127Würden Sie Ihr Leben riskieren, um einen sterbenden Chassid zu retten?

»Fünf Jahre lang hat mich mein Rebbe viermal in der Woche vergewaltigt.«

Ich beginne, an mir selbst zu zweifeln. Seit ich Journalist bin, habe ich noch nie so positiv über die Menschen gedacht, über die ich schreibe, und noch nie sie alle so schön und attraktiv gefunden. Ja, ich muss das wiedergeben, was ich sehe, was auch immer es ist, und wenn es positiv ist, soll es positiv sein, aber könnte es nicht auch sein, dass ich einfach blind für alles Negative geworden bin und nur noch das Positive wahrnehme?

Ich bitte israelische Bekannte, mich mit Intellektuellen in Kontakt zu bringen, die starke Gegner der charedischen Welt sind. Er oder sie, so meine Hoffnung, könnte mich in die richtige Richtung weisen.

In der Stadt Givʻatajim, heißt es, lebt ein Professor, der ein Vordenker ist und die charedische Welt von A bis Z kennt. Ich nehme einen Zug nach Tel Aviv, um von dort aus mit dem Taxi zur Wohnung des Professors in Givʻatajim zu fahren.

Kurz nachdem ich den Zug bestiegen habe, setzt sich ein religiöser Jude neben mich. Er trägt eine Schädelkappe und sucht das Gespräch. Er heißt Jossi, wie er mir sagt. Jossi ist leicht übergewichtig, schlampig angezogen und wirkt wie ein Mann, der nicht viel Spaß im Leben hat.

Er erzählt mir, dass er 32 Jahre alt ist, drei Monate lang verheiratet war und dann geschieden wurde. Er war einmal charedisch, sagt er, ist es heute aber nicht mehr. Er trägt immer noch eine Kippa, ja, aber nur seinen Eltern zuliebe. Sein Vater war ein Rosch-Jeschiwa (Leiter einer Jeschiwa), ist jetzt aber pensioniert. Als Jossi acht Jahre alt war und noch in seiner Heider lernte, hat 128ihn sein Rebbe fünf Jahre lang viermal in der Woche vergewaltigt, eröffnet er mir. Dieser Rebbe lebte in Mea Schearim, ein Satmarer Chassid, und wohnt heute in Bnei Brak. »Er hat zu allen möglichen Institutionen, zu jedermann Verbindungen, einschließlich der Polizei.«

Warum wurden Sie geschieden?

»Weil ich keine Beziehung mit meiner Frau haben konnte.«

Haben Sie sie geliebt? Hat sie Sie geliebt?

»Ja.«

Warum konnten Sie dann keine Beziehung mit Ihrer Exfrau haben?

»Wann immer wir intim wurden, musste ich an den Rebbe denken.«

Und das war es.

Heute, erzählt er mir, fühlt er sich von keiner Frau der Welt sexuell angezogen.

Wenn Sie eine schöne Frau oder einen Porno sehen, fühlen Sie sich dann zu ihr hingezogen?

»Nein.«

Sagen wir, Ihnen begegnen eine nackte Frau und ein Hund. Würden Sie für beide dasselbe empfinden, sexuell gesprochen?

»Ja.«

Vielleicht fühlen Sie sich zu Männern hingezogen?

»Nein.«

Haben Sie Ihre Frau je nackt gesehen?

»Ich habe ihre Silhouette gesehen, nicht aber ihre Haut. Nicht das Fleisch. Wir versuchten, intim zusammenzukommen, ohne Licht im Zimmer. So ist das Gesetz.«

Wenn ich auf der Suche nach etwas Negativem über die charedische Welt war, dann habe ich es wohl gerade gefunden, von jemandem, dem ich rein zufällig begegnet bin. Die Frage ist: Steht Jossis Geschichte für einen breiteren Trend, oder ist sie ein Einzelschicksal?

Das Thema Pädophilie in der charedischen Welt wird von säkularen Medien gerne aufgegriffen, was den Eindruck vermittelt, 129es gäbe in den geschlossenen Gemeinschaften der Charedim viel mehr Fälle von Pädophilie als sonst im Land. »Nicht ein einziges Kind«, zitiert Haaretz eine ungenannte Quelle aus Mea Schearim in einem Artikel, der die charedische Gesellschaft extrem kritisch beurteilt, »wurde hier nicht [sexuell] missbraucht.« Als wäre dies noch nicht genug, bezeichnet der Artikel das, was in Mea Schearim passiert, als »eine schleichende Seuche der Ermordung junger Seelen«. Stimmt das? Allgemein gesprochen fällt es mir schwer zu glauben, dass irgendeine Gemeinschaft von Menschen mehr Pädophile und Vergewaltiger aufweist als andere. Wenn ich unrecht habe und der Trend des Missbrauchs in der charedischen Welt seit Ewigkeiten besteht, wovon viele Säkulare überzeugt sind, dann frage ich mich: Wie ist es möglich, dass ich davon nichts mitbekommen habe, als ich im zarten Kindes- und frühen Erwachsenenalter war? War ich so hässlich, dass niemand Interesse an mir hatte? Ich glaube nicht.

Wenn irgendein Journalist oder eine Journalistin in New York, der Stadt, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht habe, einen Artikel schriebe, in dem er oder sie eine ganze Gemeinschaft, sei es die der Schwarzen, der Hispanics oder der Asiaten, beschuldigte, ein Haufen Pädophiler zu sein, dann würde er oder sie sofort entlassen. In diesem Land hingegen sind Geschichten über sexuellen Missbrauch und regelrechte Vergewaltigungen ein bevorzugtes Thema in den säkularen Medien, und niemand hat vor, irgendjemanden deswegen zu entlassen.

Gibt es Vergewaltiger in der charedischen Welt? Ja sicher, so wie in jeder anderen menschlichen Gemeinschaft. Aber wie viele? Das weiß ich nicht.

Hoffentlich wird mich der Professor, den ich besuche, aufklären.

Die Wohnung des Professors liegt eine kurze Taxifahrt vom Tel Aviver Bahnhof entfernt, und ich bin physisch, psychologisch und mental bereit, ihn zu treffen. Er heißt Dan Schueftan (auch Shiftan), ein schöner Name.

130Das Apartment dieses Mannes ist nicht leicht zu finden, da es Teil eines Komplexes ist, der anscheinend von einem Talmudgelehrten entworfen wurde, aber schließlich kommt er aus seiner Wohnung, und jetzt erkenne ich ihn: ein Mann im rosafarbenen Hemd und dunkelblauen Jeans, ganz ohne Schtreimel. Er führt mich in sein Domizil und dort in ein Zimmer mit haufenweise Schubladen, einer Reihe von Bürostühlen, einem Schreibtisch und einem Bücherregal, alles sehr sauber und akribisch geordnet.

Beeindruckend.

Bevor wir mit dem Interview beginnen, gehe ich nochmal auf die Toilette und werfe einen Blick auf den Rest der Wohnung. Und was sehe ich? Im Nebenzimmer, der Küche wohl, liegt ein Berg von Plastiktüten, manche mit irgendetwas gefüllt, andere nicht. Es sieht aus, als hätte jemand einen öffentlichen Müllcontainer in der Wohnung errichtet. So etwas habe ich noch in keinem einzigen Haus gesehen.

Dr. Sigmund Freud könnte den Gegensatz zwischen diesen beiden Räumen vielleicht erklären, ich nicht.

Ich weiß nicht, was in den Plastiktüten ist, ob sie mit Abfällen vollgestopft sind oder ob der Mann vielleicht alles Mögliche hortet für den Fall, dass sämtliche Geschäfte zumachen und er in den nächsten zehn Jahren nichts mehr kaufen kann. Ich weiß es nicht. Es sieht aus wie Müll, ja, selbst wenn die Tüten mit Leckereien gefüllt sein sollten.

Dieses Abfallpanorama erinnert mich an die Mülltonnendepots an den Bürgersteigen bei meinem Hotel. Sie sind schön, aus Jerusalem-Stein gemauert, nur ist von den Mülltonnen, die sich in ihnen befinden sollten, keine Spur zu sehen. Die Jerusalemer Stadtverwaltung, wurde mir gesagt, hat sie entfernt und durch riesige, hässliche Container ersetzt, die jetzt Parkplätze wegnehmen. Der Grund? In der Vergangenheit hätten junge Männer bei gewalttätigen Demonstrationen immer wieder Mülltonnen angezündet und auf die großen Kreuzungen geschoben, um den Verkehr zu blockieren, bis es der Stadtverwaltung zu bunt wurde und sie die größeren, zum Schieben viel zu schweren Contai131ner anschaffte. Stimmt diese Geschichte? Ich weiß es nicht. Da es sich hier um ein charedisches Viertel handelt, sind sich nicht alle über alles einig, und viele sagen mir, dass die Stadtverwaltungs-Müllcontainer-Geschichte jeder Grundlage entbehrt. Worum aber ging es bei den Demonstrationen? Das ist gar nicht so leicht herauszufinden. Ein Befragter sagte mir: »Die Charedim dürfen nicht in Fitnessstudios gehen oder irgendeine Art von Sport machen; sie dürfen nicht fernsehen, ins Theater oder ins Kino gehen, dafür sollen sie den ganzen Tag lang die Thora studieren. Aber einige Menschen können nicht studieren, weil ihnen einfach der Grips dazu fehlt, also demonstrieren sie. Was sonst sollten sie tun?«

Wenn diese Taugenichtse Müll brauchen oder sonst etwas in Plastiktüten, dann finden sie in diesem Haus mehr als genug, um bei der nächsten gewaltsamen Demonstration ein Feuer zu entzünden.

Ich frage mich, ob mein Professor weiß, ob die Mülltonnengeschichte wirklich stimmt.

Aber vielleicht schneide ich das Thema Müll ihm gegenüber besser gar nicht erst an; ist vielleicht ein bisschen heikel.

Zurück von der Toilette, setzen wir uns zum Gespräch zusammen.

»Meiner Meinung nach«, sagt mir der Tütenprofessor, »sind die Charedim die größte Bedrohung für das jüdische Volk.«

Und er, wer ist er? »Ich bin ein Zionist, ein fundamentalistischer Zionist«, antwortet er.

Warum sind die Charedim eine solche Bedrohung für die anderen Juden?

»Wir haben im Moment eine Gruppe von Juden, deren Zahl in dramatischer, beängstigender und schädlicher Weise wächst, nämlich die ultraorthodoxe Gemeinschaft.«

Er stellt klar, dass sich seine Anmerkungen zu den Charedim nur auf diejenigen beziehen, die nicht in der Armee dienen und finanziell nichts zur Gesellschaft beitragen. Mit anderen Worten, die Mehrheit der charedischen Männer, wenn ich mich auf das 132verlassen kann, was ich tausendmal von Nicht-Charedim gehört habe: Charedim arbeiten nicht.

»Die Lebensweise der Ultraorthodoxen in Israel ist eine Gefahr für die Zukunft des jüdischen Volkes«, fährt er fort, »weil sie 7,2 Kinder pro Familie haben, 7,2 primitive Kinder pro Familie.«

Sie sind »Schmarotzer«, sagt er ziemlich erregt und wütend. »Sie leben vom Schweiß meiner Stirn und von meinem Blut«, zürnt er und ergänzt: »Wer nicht arbeitet, hat es nicht verdient zu leben.«

Starke Worte.

Da das charedische Weltbild besagt, dass Männer ihr Leben der Thora widmen sollen, haben sie da nicht ein demokratisches Anrecht darauf, ihren Glauben zu praktizieren?, frage ich meine neuste intellektuelle Bekanntschaft.

Nein, sagt er. Kein Mann in einer Demokratie hat ein Anrecht darauf, zu vergewaltigen, und eine Demokratie kann ihren Bürgern ihren Willen auferlegen und verlangen, dass sie einen Teil ihrer Zeit aufwenden, um für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Er wird lauter, bekommt einen Wutanfall und wiederholt zigmal, dass die Charedim »Schmarotzer« sind.

Würde ein Nichtjude das sagen, denke ich bei mir, würde man ihn als Antisemiten einstufen. Wie sonst sollte man jemanden 133bezeichnen, der sagt, dass eine bestimmte Gruppe von Leuten zu viele Kinder hat und alle miteinander Schmarotzer sind?

Sie haben in der israelischen Armee gedient, sage ich, waren also bereit, Ihr Leben zur Verteidigung Ihrer jüdischen Mitbürger zu riskieren, wären Sie auch bereit, Ihr Leben zur Verteidigung ultraorthodoxer Juden zu riskieren und beispielsweise Mea Schearim zu verteidigen?

Er will diese Frage um alles in der Welt nicht beantworten, da sie seiner Meinung nach nicht fair ist. Doch als ich sie mehrere Male wiederhole, sagt er schließlich, dass er, jawohl, sein Leben zur Verteidigung Mea Schearims riskieren würde, nicht wegen der Menschen, die dort leben, sondern weil Mea Schearim zu Israel gehört.

»Die Leute in Mea Schearim sind nicht einmal richtige Juden, wenn man Maimonides folgt, weil sie für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten.«

Können Sie mir zeigen, wo Maimonides das sagt, was Sie ihm zuschreiben?

Nein, wie Reb Yoilish und Israel Meir kann er das nicht.

Bei rechtem Licht betrachtet erscheint er mir, zumindest teilweise, wie ein Spiegelbild von Reb Yoilish und Reb Israel Meir. Jede Seite des Konflikts behauptet, dass ihre Gemeinschaft und 134nur ihre jüdisch ist und keine andere. Und nach Meinung jeder Seite kann die andere ruhig tot umfallen, besser gestern als heute. Beide Seiten beziehen sich auf Quellen, können aber keine genauen Fundstellen angeben, mit denen sich diese überprüfen ließen, und jede Seite ist leidenschaftlich davon überzeugt, dass die andere schändlich ist, ohne ein Wörtchen darüber zu verlieren, was an der eigenen denn so großartig sein soll.

Wie ich kürzlich gelesen habe, arbeiten über 70 Prozent der charedischen Frauen für ihren Lebensunterhalt, und der Unterschied zwischen den Arbeitsgewohnheiten der Gläubigen und der Säkularen ist gar nicht so groß. Aber es hat keinen Sinn, das vorzubringen, denn sein Herz ist hasserfüllt.

Als sein Mobiltelefon klingelt, nimmt er das Gespräch an und erzählt mir danach, dass der Anrufer eine sehr wichtige Person in einer sehr hohen Position ist und dass sehr wichtige Leute ihn oft um seinen Rat bitten.

Na prima.

Ich verabschiede mich von dem Mülltütenprofessor, zünde mir draußen auf der Straße eine Zigarette an und frage mich, woher er seinen starken Hass auf die Charedim hat. Was haben sie ihm angetan, das ihn so verletzte und seinen Zorn erregte? Ich hatte starke Argumente, sachbezogene Daten und genaue Statistiken, intensive philosophische Diskussionen und gewichtige theologische Argumente erwartet, bekam aber letztlich nur grimmigen Hass zu hören.

Während ich meine Zigarette rauche, lese ich auf meinem iPhone, dass die Charedim laut Haaretz die glücklichsten Menschen in Israel sind.

Ich blicke meinen Rauchringen hinterher und denke über Den Namen nach. Hat Der Name wirklich keinen Namen?

Ich weiß nicht, worüber Sie nachdenken, wenn Sie sich eine Zigarette gönnen, falls Sie rauchen sollten, ich jedenfalls denke darüber nach: Hat Der Name, Herr der Schmarotzer, wirklich keinen Namen?

135Nun ja, Er hat einen Namen, gewissermaßen. Man bezeichnet ihn als Den Ausdrücklichen Namen, den aber niemand kennt. Angeblich sollen ein paar Leute tatsächlich Den Ausdrücklichen Namen kennen, und wenn sie ihn aussprechen, dann können sie die Toten erwecken, schneller, als Adler über Länder hinwegfliegen und ganze Städte zerstören oder retten. Als ich ein Kind war, bitte nicht weitersagen, wollte ich den Namen Des Namens wirklich wissen. Ich habe viele Kabbala-Bücher durchgesehen, um den Namen Des Namens zu finden. Nein, ich wollte keine Städte zerstören oder Toten erwecken, das soll Der Name schön selbst tun. Ich wollte mir ein lebendiges Wesen für mich selbst erschaffen, ein reizendes Mädchen natürlich, insofern diejenigen, die Den Ausdrücklichen Namen kennen, auch andere Menschen erschaffen können. Ja. So schuf bekanntlich der Maharal von Prag, ein weltberühmter Rabbiner, den Golem, ein allmächtiges Geschöpf, das die tschechischen Juden vor Jahrhunderten vor ihren gojischen Feinden rettete, die sie vergewaltigen und töten wollten.

In Givʻatajim werde ich wahrscheinlich keine Antwort auf irgendeine Frage zu Dem Namen finden. Der Name ist in Jerusalem, direkt bei seinem zerstörten Tempel, und so nehme ich den Zug dorthin.