochzeit den Schädel kahl. Ihre Männer hingegen haben das schon mit drei Jahren hinter sich. Wird irgendjemand aus diesen drei Gruppen mit mir sprechen, wenn ich, ein Mann mit runder roter Brille und stattlichem Bauch, auf ihn zusteuere?
Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass mir die Antwort auf diese Frage umgehend zuteilwird, und zwar von einer jungen Frau, der Frau eines Rabbis (einer Rebbetzin). Sie heißt Rebbetzin Leah Miriam Kohn und hat, wenn ich das so sagen darf, ein strahlend schönes Gesicht und ein Lächeln, das den hartherzigsten Mafiaboss in Sizilien dahinschmelzen lassen würde. Wenn ich sie richtig verstehe, ist sie mit einem Sohn des Rebbes von Toldos Aharon verheiratet, der sich selbst, wenn ich nicht irre, als Rabbi von London bezeichnet. Lustigerweise sieht sie ein bisschen wie die »Rachel« aus, die ich mir vor ewigen Jahren ausgemalt hatte, jene Rachel, die ich heiraten würde, wenn mir keine Patricia in den Schoß fiele.
Wir halten einen kleinen Schwatz.
Manche Leute behaupten, sage ich zu ihr, dass die Frauen ihrer Gemeinde erniedrigt und missbraucht werden und ihr Leben in Depressionen und Kummer verbringen. Stimmt das?
Ich habe keine Ahnung, was meine Zunge und Lippen dazu brachte, diese Worte auszusprechen, aber sie haben es getan.
Die Rebbetzin schenkt mir ein Lächeln, ein strahlendes Lächeln, und fragt: »Sehe ich depressiv aus für Sie? Missbraucht? Erniedrigt?«
Nicht direkt, aber was weiß ich schon?
63»Ich verrate es Ihnen: Ich bin glücklich, die zu sein, die ich bin, ich bin stolz darauf, Teil meiner Gemeinschaft zu sein, und es ist für mich ein Glück, ihr anzugehören.«
Ich würde sehr gerne Ihren Mann kennenlernen. Lässt sich das einrichten?
»Ich werde ihn fragen, ob er sich mit Ihnen treffen will, und Ihnen Bescheid geben. Rufen Sie mich an.«
Sie gibt mir ihre Mobilnummer.
Würdest du deine Mobilnummer einem Fremden geben, der dir gerade ins Gesicht gesagt hat, dass deine Gemeinschaft eigentlich zum Himmel stinkt? Ich würde es nicht tun, sie aber schon.
Eine ältere Frau, die zusammengenommen auf mehr als hundert Kinder, Enkel und Urenkel kommt, bleibt auf ihrem Weg stehen, um die Rebbetzin zu grüßen. Die Rebbetzin sagt lächelnd zu mir, dass ich vielleicht ein wenig mit der Frau sprechen sollte, um herauszufinden, wie deprimiert sie ist. Die Ladys lachen, und die ältere lädt mich zu sich nachhause ein.
In ihrer Wohnung, die ein bisschen unaufgeräumt, aber sauber ist, bietet sie mir kalte Limonade an und zeigt mir Fotos von ihrer Familie in einem Album – nicht auf einem Smartphone, sie hat keines.
Während ich mir die Fotos anschaue, die durchweg glückliche Gesichter zeigen, tritt der Sohn der Frau zur Tür herein. Er ist hier, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist, sagt mir seine Mutter; das mache er jeden Tag. Verständlicherweise hat er nicht erwartet, einen Mann im Haus anzutreffen, und ist mehr als überrascht. Er mustert mich, einen Fremden, einen völlig Fremden, der vielleicht sogar ein Ungläubiger ist. Seine Mutter erzählt ihm, dass Rebbetzin Leah ihr den Fremden vorgestellt hat. Sofort entspannt er sich und heißt mich herzlich willkommen.
Die Dame des Hauses hat noch weitere Kinder, wie sie mir verrät. Und ihr junger Sohn heiratet nächsten Monat, sodass sie dieser Tage damit beschäftigt ist, Geld für diesen Anlass zu sammeln.
64Wie viel Geld versucht sie zusammenzubekommen? Die Hochzeit, sagt sie, wird 200000 Schekel kosten, also fast 50000 Euro, und einige Menschen und Institutionen in der Gemeinde werden ihr helfen, jeden einzelnen Agorot davon aufzubringen.
Sie erläutert mir einiges, was ich interessant finde.
Die Reichen unter uns, sagt sie, investieren einen Teil ihrer Einnahmen in die Gemeinde und teilen auf diese Weise das, was sie haben, mit denen, denen es fehlt. Auch bestehe die Möglichkeit, sich zinsfrei Geld von einem Gemach zu leihen, einem zinsfreien Kreditfond.
Warum ist die Hochzeit so teuer?, frage ich.
Es ist nicht allein die Hochzeit, die so teuer ist, sondern da sind auch noch die anderen mit ihr verbundenen Kosten, kriege ich zur Antwort.
Welche?
Ein Bräutigam muss beispielsweise am Sabbat einen Schtreimel tragen, und »der billigste Schtreimel kostet 6000 Schekel [ca. €1500]«, sagt der Sohn zu mir. Für bestimmte Schtreimel zahlen Männer, die sich Qualität leisten können, bis zu 10000 US-Dollar. Und Edel-Schtreimel lassen sich diejenigen, die ein sehr komfortables Leben führen, sogar 24000 US-Dollar kosten.
Ich hätte gerne so einen für 24000$.
Wissen Sie, woraus ein Schtreimel gemacht ist?, frage ich den Sohn, der es sich jetzt auf dem Sofa bequem gemacht hat. »Aus dem Schwanz des Zobels, vieler Zobel für einen Hut«, antwortet er. Wie viele Zobel? Das weiß Der Name, er nicht.
Das sind die Kosten für den Hut, aber der angehende Ehemann wird mehr brauchen als bloß einen Hut. So muss er etwa einige Kaftane haben, einen goldenen für den Sabbat und einen bläulichen für die gewöhnlichen Tage, und jeder Kaftan (Bekische) kostet 1000 Schekel, was etwa 250 Euro entspricht. Dann ist da der Gartel, der spezielle Gürtel, der zum Bekische gehört und auch ein hübsches Sümmchen kostet. Nicht zu vergessen der Mantel über dem Kaftan, der als Dschubbe bekannt ist und den er ebenfalls brauchen wird. Ganz zu schweigen von schönen Schu65hen und Strümpfen für den Sabbat, schwarzen oder weißen, und da haben wir von neuen Hemden, Hosen, neuer Unterwäsche und natürlich einer schönen Armbanduhr, vorzugsweise einer goldenen, noch gar nicht gesprochen. Noch einen Ausgabenposten sollte man niemals außer Acht lassen, weil es ohne ihn keine Hochzeit und keine Ehe gibt: die Gebühr des Schadchens, des Heiratsvermittlers. Wenn Männer eine Frau nicht mal anschauen und junge Männer und Frauen nicht zusammen sein dürfen, wie sollen ein Junge und ein Mädchen da zusammenfinden? Auftritt des Heiratsvermittlers. Der Schadchen, ob Mann oder Frau, professionell oder nicht, kennt die beiden Familien oder tut jedenfalls so und ist mit den persönlichen Eigenschaften und der Lebensgeschichte des jungen Mannes und der jungen Frau gut genug vertraut, um sicherzustellen, dass die beiden wirklich zusammenpassen. Die Hoffnung liegt beim Herrn.
So funktioniert das in der charedischen Welt.
Als ich noch ein Teil von ihr war, hörte ich die Geschichte eines 19-jährigen Jeschiwaschülers, der vor einem aufgeschlagenen Buch saß, dessen Augen aber ins Leere starrten. Als der Rabbi bei ihm vorbeikam, hielt er inne und setzte sich neben ihn. »Wie sieht sie aus?«, flüsterte der Rabbi seinem Schüler ins Ohr. »Ist sie groß? Ist sie klein? Ist sie dünn oder dick? Welche Hautfarbe hat sie? Und welche Haarfarbe? Wie klingt sie?«
Der Rabbi brauchte nicht lange, um den Jungen unter die Haube zu bringen.
Und jetzt habe ich eine Frage: Stimmt es, dass jemand aus einer Familie, deren Männer am Sabbat weiße Socken tragen, niemanden aus einer Familie heiraten wird, deren Männer schwarze Socken tragen?
Stimmt, sagt die Mutter.
Dachte ich mir schon.
Es sind aber noch weitere Kosten zu bedenken, bevor man heiratet: die Kleidung der Frau. Züchtig gekleidet zu sein, also so viel Haut zu bedecken wie möglich, ist viel teurer, als nackt herumzulaufen.
66Wie alle anderen menschlichen Lebewesen wollen auch charedische Frauen attraktiv aussehen. Du kannst züchtig sein und den Großteil deines Körpers bedecken und trotzdem sexyer aussehen als jede Frau im Bikini. Das ist das große Geheimnis der Mode: Man kann jede beliebige Person nehmen, ob schön oder hässlich, und dafür sorgen, dass sie unter einer Stoffbedeckung fantastisch aussieht. Manche charedischen Frauen, dieses kleine Detail sollte Sie nicht schockieren, sind hinreißender als Miss Universe. Aber es bestehen natürlich ein paar Regeln jenseits bloßer Modediktate. Ein Beispiel: Verheiratete Reb-Arelach-Frauen tragen, zumindest soweit ich sehe, am Freitagabend zu Beginn des Sabbats eine weiße Kopfbedeckung. Am Sabbattag selbst können sie, wenn ich nicht irre, ihre Kopfbedeckung in jeder beliebigen Farbe wählen, solange sie nicht zu auffällig ist, also etwa flammend rot.
Wie dem auch sei, ich verabschiede mich von meinen Gastgebern und mache mich auf den Weg zu einem Perückenladen.
Ja doch.
Ich liebe Mode und finde die charedische ziemlich faszinierend. Und so gehe ich zu dem Perückenladen beim Sabbat-Platz, um mir anzuschauen, was eine frischvermählte Frau ihr Eigen nennen muss, bevor ein Ring seinen Weg an ihren Finger findet. Manche charedischen Gemeinschaften wie die Reb Arelach schreiben vor, dass eine verheiratete Frau ein Kopftuch, ein Tichel trägt, keine Perücke, andere charedische Frauen jedoch tragen Perücken, und zwar sehr gerne.
Eine verheiratete charedische Frau, um es Ihnen brühwarm zu erzählen, darf ihr Haar niemand anderem zeigen als ihrem Ehemann, und vielleicht nicht einmal ihm, wie manche meinen. Haare, so befand vor langer Zeit ein alter Rabbi, dessen Name niemand kennt, sind äußerst verlockend, und wenn verheiratete Frauen, Gott behüte, mit unbedecktem Kopf herumlaufen würden, dann kämen die Männer in große Versuchung, ihre Membranen würden schmelzen, und sie würden endgültig den Verstand verlieren. Um die Männer vor einer solchen Katastrophe 67zu bewahren, erschuf Gott in Seiner Gnade die Perücke, und deshalb gibt es diesen Perückenladen.
Wenn Sie sich fragen, wie diese Perücken im wirklichen Leben auf diesen Frauen aussehen, bitte sehr: Es hängt von der Perücke ab. Manche Perücken sind so hinreißend, dass sie aus jeder Frau einen Pornostar machen können.
Gewiss, die Idee der Kopfbedeckung besteht ja gerade darin, sicherzustellen, dass die Männer nicht in Versuchung geraten, und doch sind gewisse Perücken potenzielle Membranenschmelzer, was logischerweise bedeuten müsste, dass Perücken das Verbotenste überhaupt sein sollten. Aber nein, nicht alles auf der Welt ergibt Sinn. Hat es irgendeinen Sinn, dass Schlangen auf der Welt herumkreuchen? Sie sind da, und wir müssen mit ihnen leben, so wie mit den verlockenden Frauen auch.
Der Perückenladen, im Untergeschoss eines Gebäudes, verkauft natürliche und künstliche Perücken, also solche aus Menschenhaar und andere aus synthetischem Haar. Eine Naturperücke kostet 5800 Schekel (ca. €1450), die synthetische daneben 1700 Schekel (ca. €420). Billiger als ein Schtreimel.
Das ist alles, was ich wissen wollte. Warum? Keine Ahnung.
Ich verlasse den Perückenladen und bin wieder auf der Straße.
Und was sehe ich da? Ein großes Plakat, das ein öffentliches Gebet an der Klagemauer um zusammenpassende Paare ankündigt. Die charedische Gemeinschaft ist eingeladen, sich an der Klagemauer zu versammeln und zu Dem Namen zu beten, auf dass er helfen möge, passende Partien zu finden.
Darüber gerate ich ins Grübeln: Einmal angenommen, dass die Gebete um passende Paarungen erhört werden und alle Singles ihre Lebenspartner finden, was passiert dann? Wenn eine Hochzeit 200000 kostet, ganz zu schweigen von den Kosten, eine eigene Wohnung zu kaufen oder zu mieten, wie viele werden sich das überhaupt leisten können? Wenn man von den inneren Straßen Mea Schearims ausgeht, wo ich jetzt stehe, mich umsehe und einmal mehr die ganzen herumfliegenden Abfälle registriere, dann habe ich nicht den Eindruck, dass sich 68viele dieser Leute 200000 Schekel leisten können, nur um unter die Haube zu kommen. Kann es wirklich sein, dass die Gemeinschaft jedem Neuvermählten mit 200000 Schekel aushilft, nur damit er sich verheiraten kann?
Nebenbei, nur falls Sie sich das gefragt haben: Die Straßen mögen schmutzig sein, aber die Passanten sind supersauber.
Hier zum Beispiel ein chassidisches Paar. Der Mann scheint geistig behindert zu sein, wie auch die Frau. Zusammen sehen sie glücklich aus. Ein perfektes Paar! Die Glücklichen, es gibt hier einen Heiratsvermittler. Sonst hätten sie höchstwahrscheinlich alleine leben und ein elendes Dasein fristen müssen.