221Ob man schwarze oder weisse Engel erschafft, hängt ganz von einem Selbst ab

Die günstigste Krankenversicherung der Welt: Rebbes

Reb Chaim, ein Anhänger des Hofes der Toldos Avrohom Yitzchok, gibt mir in meinem Hotel die Ehre. In wenigen Wochen findet das jüdische Neujahrsfest statt, an dem über das Schicksal eines jeden Menschen entschieden wird. Reb Chaim wird deshalb zu seinem Rebbe gehen, der zufälligerweise der Bruder des Toldos-Aharon-Rebbes ist, und ihm einen Kvitel überreichen, ein kleines Stück Papier, auf dem ein Chassid seinen Rebbe um ein gutes kommendes Jahr bittet. Er hat es in der Vergangenheit getan, er tut es jedes Jahr, und es funktioniert. Das letzte Mal war ungefähr um diese Zeit vor einem Jahr. Was haben Sie auf den Kvitel geschrieben?, frage ich ihn. »Meinen Namen, den Namen meiner Mutter, den Namen meiner Frau und den Namen ihrer Mutter sowie die Namen meiner Kinder, und ich habe um ein gutes kommendes Jahr gebeten, dass ich ins Buch des Lebens geschrieben würde und um Erfolg in spirituellen und finanziellen Angelegenheiten.«

Ja, so traurig es ist, bestimmte Menschen werden auch in das andere Buch geschrieben, jenes Buch, das den Tag und die Ursache ihres Todes verzeichnet, und Reb Chaim möchte lieber in dem ersten Buch stehen. Nicht nur vor den hohen Feiertagen geht Reb Chaim mit einem Kvitel zum Rebbe. Manchmal, zum Beispiel wenn Angehörige krank sind, schreibt Reb Chaim einen Kvitel, um für ihre Genesung und Wiederherstellung zu bitten, und übergibt ihn dem Rebbe.

»Ich glaube an den Rebbe«, sagt er mir. »Ich glaube an einen Mann, dessen Geist jeden Tag rund um die Uhr beim Schöpfer weilt. Er steht viel höher als ich und kann sehen, was ich nicht se222hen kann. Wenn ich am Vorabend des Neujahrstags oder am Vorabend der hohen Feiertage zu ihm komme, frage ich ihn: ›Können Sie mir sagen, was ich mir fürs nächste Jahr vornehmen soll, was ich an mir verbessern soll, was ich wiedergutmachen soll?‹«

Was haben Sie den Rebbe letztes Jahr gefragt?

Er zögert und überlegt, ob er mir etwas so Persönliches anvertrauen soll. Ich dränge ihn ein wenig, ermutige ihn, bis er schließlich spricht: Chassidim, erzählt er mir, gehen vor dem Morgengebet zur Mikwe, und auch er hat das in der Vergangenheit so gehalten, aber im Jahr vor dem Neujahrstag schleifen lassen. Er war faul geworden, auf gut Deutsch. »Der Rebbe schaute in den Kvitel und sagte zu mir: ›Ich sehe auf dem Kvitel, dass du nicht jeden Tag vor dem Morgengebet zur Mikwe gehst.‹« Reb Chaim war geschockt, und der Rebbe fuhrt fort und schlug vor, dass Reb Chaim diesen Fehler korrigiert und es sich zur Pflicht macht, jeden Tag vor dem Morgengebet zur Mikwe zu gehen. Woher wusste der Rebbe, dass er die Mikwe nicht zur vorgeschriebenen Zeit aufsuchte? Er sah es am Kvitel. Nachdem er den Namen Reb Chaims und seiner Mutter gelesen hatte, konnte er sich mit Reb Chaims Seele in Verbindung setzen, und als er das tat, sah er, dass der Körper, der Reb Chaims Seele trug, vor dem Morgengebet nicht zur Mikwe ging, erklärt mir Reb Chaim. »Er kann es sehen, wenn er den Namen liest«, sagt er mir.

Und Punkt.

Wenn ich es recht verstehe, kann die Seele ohne das Wasser der Mikwe am Morgen unmittelbar vor dem Morgengebet nicht repariert oder geheilt werden. Tatsache! »Ich bin froh, sagen zu können«, vertraut mir Reb Chaim an, »dass ich es in diesem Jahr kein einziges Mal versäumt habe, vor dem Morgengebet zur Mikwe zu gehen, nicht einen Tag!«

Ich sollte das auch tun, sage ich zu ihm. Ich sollte mit einem Kvitel zum Rebbe gehen und schauen, was er mir sagt.

Da ist nur eine kleine Hürde, wie ich schnell merke. Die Kvitel-Methode ist nicht umsonst. »Um sich mit dem Zaddik, dem Gerechten, dem Rebbe, zu verbinden, muss man ihm etwas ge223ben, und wenn man ihm damit eine Freude bereitet, knüpft genau dieser Akt eine Verbindung, durch die er einen über seine Heiligkeit beeinflussen kann«, erklärt mir Reb Chaim. Wie viel kostet ein Kvitel? Nun, jeder zahlt, wie viel er kann. Reb Chaim zum Beispiel entrichtet an den Rebbe 100 Dollar und an den Gabbai, den persönlichen Assistenten des Rebbes, 50 Schekel (ca. €12).

Glauben Sie wirklich, frage ich Reb Chaim, dass der Herr des Universums, Der Name, nicht auf Sie reagieren wird, wenn Sie sich direkt an Ihn wenden und zu Ihm um Hilfe beten, und dass er Ihnen nur antworten wird, wenn Sie zum Rebbe gehen?

Natürlich kann man sich direkt an den Schöpfer wenden, antwortet Reb Chaim, aber mitunter betet man zum Namen, doch dann wird das Gebet blockiert und erreicht Den Namen nicht.

Wie bitte?

Der Himmel, erklärt er mir, ist manchmal blockiert.

Von dieser Möglichkeit habe ich noch nie gehört, aber das Leben ist voller Überraschungen.

Ich versuche, das Konzept eines blockierten Himmels zu verstehen, und male vor Reb Chaim eine Situation aus, zu der ich seine Meinung hören möchte: Ich bin im Krankenhaus, unmittelbar vor einer Operation, die über Leben oder Tod entscheiden wird, und möchte, dass Der Name für einen erfolgreichen Eingriff sorgt. Habe ich eine bessere Chance, dass Er mir helfen wird, wenn ich direkt zu Ihm bete oder wenn der Rebbe von Toldos Avrohom Yitzchok für mich zu Ihm betet?

Nun, sagt Reb Chaim, meine Chancen, dass Der Name für einen Erfolg der Operation sorgen wird, sind weitaus besser, wenn der Rebbe in meinem Namen zu Dem Namen betet. Zweifellos. Warum ist das so? Wegen der Blockade. Was ist das? Wer blockiert? Warum wird blockiert?

An dieser Stelle kommen wir zu der Sache mit den Engeln.

Bereit?

Dann mal los: Wenn ein Jude eine Awejre, Sünde, begeht, erschafft er einen Engel, einen bösen Engel oder genauer: einen 224schwarzen Engel. Befolgt ein Jude hingegen eine Mizwa, bringt er auch einen Engel hervor, aber einen guten oder genauer: einen weißen Engel. Wenn nun jemand in schlechter Verfassung oder in einer schwierigen Situation ist wie etwa auf dem Operationstisch im Angesicht des Todes, stürmen alle schwarzen Engel, die der Jude bis zu diesem Moment erschaffen hat, zum Namen im Himmel und fordern ihn auf, diesen Juden zu töten. In genau diesem Augenblick stürmen auch die weißen Engel, die bislang durch die guten Taten des Juden in die Welt gekommen sind, zum Namen und fordern ihn auf, den Juden zu heilen.

Diese Engelssache ist anscheinend komplizierter, als ich dachte. Hier ist Geduld gefragt.

Was ist eine gute Tat?, frage ich.

Das ist ja wohl hoffentlich klar. Die Gebote zu befolgen ist eine, den Armen und Schwachen zu helfen ist eine andere und dann natürlich das Studium der Thora. Wenn man die Thora studiert, bringt jedes Wort, das man äußert, einen weißen Engel hervor, wie ja allgemein bekannt.

Aber in Wirklichkeit ist alles noch komplizierter.

»Nehmen wir an«, erläutert Reb Chaim, »dass Sie Gott segnen, aber nicht an die Worte denken, die Sie sagen, oder sie sehr schnell sagen, dann ist der Engel, den Sie erzeugen, wie es in den heiligen Büchern geschrieben steht, ein kleiner oder schwacher Engel.«

Was heißt ein schwacher Engel?

»Ein Engel ohne Hand und Fuß.«

Das ist ja interessant! Wie sieht ein Engel aus, ganz allgemein?

»Wie es im Buch Daniel heißt.«

Was wird dort gesagt?

»Ein Engel hat sechs Flügel: zwei auf jeder Seite, einen unten und einen oben, und jeder Flügel bedeckt einen anderen Teil seines Körpers. Er fliegt aber nur mit zwei seiner Flügel. So in etwa.«

Wenn ich ein Pornoheft anschaue, erzeugte ich mit jeder nackten Frau, die ich betrachte, einen schwarzen Engel?

225»Hundertprozentig!«

Die Pornoengel sind natürlich eine schreckliche Nachricht. Alle schwarz. Nicht gut.

Das ist völlig neu für mich, aber ich bin lernwillig. Und ich lerne heute viel.

Indem er das alles auf die Praxis, auf Situationen des realen Lebens anwendet, hilft Reb Chaim mir, es ein bisschen besser zu verstehen: Während ich auf dem OP-Tisch auf den Eingriff warte, fliegen die verschiedenen Engel zu Dem Namen in der Kommenden Welt und bitten entweder um meinen Tod oder mein Überleben. Wenn es, was Der Name verhüte, mehr schwarze als weiße Engel gibt und sie beim Namen gegen mich plädieren, wird sich die Waage, auf der die Engel sozusagen stehen, in die für mich ungünstigste Richtung neigen. Genau hier, an diesem entscheidenden Punkt, hat der Rebbe seinen Auftritt. Wenn sich der Rebbe den weißen Engeln anschließt, die um meine rasche Genesung flehen, neigt sich die Waage zu meinen Gunsten, und ich komme gesund wie ein Stier aus dem Krankenhaus.

Ein Rebbe ist, anders gesagt, wie eine Krankenversicherung, nur wesentlich günstiger.

All das sind wichtige Neuigkeiten für mich.

In meiner Jugend schrieb niemand aus meiner Bekanntschaft je einen einzigen Kvitel, und niemand bat einen Rabbi um seinen Segen. Aber die Zeiten scheinen sich geändert zu haben, und diese alte Tradition, die in Europas Schtetln (Kleinstädten oder Dörfern) gepflegt wurde, ist wieder zum Leben erwacht. Wie es dazu kam, das weiß ich nicht.

Auch New York, meine Wahlheimat, hat sich sehr verändert. Als ich das erste Mal nach New York kam, gab es keine Progressiven, und heute ist die Stadt voll von ihnen. Anders als die Charedim nimmt aber kein progressiver Führer Kvitels entgegen, und wenn du krank bist, hast du eben Pech gehabt.

Die Idee, dass ein Rebbe sich zu unseren Gunsten den weißen Engeln im Himmel anschließt, könnte ja vielleicht erklären, warum sich die Chassidim von Gräbern angezogen fühlen. Es 226erscheint mir höchst sinnvoll, einen toten Rebbe zu bitten, sich an der Seite der weißen Engel zu unseren Gunsten einzusetzen, weil die Toten und die Engel himmlische Nachbarn sind. Wie so eine Art FedEx.

Man lernt nie aus.

Auf den Straßen von Mea Schearim verkündet, wie so oft hier, ein Auto mit Lautsprechern die Beisetzung eines soeben verstorbenen Gemeindeglieds. Dieser Mann, falls es Sie interessiert, wird im Har HaMenuchot beerdigt, einem weiteren Friedhof in Jerusalem.

Dieser Tote, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, starb nicht an Krebs, Alter, Corona oder irgendeinem anderen Leiden oder Unfall. Nein, er starb, weil zu viele schwarze Engel Den Namen um seinen Tod baten und kein Rebbe den weißen Engeln auf der Waagschale beisprang.

Man lernt eben nie aus.

Die Geschichte der schwarzen und weißen Engel mag ja erhellend sein, aber ich weiß immer noch nicht, wie genau die Engel aussehen, abgesehen davon, dass sie Flügel haben. Ich werde versuchen, es herauszufinden, aber zuvor möchte ich mich mit einem Litwak zusammensetzen, einem Teil jener selbsternannten weisen Juden, die nicht mit Kvitels herumlaufen, sondern ihren scharfen Verstand gebrauchen.