Am Feiertag Simchat Thora, Freude der Thora, einer Feier des Umstands, dass sie bis dahin die ganze Thora gelesen haben, huldigen gläubige Juden der Thora mehr als an jedem anderen Tag. In den Synagogen werden die Thorarollen mit den fünf Büchern Mose aus dem Thoraschrein herausgeholt, woraufhin ihre Träger mit ihnen die Bima in Umkreisungen (Hakafot) umtanzen. Alle Versammelten schließen sich dieser Prozession an, tanzen, singen, essen, trinken und freuen sich wie selten im Leben.
Ich bin in der Schul der Chassidim von Karlin-Stolin, nur wenige Schritte von meinem Hotel entfernt, und schaue ihnen dabei zu, wie sie mit den Thorarollen in den Händen tanzen. Die Rollen, die ein ordentliches Gewicht haben, sind mit schönen silbernen Kronen verziert, um den Respekt dieser Leute vor den Schriften ihrer Vorväter zu unterstreichen.
Bald schon spricht mich ein Chassid an und fragt mich, ob ich auch mit einer der Rollen tanzen möchte. Na klar! Ich probiere gerne alles aus. Prompt legt ein anderer Chassid seinen Tallit ab und gibt ihn mir, da man die Heilige Schrift traditionell nur tragen darf, wenn man einen Tallit anhat. Ich lege ihn an, nehme die Rolle und tanze mit den Chassidim, umkreise mit ihnen die Bima im heiligen Tanz. Eine Reihe kleiner Kinder steht bei der Bima, und jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbeikomme, verneigen sie sich und küssen die Rolle inbrünstig. Ein Kuss um den anderen, als wäre die Thorarolle ein besonders köstlicher Keks.
Es geht mir auf, dass es die Grundlage des Judentums ist, die ich in meinen Händen halte. Über Zeitalter hinweg haben Juden ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die Thorarollen zu schützen. Wenn beispielsweise ein Feuer in einer Synagoge ausbrach, dann eilten die Juden in das brennende Gebäude, um die Rollen zu 338retten, genau solche Rollen, wie ich jetzt eine halte. Den Weisen zufolge wurden die fünf Bücher Mose vom Namen diktiert und von Moses niedergeschrieben, sodass der eigentliche Autor der fünf Bücher, die ich gerade in Händen halte, den Weisen nach Der Name ist. Und, nur zur Erinnerung, ohne diese fünf Bücher Mose gäbe es kein Judentum, kein Christentum und keinen Islam. Kein Wunder, dass diese Kinder die Rolle so voller Inbrunst küssen.
Nach dem Ende der Zeremonie streife ich ziellos durch die Straßen und werde mehrfach angesprochen. »Warum kommen Sie nicht zu uns für die Hakafot? Kommen Sie morgen. Es wird Ihnen gefallen!«, sagt einer. Und ein anderer: »Warum kommen Sie nicht zu uns im großen Ger? Kommen Sie morgen; es wird toll!«
Ein paar Schritte weiter ziehen mich zwei Gerrer Chassidim, Anhänger des Palasts von Ger, ins Gespräch. »Wie kann es Rabbi Shaul nur wagen«, sagt einer mit erhobener Stimme zu mir, »den chassidischen Hof von Ger noch zu Lebzeiten des Rabbis zu spalten? Das ist ein unerhörtes Verbrechen! Wer Rabbi Shaul folgt, beteiligt sich an einem Mord, der Ermordung eines lebendigen, dynamischen, erfolgreichen chassidischen Hofes!«
Beide sind tadellos gekleidet, als ob sie auf dem Weg zu einem Fotoshooting wären, in maßgeschneiderten chassidischen Gewändern, die wahrscheinlich so viel kosten wie ein neuer Mercedes.
Es amüsiert mich, dass sich reiche Leute so aufregen, wenn sich nicht alles im Leben nach ihren Wünschen richtet.
Also gehe ich am nächsten Morgen zu einer Schul, in der die Anhänger von Rabbi Shaul dawenen (beten), um die morgendlichen Hakafot (zeremonielle Umkreisungen) mit ihnen zu feiern.
Dies ist keine Ger-Schul, weder die Nadlan- noch die Thoravariante, erklären mir einige, als ich ein Gespräch auf Hebräisch oder Englisch mit ihnen anknüpfe. Wenn ich aber ins Jiddische wechsele, schlagen sie einen anderen Ton an. Ja, die meisten 339Menschen in dieser Schul, sagen sie jetzt, sind Chassidim, die sich vom Palastrebbe losgesagt haben. »Wir sind ein chassidischer Hof im Aufbau«, lässt mich einer von ihnen wissen. Ein anderer ergänzt: »Was wir dieser Tage machen, wird sich nicht nur auf den Hof von Ger auswirken, sondern auch auf das übrige Judentum. Dies ist etwas Großes!«
Schulem, ein Mann von vielleicht 50 Jahren, der in einem jüdischen Bestattungsverein arbeitet, vertraut mir seine Lebensgeschichte an. »Gleich nach meinen Schewa Brachot«, womit er seine einwöchige Hochzeitsfeier meint, »habe ich zu meiner Frau gesagt: Ich möchte in den Bestattungsverein eintreten.« Die Frau war zunächst schockiert, schließlich aber »wurde sie auch Mitglied im Bestattungsverein«. Wie lange nach den Schewa Brachot (sieben Segnungen) ist sie dem Bestattungsverein beigetreten? »30 Jahre später.« Der Mann hat Humor.
Was macht dieser Schulem als Mitglied des Beerdigungsvereins? Vieles, sagt er, einschließlich der Tahara, Reinigung. Was heißt Reinigung? »Ich bekomme einen männlichen Leichnam, meine Frau macht dasselbe mit den weiblichen, und ziehe ihm seine Kleidung aus oder was er sonst am Körper trägt, und wasche ihn mit Seife. Mit einem Schlauch entleere ich dann seinen Darm, sodass er vollkommen sauber ist. Dann lege ich ihn mit Hilfe anderer auf eine spezielle Matte, die wir hochziehen und runterlassen können, und tauche ihn in die Mikwe. Wir ziehen ihn wieder hoch, hüllen ihn in Leichentücher und streuen Sand aus dem Heiligen Land über den Leichnam.«
Manchmal, erzählt er mir, kennt er die Menschen persönlich, deren Leichname er reinigt, dann fällt es ihm schwer. Am schlimmsten sei es, die sterblichen Überreste von Kindern zu reinigen. Das ist eine emotionale Prüfung. Alles in allem ist er aber glücklich mit seinem Tun. Er versucht sogar, einen Witz darüber zu reißen. »Bei dieser Tätigkeit kommt der Kunde nie mit einer Reklamation zurück.«
Denken Sie an den Tag, an dem Sie selbst gereinigt werden? Ich meine, haben Sie schon eine Grabstelle für sich ausgesucht?
340»Ja, ich habe eine Parzelle gekauft.«
Wo?
»Ölberg.«
Wie viel hat sie gekostet?
»Ich habe 18000 US-Dollar bezahlt.«
Mehr nicht?
»Ich weiß nicht, was sie heute kosten würde. Ich habe meine Grabstätte vor 20 Jahren gekauft.«
Ich bin hierhergekommen, um etwas über die neuen Gerrer und ihren Rebbe zu erfahren, verbringe aber meine Zeit damit, über die Toten zu sprechen. Glücklicherweise werden endlich die Heringe serviert, der Tscholent, die Kugels, die Brandys, Süßigkeiten aller Art, Cola Zero und Pepsi Max.
»Wenn Sie über uns schreiben«, äußert ein Chassid mittleren Alters einen Wunsch, »dann werden Sie nette Dinge schreiben. Richtig?«
Ich werde schreiben, was Sie mir sagen.
»Danke.«
Woher wissen diese Leute, dass ich über sie schreibe? Sie müssen es vom Namen gehört haben, soweit ich das beurteilen kann.
Nicht alle in dieser Schul sind Gefolgsleute von Rabbi Schaul, wie ich feststelle, als ich wieder draußen bin.
Fünf Gehminuten von der Schul entfernt spricht mich ein Gerrer Chassid an, der mit mir in der Schul war. »Jetzt«, sagt er, »müssen Sie in die große Schul kommen, mit den echten Gerrer Chassidim sprechen und beten. Sie können sich kein Urteil bilden, wenn Sie nur Mitglieder von Rabbi Schauls Gruppe anhören.«
Ich danke ihm für seinen Rat, und wir verabschieden uns.
Ich laufe weiter.
Wohin? Weiß Gott.
Ich verbringe meine Tage in dieser Feiertagsperiode damit, von einer Schul zur anderen, von einem Gottesdienst zum anderen zu gehen.
341Wovon ist in den Schuls und den Gebeten die Rede? Vor allem vom Tempel. Nachdem der Tempel, das Zentrum der jüdischen Gottesverehrung, zerstört worden war, lief das Judentum Gefahr, vom Antlitz der Erde ausgelöscht zu werden. Daher die Schuls, eine brillante Erfindung der Rabbis. Eine Schul, schrieben sie vor, wird als Ersatz für den Tempel dienen – bis er wiederaufgebaut ist. Und die Gebete werden einstweilen die Tieropfer im Tempel ersetzen.
So wurde das Judentum gerettet.
Eine Frage habe ich aber: Wenn das Gebet die Opfer ersetzt und die Schul den Tempel, ersetzt dann der Rebbe Gott?
Ich glaube, ich sollte mich persönlich mit einem Rebbe unterhalten. Ich möchte gerne einem Rebbe gegenüberstehen, ihm in die Augen blicken und mir von ihm erklären lassen, was ein Rebbe ist.
»Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen«, sagt mir ein charedischer Journalist, der für charedische Medien arbeitet. »Rebbes geben keine Interviews. Vergessen Sie’s! Wir haben es viele Male versucht und nie geschafft. Es wird nicht dazu kommen. Ändern Sie Ihre Pläne.«
Vielleicht hat er recht, aber ich hoffe immer noch, dass ich den Rebbe von Toldos Aharon treffen kann.
Und wenn der Philanthrop David recht hat, dann wird es auch nicht mehr lange dauern.