Und der Prophet Elias erscheint, aber die Rabbis trauen sich nicht, ihn anzusprechen
Auf dem Vorplatz des Gebäudes wird erst einmal reichlich Essen aufgefahren, bevor die Vorhaut irgendeines Babys beschnitten wird. Schnitzelstreifen, marokkanische Zigarren (Hackfleisch im Knuspermantel), frittierte Kartoffelplätzchen, Orangensaft, diverse Colasorten und eine Menge anderer Leckereien stehen für die eintreffenden Gäste bereit. Die sagen nicht Nein und lassen es sich schmecken.
Ich bin dabei: Schnitzel, Kartoffelplätzchen, Zigarren und eine oder zwei Flaschen Cola Zero. Warum nicht? Ich zünde mir eine Zigarette an, rauche sie und unterhalte mich mit anderen rauchenden Gästen.
Nach einer Weile, und nachdem alle Raucher ihre Sucht gestillt haben, werden wir zur Beschneidungszeremonie in den Saal gebeten, wo Tische für das Essen aufgestellt sind, das sich an die Beschneidung anschließen wird.
Der Sandak, der Mann, der das Baby während der Beschneidung hält, setzt sich mit dem Baby auf den Stuhl des Propheten Elias, der bekanntlich jeder Brit Mila beiwohnt. Ja. Rabbi Elbaz tritt ein, strahlend vor Vorfreude auf seinen Termin mit dem Baby. Er stellt seinen Mohelkoffer neben dem Stuhl ab und öffnet ihn.
Die Gäste bilden einen Kreis um die beiden Männer und das Baby und sind bereit für den Beginn der Show, bei der sich das Neugeborene von einem bloßen Menschen in einen Juden verwandeln wird.
Zunächst ordnet Rabbi Elbaz seinen Instrumentenkoffer. In ihm befinden sich Messer, Scheren, ein Britschutz (ein Hilfsmittel, um sicherzustellen, dass der Mohel nicht versehentlich mehr 416abschneidet als nötig), irgendwelche Puder, eine Wundsalbe, Verbandsmull und Listerine. Ich dachte immer, Listerine sei eine Mundspülung, aber anscheinend gibt es noch weitere Verwendungsmöglichkeiten.
Während er seinen Mohelkoffer sortiert, blickt Rabbi Elbaz mich an und lächelt, als sei er erfreut, mich zu sehen.
Das ist ein gutes Zeichen, oder?
Dann bewegt Rabbi Elbaz seinen Kopf etwas und lächelt mich weiterhin an.
Vor uns liegen glückliche Tage!
Und er beginnt mit der Beschneidung.
Als er die Vorhaut des Babys abschneidet, spritzt Blut aus dem Penis des Babys. Beim Anblick des Bluts verlangt er Wein von einem Helfer. Der Assistent reicht ihm den Wein in einem Silberkelch, aus dem Rabbi Elbaz einen Schluck trinkt. Dann beugt er sich nieder und saugt das Blut aus dem Penis des Babys. Anschließend spuckt er das Blut in den Silberkelch.
Das Baby schreit.
Der Sandak, ein bekannter israelischer Rabbi namens Yitzchak Dovid Grossman, spricht: »Mögen wir alle bald am Tag des Kommens des Propheten Elias dabei sein, wenn er die bevorstehende Ankunft des Messias verkündet. Amen.«
»Amen«, erwidern die Zuschauer.
Ich bin mir nicht sicher, warum er dem Kommen des Propheten Elias entgegensieht, wo dieser doch bereits hier ist und direkt neben ihm sitzt, auf genau diesem Beschneidungsstuhl, dem Sitz des Propheten Elias. Genauso wenig verstehe ich, wieso er zu den Gästen über den Propheten Elias spricht, statt mit dem Propheten selbst zu reden.
Nun, vermutlich verstehe ich eben nicht alles. Aber wer tut das schon?
Rabbi Elbaz reinigt sein Messer, wirft den blutigen Verband weg und verbindet das Baby neu. Er streut Puder und verteilt etwas Salbe, legt dem Baby schließlich eine Windel an. Nur die Listerine gelangt nicht zum Einsatz, soweit ich sehe.
417Das Baby hört auf zu schreien.
Und während die Menge fröhlich singt und betet, wendet sich Rabbi Elbaz an mich.
»Was haben Sie geschrieben?«, fragt er mich.
Ich habe nichts über unseren kurzen Austausch geschrieben, wenn Sie das meinen, weil Sie und ich uns noch nicht zu einem Gespräch zusammengesetzt haben. Wären Sie dazu bereit?
Rabbi Elbaz antwortet nicht. Stattdessen beschreibt er mit seinem rechten Zeigefinger einen Kreis, als wäre ich ein Taubstummer, der nur die Zeichensprache versteht.
Was meinen Sie?, frage ich ihn.
Er antwortet nicht.
Und das war es.
Ich beginne mich für den Mann zu interessieren und durchforste einige Datenbanken nach ihm, nur um festzustellen, dass er vor einigen Jahren von einem israelischen Gericht für die »Begünstigung von Bestechungen und ein Komplott zu einem Verbrechen« zu einer achtmonatigen Haftstrafe auf Bewährung sowie einer Geldstrafe von 120000 Schekel, also fast 30000 Euro, verurteilt wurde. Er legte beim israelischen Obersten Gerichtshof Berufung ein, was ihm eine Erhöhung seiner Geldstrafe auf 250000 Schekel (ca. €62000) eintrug.
Na bitte.
Ich setze mich an einen Tisch, esse und trinke noch etwas und unterhalte mich mit anderen Gästen, überwiegend Sepharden, über Rabbi David aus Naharija. »Er ist ein heiliger Mann, der rechtschaffenste Mensch auf Erden«, sagt mir einer von ihnen. Als er erfährt, dass ich ihn am Vortag getroffen habe, befindet einer meiner neuen Essgesellen: »Sie sind der glücklichste Mann im ganzen Land!«
Freut mich zu hören. Ich trinke noch eine Zero und verabschiede mich langsam.
Zurück in Mea Schearim kündigt ein Auto die bevorstehende Beisetzung eines weiteren großen Mannes an.
418Juden werden geboren, Juden sterben. Der Prophet Elias ist damit beschäftigt, die Vorhäute der Neugeborenen einzusammeln, und der Messias ben David wird bald damit beschäftigt sein, Auferweckungen auf dem Ölberg vorzunehmen.
Eine Gruppe von Baalei Teschuwa, allesamt Sepharden, marschiert die Jeheskel-Straße direkt neben meinem Hotel auf und ab. Sie tragen Schilder, die Smartphones und nicht koschere Handys jedweder Art verdammen, singen und schreien und gehen jedermann auf die Nerven. Interessant ist aber, wie sie es tun. Sie unterbrechen ihren Marsch, wenn sie an einem Geschäft vorbeikommen, in dem Mobiltelefone verkauft werden, zeigen auch mal mit dem Finger auf den Ladeninhaber, brüllen oft irgendetwas und halten stets die Augen geschlossen, damit sie um Des Namens willen keine Frauen erblicken. Sie tun das jeden Tag in der einen oder anderen Straße auf Befehl ihres Rabbis, eines Aschkenasen, der der Meinung ist, Sepharden seien produktiver, wenn sie demonstrieren, als wenn sie in einer Jeschiwa sitzen und studieren. Manche dieser Baalei Teschuwa sind ehemalige Sträflinge, die zu Gewalt neigen und gelegentlich einen Charedi, wenn sie ihn mit einem Smartphone antreffen, brutal zusammenschlagen.
419Neben diesen Kerlen gibt es eine Organisation namens Rabbinisches Komitee für Kommunikationsangelegenheiten, das in der charedischen Welt als eine Art »Mafia« gilt, hinter der gar keine echten Rabbis stehen, und das oft zu gewaltsamen Mitteln greift, um Geschäftsinhaber dazu zu zwingen, ausschließlich Handys zu verkaufen, die das Komitee und nur das Komitee für »koscher« erklärt. Erst vor wenigen Tagen brachte das Komitee eine Gruppe von Männern dazu, vor einem Handyladen in Bnei Brak aufzumarschieren, zu randalieren und ihre Rückkehr anzukündigen, sollte sich der Inhaber ihren Forderungen nicht beugen.
So ist das Leben, und so geht es weiter, und niemand wird die Richtung ändern, die es nimmt. Es sei denn natürlich, das Internationale Jüdische Parlament im Saure-Gurken-Laden von Schuk Habucharim beschließt, dass das Maß voll ist, und die Mehrheit seiner Abgeordneten stimmt dafür, diese Richtung ein für alle Mal zu ändern.
Die Feiertage sind schon lange vorbei, aber das heißt nicht, dass die Leute nicht beschäftigt sind, merke ich im Lauf der Tage. Beschneidungen, Bar-Mizwas, Hochzeiten und Begräbnisse sind einfach Teil der täglichen Routine der Charedim in Mea Schearim. Und dann wären da noch die Mikwe, die Gebete, die Sabbate, die Tischs, die Rebbebesuche und die Thorastudien – um nur einige charedische Aktivitäten zu nennen.
Die Thora zu studieren, gründlich oder nicht, ist ein großes Thema. Das hier zum Beispiel habe ich gerade auf einer charedischen Webseite gelesen: »Wenn ein Mann stirbt, während er einen Talmudtraktat studiert und diesen vor seinem Tod noch nicht durchgearbeitet hat, so steht geschrieben, dass ihn der Talmudtraktat nach seiner Wiederauferstehung daran erinnern wird, auf welcher Seite er unterbrochen wurde, und ihn dazu auffordern wird, ihn [den Traktat] zu beenden.« Ja, Bücher haben Persönlichkeiten, Münder haben sie auch, und sie sagen mehr, als es Rabbi Elbaz je tun wird.
420Durch ihren geschäftigen Lebensstil, ganz zu schweigen von den Gemachs überall, den zinsfreien Kreditfonds, führen die Charedim ein zufriedeneres Leben als der Rest von uns. Obwohl ihre Beschäftigungsrate soeben veröffentlichten Berichten zufolge unter der des israelischen Durchschnitts liegt, für Frauen bei 83 Prozent und für Männer bei 46 Prozent, sind sie ein fröhliches Völkchen. Ausgehend von vier bis fünf Jahre alten Statistiken, den jüngsten, die ich zum Thema Zufriedenheitsrate finden konnte, geben 98 Prozent der Charedim an, dass sie mit ihrem Leben zufrieden sind, was mehr ist als in jedem anderen Segment der Gesellschaft, während nur elf Prozent von ihnen sagen, dass sie sich einsam fühlen – der geringste Prozentsatz unter allen Gruppen, die von Israels Zentralem Statistikamt erfasst werden.
Die Charedim, die zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, fast 13 Prozent der israelischen Gesellschaft ausmachen, haben ein gutes Leben. Viele von ihnen, vor allem die Chassidim (ohne Berücksichtigung von Höfen wie etwa Ger), sprechen Jiddisch, eine Sprache, die sie mehr als alles andere eint. Gott selbst spricht Jiddisch, das möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen. Ja. Und nur für den Fall, dass Sie noch nicht begriffen haben, was das heißt, lassen Sie es mich wiederholen: Wenn sich diese Chassidim auf Jiddisch über den Esel des Patriarchen Abraham, die große Auferstehung oder den Propheten Elias unterhalten, wie er überall herumfliegt, nicht zu vergessen die weißen und schwarzen Engel, dann hat es keinen Sinn, sie nach den genauen Details zu fragen. Genau zu sein bringt einem etwas, wenn man in Stuttgart lebt und für Mercedes arbeitet, nicht wenn man in Mea Schearim lebt und für Gott arbeitet. Manche sephardischen Charedim, die sich gerne besonders gottgefällig geben, brechen sich die Zunge ab beim Versuch, Jiddisch zu sprechen. Es ist nicht leicht für sie, weil Jiddisch nicht nur eine Sprache, sondern auch ein Lebensstil und ein Prisma ist, durch das seine Sprecher die Welt sehen, aber diese Sepharden versuchen es. Bei der Brit Mila beispielsweise streuten einige der Sepharden, mit denen ich 421mich unterhielt, hie und da jiddische Wörter ein. Aber ihr Jiddisch war so schlecht, dass es eine Qual war, ihnen zuzuhören.
Einfach gesagt: Man kann ein Bündel strenger Takunes in den Kopf eines jiddischsprachigen Chassid herunterladen, aber viel wird davon nicht hängenbleiben. Die Gerrer Chassidim, die wenig bis gar kein Jiddisch sprechen, sind eine andere Geschichte. Daher ihre großen Kämpfe und ihr striktes Verhalten.
»Es gibt jemanden in Hatzor Haglilit«, erreicht mich eine Nachricht, »der gerne mit Ihnen über die Ger-Thematik sprechen würde.«
Soll ich da hinfahren?