463Es ist Gottes Wille, dass charedische Litwakim arm sind

Kommt ein jiddischsprachiges Kamel in eine Jeschiwa

Ich war noch nie in der Wolfson-Jeschiwa, ja, ohne die Textnachricht des Unbekannten Studenten wüsste ich nicht einmal, dass sie überhaupt existiert.

Als ich mich auf dem Weg dorthin nach ihr erkundige, sagt man mir, sie sei eine der besten litwakischen Jeschiwas im Land.

Das freut mich.

Dort angelangt betrete ich das Gelände, einen großen Hof vor dem Studiensaal, wo ich mit einigen Studenten ins Gespräch komme, die sich fragen, was mich in ihre Jeschiwa führt. Ich weiß nicht, ob der Mann, der mich hierher eingeladen hat, unter ihnen ist, jedenfalls gibt er sich nicht zu erkennen.

Ich erzähle den Studenten, dass ich ein Autor bin, der über die charedische Welt schreibt, und dass ich sie gerne interviewen würde. Als sie das hören, bitten sie mich herein.

Im Studiensaal setze ich mich auf den ersten freien Stuhl, in der ersten Reihe, wo normalerweise ihre Rabbis sitzen. Von denen kurz darauf auch einer erscheint. Er staunt mich an, wie man ein Kamel in einem Bordell anstaunen würde, und scheint sich zu fragen, was ein Wesen wie ich an einem heiligen Ort wie diesem macht, zumal in einem für Rabbis reservierten Bereich. Ich begrüße ihn auf Jiddisch, eine Sprache, die er zwar versteht, aber nicht sprechen kann, sodass er nicht weiß, wie er sich mit mir verständigen soll. Er setzt sich zwei Plätze links von mir hin und schlägt ein Buch auf. Wahrscheinlich will er mir etwas sagen, aber was kann ein Litwak, der kein Jiddisch spricht, einem jiddischsprachigen Juden sagen? Nicht viel. Er beißt sich auf die Lippen, auf seinem Gesicht zeigen sich die ersten Anzeichen von Frustration und Ärger, und offensichtlich wünscht er sich, dass ich mich sofort in Luft auflöse.

464Seine Studenten, denen das Leiden ihres Rabbis nicht entgeht, fragen mich, ob es mir etwas ausmachen würde, mich zu ihnen nach draußen zu setzen, an den Eingang zum Studiensaal. 

Okay, sage ich.

Ich gehe raus, gefolgt von fünf Studenten.

In kürzester Zeit haben sich uns etwa 20 weitere angeschlossen, die alle wissen wollen, was das jiddischsprachige Nichtkamel in ihrer Jeschiwa macht. Schon bald tauchen noch mehr Studenten auf, halten einen gewissen Abstand und fixieren mich, als wäre ich ein Ausstellungsstück, das ein Jerusalemer Museum in ihrer Jeschiwa aufgestellt hat.

Die Studenten um mich herum reden allesamt. Jeder hat eine Frage oder Anmerkung, mit der er an eine Frage oder Anmerkung anknüpft, die seine Kommilitonen gerade geäußert haben.

Sie wollen wissen, sagen sie mir, warum ich ausgerechnet hier aufgetaucht bin, jetzt im Ernst.

Ich bin hierhergekommen, um etwas über euch zu erfahren.

»Was zu erfahren?«

Was ist euer Schnitt (Spezialgebiet)? Was beispielsweise bietet diese Jeschiwa, das man an anderen Jeschiwas nicht findet?

»Warum wollen Sie das wissen?«

Nun, da ich über die Welt der Charedim schreibe und da ich hier bin, bin ich neugierig darauf, was euch von anderen unterscheidet.

»Waren Sie schon in anderen Jeschiwas?«

Ja, war ich.

»Und was ist deren Schnitt?«

Weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gefragt.

»Warum fragen Sie dann uns?«

Ich stelle an jedem Ort, den ich aufsuche, andere Fragen, was immer mir in den Sinn kommt. Wenn ich jeden das Gleiche fragte, würde ich mich langweilen.

»Sie waren in der Hebron-Jeschiwa, nicht wahr?«

Ja, war ich.

465»Haben Sie die nach ihrem Schnitt gefragt?«

Nein.

»Haben Sie herausgefunden, was ihr Schnitt ist?«

Darüber muss ich nachdenken.

»Was haben Sie die gefragt?«

Andere Dinge.

»Warum haben Sie uns nach unserem Schnitt gefragt?«

Ist mir so in den Sinn gekommen.

»Aus welchem Grund ist Ihnen das in den Sinn gekommen?«

Ich habe keine Ahnung. Es ist mir einfach in den Sinn gekommen.

»Als Sie hierherkamen, kamen Sie also nicht, um herauszufinden, was unser Schnitt ist.«

Nein, das tat ich nicht.

»Warum kamen Sie dann hierher, zu uns?«

Ich erhielt eine Nachricht von einem von Ihnen, der mich hierher einlud.

»Von wem?«

Ich kann seinen Namen nicht nennen, aber soweit ich weiß, könnte er einer von Ihnen sein.

»Wenn Sie herausfinden, was unser Schnitt ist, werden Sie es dann schreiben?«

Vielleicht.

»Werden Sie positiv oder negativ über unseren Schnitt schreiben?«

Das hängt vom Schnitt ab.

»Werden Sie im Allgemeinen positiv oder negativ über die Charedim schreiben?«

Das weiß ich noch nicht; darüber muss ich noch nachdenken.

»Aber was haben Sie im Kopf?«

Das versuche ich herauszufinden.

»Wie machen Sie das?«

Ich spreche mit Leuten.

»Sind Sie wie alle diese Journalisten, die zu Yoilish Krauss gehen, und der erzählt ihnen dann, dass es die Graffiti gegen die 466Zionisten auf den Straßen von Mea Schearim nur gibt, weil die Anwohner verhindern wollen, dass sich Baalei Teschuwa im Viertel ansiedeln …?«

Ich habe das von ihm gehört.

»Dann sind Sie wie sie: Sie gehen zu Krauss und Hirsch und werden dann schreiben, wie verrückt wir sind.«

Eher nicht. Ich spreche mit vielen Menschen, sehr vielen. Ich lebe tatsächlich in Mea Schearim.

»Sie leben in Mea Schearim?«

So ist es.

»Warum Mea Schearim? Es gibt noch viele andere charedische Viertel neben Mea Schearim. Warum leben Sie nicht hier, in Bajit Vegan?«

Gerade jetzt bin ich ja hier, oder?

»Ja, das stimmt. Wie finden Sie uns so weit?«

Ihr scheint ein ganz netter Haufen zu sein.

»Was an uns ist nett?«

Finden Sie sich selbst nicht nett?

»Die Frage ist: Warum halten Sie uns für nett?«

Und so geht es endlos, endlos weiter. Ich bin hierhergekommen, um sie zu interviewen, letztlich aber interviewen sie mich. Großartig!

Und sie haben Fragen ohne Ende.

Sie sind, mit einem Wort, Litwakim.

Wir sprechen fast zwei Stunden miteinander, von denen ich keine Sekunde missen möchte.

Während wir so palavern, kommen zwei weitere Rabbis vorbei, die kurz innehalten, um sich dieses seltsame Zusammentreffen zwischen ihren Studenten und mir anzuschauen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sind sie nicht glücklich, sagen aber nichts. »Das ist der Schnitt unserer Jeschiwa«, meint einer der Studenten. »In dieser Jeschiwa lassen uns die Rabbis so sein, wie wir sind. Gewiss gibt es rote Linien, wie in jeder Institution, aber wenn man die nicht überschreitet, mischen sich die Rabbis hier nicht ein.«

467Das ist gut. Die älteren Studenten, erzählt er mir stolz, dürfen sogar die Bibel studieren, wenn sie wollen.

Wahnsinn!

Da diese Jungs hier Litwakim sind, muss natürlich mindestens einer der Erklärung, die man mir gerade gegeben hat, entschieden widersprechen – und wie es so geht, steht dieser eine direkt neben mir und sagt: »Der Grund, warum die Rabbis nichts gesagt haben, als sie uns im Gespräch mit Ihnen sahen, ist ein anderer!«

Was ist der Grund?

Sie haben keinen Mumm!

Ich mag diese Jeschiwajungs und genieße ihre endlosen Fragen. Trotzdem vermisse ich das eine, was die Chassidim haben und sie nicht – und Sie wissen, was es ist: einen Sinn für Humor. Ich weiß nicht warum, aber genau in diesem Moment kommt mir das Widduj, das Sündenbekenntnis von Jom Kippur, in den Sinn.

Der Gebetstext ist für Chassidim und Litwakim derselbe, wie er jedoch vorgetragen wird, ist ein Schauspiel der Gegensätze.

Der Litwak schlägt sich für jede Sünde, zu der er sich bekennt, auf die Brust, beginnend mit Oschamnu, Bogadnu, Gosalnu, Dibarnu dejfi (wir haben gesündigt, wir haben betrogen, wir haben gestohlen, wir haben schlecht geredet) und so weiter. Er schlägt sich so fest auf die Brust, dass es an ein Wunder grenzt, wenn er keinen Herzinfarkt erleidet, bis er mit allen Sünden durch ist. Der Chassid dagegen verfährt anders: Auch er schlägt sich für jede Sünde an die Brust und bekennt sich zu den schrecklichsten Missetaten, und er spricht dieselben Worte, wenngleich mit chassidischem Akzent, zwischendurch aber singt er. Das klingt dann so: Uschamni, ta, ta, ta, la, la, la, oh, oh, oh, Bugadni, ba, la, ba, la, ba, la, da, da, da, ja, ja, ja, Gusalni, pam, pam, pam, oo, oo, oo, li, li, li, li, ma, ma, ma, mu, mu, mu, Dibarni doifi, jom, jom, jom, tam, tam, tam, tam, tam, tam, la, la, la, la, pom, pom, pom.

Der Litwak, der dazu erzogen wurde, nach Wissen und Vernunft zu streben, sieht ein, dass er solche schrecklichen Taten – 468Oschamnu, Bogadnu, Gosalnu, Dibarnu dejfi usw. – ernst nehmen muss, wenn er sich zu ihnen bekennt und um Vergebung für sie bittet. In der Hoffnung, dass ihm Der Name vergeben wird, wenn er körperliche Schmerzen erleidet, schlägt er sich so fest auf die Brust, wie er kann. Der Chassid, der dazu erzogen wurde, sich seines Glaubens zu erfreuen und ihn aus sich herauszusingen, sieht ein, dass es da einen Text gibt, den er lesen muss, weil das die Tradition ist, und er wird sich sogar an die Brust schlagen, wenngleich nur leicht, und hoffen, dass er, wenn er laut genug singt und leicht genug schlägt, genügend weiße Engel erzeugen wird, die ihm in Zeiten der Not helfen können.

Auf jeden Fall lerne ich, ob Sie es glauben oder nicht, noch vor dem Ende des Tages einen weiteren Litwak kennen, der an einer anderen Jeschiwa studiert. Wir treffen uns in seiner Wohnung, die überwiegend mit Plastikmöbeln bestückt ist. Reich ist der Mann nicht.

Er erzählt mir von den schrecklichen »Tieren«, die durchs Land streifen, den Zionisten, die den Charedim alles Geld stehlen, möge Der Name sie alle auf einen Schlag töten, sagt er, und mögen sie danach alle in der Hölle landen.

Wie haben die Zionisten Ihr Geld gestohlen?

»Bisher wurden Jeschiwaschüler vom Staat dafür bezahlt, dass sie in der Jeschiwa sitzen und die Thora studieren, jetzt aber wurde eine neue zionistische Regierung in Israel eingesetzt, die unsere Bezüge um zwei Drittel gekürzt hat. Schande über sie!«

Die Charedim mögen die gegenwärtige israelische Regierung nicht, denn sie halten sie für anticharedisch. Eines der von ihnen am heftigsten abgelehnten Regierungsmitglieder ist Jair Lapid, der Sohn von Tommy Lapid, seinerzeit Vorsitzender einer nicht mehr existierenden Partei, die als anticharedisch galt. »Sehen Sie nur, wer der Koalition angehört«, sagt mein Litwak. »Jair Lapid!« 

Ohne auf einzelne Namen einzugehen, möchte ich Sie fragen: Die Vorgängerregierung setzte sich auch aus Zionisten zusam469men, und von ihnen erhielten Sie eine großzügige Thora-Beihilfe oder wie das heißt. Waren Sie ihnen dankbar, diesen Zionisten?

»Die Zionisten, egal welcher Couleur, haben mir nie irgendetwas gegeben; das ist völlig falsch.«

Wer gab Ihnen dann das Geld, bevor die neue Regierung an die Macht kam?

»Der Name.«

Um es recht zu verstehen: Bevor diese Zionisten die zwei Drittel kürzten, war es Gott persönlich, der das Geld auf Ihr Bankkonto überwies, direkt aus dem Himmel auf Ihr Girokonto. Stimmt das?

Er schaut mich an, meine Wenigkeit, diesen Idioten, der nicht genügend Hirn hat, um die einfachsten Dinge zu begreifen: »Wollen Sie mir sagen, dass Sie es gutheißen, was die Regierung tut? Wissen Sie was? Es ist egal. Es ist der Wille Des Namens, dass wir klar sehen, wie grausam die Zionisten sind, wie sie unser Geld stehlen, und dieser Diebstahl bringt uns Dem Namen näher. Je weniger wir haben, desto näher kommen wir Ihm.«

Ist es Gottes Wille, dass Sie arm sind?

»Ja, so wie uns die Weisen in den Sprüchen der Väter darüber belehren, wie man die Thora am besten studiert: ›Iss Brot mit Salz! Trink Wasser abgemessen! Schlaf auf der Erde! Leb kümmerlich!‹«

Dann ist es Gott, der will, dass Sie kein Geld haben, nicht die Zionisten. Was ist Ihr Problem mit ihnen?

»Sie glauben nicht an Gott!«

Hätte dieser Litwak nur ein wenig Sinn für Humor, dann wüsste er, wie sinnlos seine Argumente sind.

Ich versuche, mich in den israelischen Medien über die Geldthematik schlau zu machen, und was springt mir direkt entgegen? Folgende Meldung: Im Gegensatz zu früheren Berichten streitet Rabbi Eliezer Berland jede Beteiligung an dem Mordfall ab und wird bald aus dem Gefängnis entlassen. Er wird jedoch anderer Straftaten wegen erneut eingebuchtet, um dann einige Tage später wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden.

470Ich frage mich, was Haja sagen würde, wo ihr Himmelsrichter jetzt freikommt.

Mit dieser letzten Nachricht neigen sich meine Tage in Jerusalem dem Ende entgegen.