499Bläst der Wind dir ins Haar, fliegst du von der Schule

Warum die Straßen von Bnei Brak so verdreckt sind? Weil Bnei Brak eine liberale Stadt ist

Als ich ein Kind war, nahm mich meine Mutter immer mit in die Bäckerei Katz in der Rabbi-Akiva-Straße, wo wir uns ein oder drei Stücke Apfelstrudel teilten. Der war so gut, dass ich mich heute noch an ihn erinnere, und ich hätte jetzt gern ein Stück davon, gleich jetzt!

Es ist früh am Nachmittag des folgenden Tages, und ich mache mich auf die Suche nach der Bäckerei Katz. Gibt es sie noch? So viel hat sich in dieser Straße verändert, so viele Läden haben zugemacht und neue sind eröffnet worden, dass es ein Wunder wäre, wenn Katz immer noch da ist.

Aber ja, Katz ist noch da!

Ich gehe rein und frage: Haben Sie immer noch Apfelstrudel?

Der Mann hinter der Theke nickt. Soll ich Ihnen einen guten warmen Apfelstrudel servieren, denselben Apfelstrudel, den wir seit 1961 anbieten?

Aber bitte!

Wahnsinn! Er schmeckt immer noch genauso, und ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind. Ich stelle mir vor, meine Mutter säße neben mir und hätte ihre Freude daran, dass ihr Sohn dieselben Leckereien verschlingt, die sie in seinem Alter so gern aß.

Nach dem Apfelstrudel gehe ich die Rabbi-Akiva-Straße entlang bis zu den berühmten Itzkowitsch-Schtiebela (Schtiebels) an der Ecke Rabbi-Akiva- und Herzl-Straße.

Itzkowitsch umfasst mehr als zehn Schtiebels, in denen israelischen Medien zufolge täglich 17000 Menschen beten, was sie vermutlich zur betriebsamsten Synagoge der Welt macht. Von außen beleidigt das Gebäude das Auge, ist man aber erst einmal 500drinnen, sieht es wesentlich besser aus. Das Schöne an Itzkowitsch ist, dass sich hier jeder zuhause fühlen kann: Charedim und Nicht-Charedim, Chassidim, Litwakim, Sephardim und ein Haufen Schnorrer jeden vorstellbaren Hintergrunds.

Aber hoppla, Itzkowitsch ist gar nicht an der Ecke Herzl.

Ja, früher einmal hieß diese Straße Herzl, nach dem Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, jetzt aber ist sie die Rabbi-Schach-Straße, benannt nach dem verstorbenen Leiter der Ponevez-Jeschiwa. Wen interessiert der Staat Israel, dieses winzig kleine Land, wenn es etwas viel Bedeutenderes zu feiern gibt, die Ponevez-Jeschiwa! Und wer weiß, noch eine Generation, und die Straße wird vielleicht Terroristen-und-Hasser-Straße heißen.

Draußen auf der verregneten Straße sehe ich ein Kind von vielleicht vier oder fünf Jahren, das alleine unterwegs ist. Der Junge trägt einen Regenschirm, der ungefähr so groß ist wie er selbst. Damit steuert er auf der nassen Straße durch Autos und Menschen hindurch, was in der belebten Straße keine Kleinigkeit ist, besonders an einem solchen Regentag. Ich kann mich nicht erinnern, dergleichen je irgendwo in NYC erlebt zu haben. Wie viele charedische Kinder ist auch dieser Junge ungewöhnlich selbständig, und ich vermute, er wird es gut haben im Leben. Wenn er erwachsen ist, weiß er vielleicht nicht, warum Gott und der Messias keine Namen haben, aber ich glaube nicht, dass ihn das übermäßig beschäftigen wird.

Einige Schritte vor mir sehe ich zwei Schilder am Eingang eines Gebäudes. Auf dem einen steht, das Erdgeschoss sei ein Lebensmittelgeschäft, auf dem anderen, es sei eine Synagoge. Welches der beiden Schilder hat recht?, frage ich ein fünfjähriges Mädchen. »Beide«, antwortet sie.

Gut!

Drei Blöcke weiter stoße ich auf dieses Plakat: »Warum ist offenes Haar für Studentinnen verboten, ihren Lehrerinnen aber gestattet? Die Antwort des Lehrers: Das nächste Mal, wenn Sie diese Frage stellen, können Sie sich eine neue Schule suchen.«

501Was ist »offenes Haar«? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Sie von Ihrer Schule fliegen, wenn Sie es wagen, dieses Thema anzusprechen.

Ein Rabbi geht an mir vorbei, ein gutaussehender Litwak mit einem großen schwarzen Hut und einem neu wirkenden Gehrock, und ich frage ihn, ob er ein paar Minuten Zeit hätte, um einem wandernden Juden zu helfen.

»Was möchten Sie gerne wissen?«

Was ist »offenes Haar«?

Bitte?

Ich deute auf das Drohplakat.

»Ach, da geht es um Haar, das ›fließt‹, im Unterschied zu Zöpfen.«

Ich möchte das verstehen: Wenn einem der Wind ins Haar bläst, wird man aus der Schule geworfen? Was ist das Problem mit fließendem Haar?

»Nicht dass ich wüsste. Wer immer das hier hingehängt hat, ist ein Idiot. Nicht alles, was Sie auf den Straßen von Bnei Brak sehen, hat mit charedischen Juden zu tun. Oft ist das, was Sie sehen, das Werk von Gestörten.«

Zufällig hat er einige Blatt selbstklebendes Papier bei sich und überklebt das Plakat. »Das sind Idioten, Idioten«, murmelt er, sichtlich wütend.

Ich möchte Sie noch etwas fragen: Warum ist Bnei Brak so schmutzig?

»Sie leben nicht hier?«

Nein. Ich lebe im Ausland.

»Wo?«

Hier und da.

»Und ist es da sauberer, wo Sie sind?«

Ich würde sagen, ja.

»Moment mal. Sind Sie Tuvia? Sie haben in der Raschbam-Straße gewohnt, als Sie ein Kind waren, richtig?«

Ja, das stimmt. Aber ich erinnere mich nicht an Sie.

»Das macht nichts.«

502Warum also sind die Straßen hier so verdreckt?

»Der kleinen Kinder wegen. Sie kaufen etwas, essen es und schmeißen die Verpackung auf den Boden. Wenn Sie das in Tel Aviv täten, würden die Leute sie anschnauzen, dass sie ihren Abfall aufheben; in Bnei Brak schnauzt niemand sie an. In Bnei Brak sind wir demokratischer und liberaler als die Liberalen von Tel Aviv!«

Sind Sie das?

»Solange es nicht um Glaubensfragen geht.«

Und warum sind die Eingänge der Gebäude so verschmutzt, mit oder ohne Verpackungen?

»Fragen Sie Rubinstein.«

Wer ist Rubinstein?

»Der Bürgermeister, wer sonst?«

In genau diesem Moment überkommt mich ein so starkes Verlangen nach einer der ausgezeichneten Frikadellen, die ich als Kind jeden Donnerstagnachmittag bei Teitelbaums Deli kaufte, dass ich sofort dorthin eile.

Aber Fehlanzeige. »Teitelbaum ist vor Jahren gestorben«, sagt mir ein Mann, der neben dem ehemaligen Deli steht. »Aber wenn Sie etwas Gutes wollen, gehen Sie zu Kurnik, zwei Blöcke die Straße runter, nach der Ampel. Das ist gut.«

503Bei Kurnik treffe ich zwei Gerrer Chassidim an: einen, der dem Gerrer Rebbe Jaakov Arje folgt, und einen Anhänger Rabbi Shauls. »Es gibt keine zwei Ger«, sagt mir der Anhänger des Rebbes, dieweil er mir einen Kartoffelkugel reicht. »Die anderen, jene anderen, über die wollen wir nicht sprechen. Sie existieren nicht!«

Was soll ich sagen? Ich hätte nicht geglaubt, dass ich das je sagen würde, aber dieser Kartoffelkugel, hier in Bnei Brak, ist mein absoluter Favorit, der allerbeste Kartoffelkugel überhaupt. Das ist keinesfalls eine Befürwortung des alten Ger, lediglich ein Bericht über einen Kugel, einen Kugel, der von einem Gerrer ausgerechnet in Bnei Brak verkauft wird.

Wird mich die Ger-Geschichte auch in Bnei Brak verfolgen?

Wir werden sehen.