540Hand in Hand gehen Gott und ich mit einer Wachtel in Kiryat Vizhnitz spazieren

Ein Rom mit Schtreimel

Zum Glück müssen sich die kleinen Kinder von Kiryat Vizhnitz nicht mit der Ger-Affäre herumschlagen.

Ich beobachte sie im Vizhnitz-Garten, einem zwei Häuserblocks langen »Garten« mit Bänken auf beiden Seiten und Spielplätzen in der Mitte, wie sie sich um eine Wachtel scharen, eine schöne Wachtel, und sie abwechselnd streicheln und versuchen, sie mit einem kleinen grünen Apfelstück zu füttern. Sie sind ganz begeistert von diesem Vogel. Was für ein Vogel ist das?, frage ich sie. »Slav«, sagen sie (Hebräisch für Wachtel).

Ist dieser Vogel ein Gerrer Chassid?, frage ich sie.

»Nein!«

Was für ein Chassid ist er dann?

»Vizhnitz!«

541Was macht ihn zu einem Vizhnitzer Chassid?

»Das ist derselbe Vogel, der auch in der Bibel erwähnt wird.«

In welchem Zusammenhang?

»Nachdem die Juden Ägypten verließen, als sie auf ihrem Weg ins Heilige Land in die Wüste geschickt wurden, beklagten sie sich beim Namen, dass sie nichts zu essen hatten, und Der Name sandte ihnen viele Slavs!«

Süße Kinder.

Alles in der charedischen Welt, vom Moment der Geburt bis zum Moment der Beerdigung, ist mit dem Glauben verbunden. Und für diese Kinder ist diese Wachtel, dieser Slav, nicht nur eine Wachtel, sondern ein biblischer Vogel, der Tausende von Jahren überlebt hat, von den Tagen der Juden in der Wüste bis zu genau diesem Moment. Von Ägypten und der Wüste bis zu Kiryat Vizhnitz, Bnei Brak. Diese Wachtel hat alles gesehen. Sie hat gesehen, wie die Juden vor Tausenden von Jahren mit schönen Schtreimeln auf dem Kopf Ägypten verließen, und sie schaut heute mal auf einen kurzen Besuch in Kiryat Vizhnitz vorbei. Wer braucht Handyverbindungen, wenn ein kleiner Vogel in seiner einen kleinen Erscheinung Tausende von Jahren verbindet! Dieser Slav ist der Beweis, o ja, der Wahrheit der Bibel. Es ist ein Vizhnitzer Vogel, mein Freund, kein Gerrer Vogel!

Als ich zu dieser Reise aufbrach, sagte ich mir: Wenn ich Glück habe, werde ich Ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, während ich durchs Land streife. Ob Sie es glauben oder nicht, ich denke, dass es mir soeben gelungen ist. Er steht hinter diesem Slav und sieht mich an. Ich gebe Ihm die Hand, und zusammen laufen wir durch den Garten von Vizhnitz, Hand in Hand, gefolgt vom Slav.

Können Sie es sehen? Sperren Sie die Augen weit auf, und Sie werden es sehen.

Dabei kann ich meinen Blick von den Kindern nicht abwenden, wie sie sich über den Slav mit der Bibel verbinden, und sehe mich selbst in ihnen. Wir sind durch einen Slav verbunden, und natürlich durch unsere Großeltern.

542Jetzt aber, glaube ich, ist es Zeit, dass ich mich mit Chaim Banet treffe, dem Mann, der mich in eine Zeit vor jedem Slav führen wird, in die Zeit des Patriarchen Abraham, zu den frühesten Anfängen der jüdischen Musik.

Sein Sohn Ruvi, einer der nettesten Menschen, die ich in Bnei Brak kennengelernt habe, holt mich in meinem Hotel ab. Aristokraten wie ich brauchen persönlichen Service, ist ja wohl klar. 

Am Studio, seit Jahrzehnten in Benutzung, hat der Zahn der Zeit schon gut genagt. Es befindet sich im Untergeschoss eines mehrstöckigen Gebäudes, und der Weg vom Aufzug ins Studio ist mit nacktem Beton geschmückt, der mich eher an einen Armeebunker in Afghanistan denken lässt.

Nach einem längeren Marsch durch die Betonwelt erreichen wir schließlich das Studio, ein Studio, das die Größe des Mannes verschleiert, der in ihm arbeitet, und gleichzeitig das Verstreichen der Zeit offenbart. Chaim und seine Frau begrüßen mich und erobern sofort mein Herz. Sie strahlen eine Wärme aus, die jeden Quadratzentimeter des harten Bodens erhellt, und begrüßen mich mit zuckerfreiem Käsekuchen, Jogurt und vielen anderen Leckereien, darunter auch Hüttenkäse. Herrlich!

Was sind die Ursprünge der chassidischen Musik?, frage ich Chaim, den legendärsten Komponisten seiner Zeit, dessen Lie543der ich seit Jahren singe, den Mann, der mit seinen bewegenden, dankerfüllten Melodien mein Herz im Innersten berührt.

Ich erwarte, dass er mir Geschichten über weiße Engel mit mindestens neun Flügeln, heilige Rebbes aus seinem Mutterland und alte Schuls erzählt, die entweder von den Nazis oder sonstigen antisemitischen Faschisten niedergebrannt wurden. Aber nein. Der Ursprung der chassidischen Musik, erklärt er mir, hängt von dem jeweiligen chassidischen Hof ab. Wurde der entsprechende Hof in Polen, Russland, der Ukraine, Belarus oder Ungarn gegründet?

Die Ursprünge der chassidischen Musik, der charedischen Musik, einschließlich der heute komponierten, liegen in den Ländern, aus denen die verschiedenen jüdischen Gruppen stammen, erläutert er. »In der Chabad-Musik liegt der Ursprung in russischen Volksliedern.« Er singt mir einige Chabad-Lieder vor und sagt dann: »Man kann den russischen Stil in ihnen spüren.« Die Melodien des chassidischen Hofs von Ger, erzählt er, gehen auf die polnische Marschmusik zurück.

Ich bitte Chaim, einen Vizhnitzer Chassid, mir von den Ursprüngen seiner Musik und der seines Hofes zu erzählen. »Viele Romalieder haben Eingang in unsere Musik gefunden«, antwortet er. Der Ursprung der Vizhnitzer Musik, erfahre ich heute, hat nichts mit irgendwelchen weißen Engeln oder dem Patriarchen Abraham zu tun.

Ups.

Chaim singt mir ein Vizhnitz-Lied mit hebräischem Text zu einer Romamelodie vor. Ich bin mit diesem Lied groß geworden und habe seine Melodie immer für die »jüdischste« gehalten, die man sich vorstellen kann, aber nein. Die Musik, die ich immer mit Jiddisch, mit den Psalmen, mit Jüdischkeit, mit den Charedim, mit Schtreimel und Kaftan in Verbindung brachte, erweist sich als Romamusik. Er singt noch einige andere chassidische Lieder und sagt mir, dass ihre Wurzeln in der ungarischen, von Roma gespielten Csárdásmusik liegen.

Csárdá bedeutet auf Ungarisch übrigens Wirtshaus.

544Ja, meine reine, geistliche, heilige chassidische Musik stammt aus einer ungarischen Kneipe. Das ist geistlich, das ist heilig, reiner Wodka.

Ja, die Wurzeln meiner jüdischen Seele reichen bis ins Romaland zurück. Wir sind, wer hätte das gedacht, Roma mit Schtreimel.

»Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagt Chaim.

Nur zu!

»Es ist eine Geschichte, die ich aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Während eines Tischs beim alten Rebbe, dem Großvater des jetzigen Rebbes von Seret-Vizhnitz, sangen die Chassidim ein bestimmtes Lied, als der Rebbe sie plötzlich mittendrin unterbrach und aufforderte, sofort mit dem Singen aufzuhören. Wir verstanden nicht, warum er wollte, dass wir zu singen aufhören; es war seltsam, aber wir sagten kein Wort; wir hörten nur auf zu singen. Nach dem Tisch ging der Rebbe mit seinem Gabbai nachhause, und der Gabbai fragte ihn, warum er unseren Gesang mittendrin so plötzlich abgebrochen hatte. Und der Rebbe antwortete: ›Dieses Lied war ein Romalied, und als wir es sangen, sah ich einen ungarischen Juden, der gerade hereingekommen war, und ich weiß, dass dieser Jude das ursprüngliche Lied kannte, mit dem ursprünglichen Text, und ich wollte nicht, dass er sich an den Liedtext erinnert, und deshalb habe ich den Gesang unterbrochen.‹ Eine Woche später war ich bei meinen Eltern und sang diese Melodie, und als meine Mutter sie hörte, kam sie zu mir und fragte: ›Chaim, was singst du denn da? Kennst du etwa den Text dieses Lieds?‹«

Was war der Text? War es etwa ein Nazi-Liedtext, ein faschistischer?

»Nein, Gott bewahre.«

Was aber war dann der Originaltext?

»Es war ein Liebeslied.«

Oy vey, vey, vey. Der Rebbe und Mama hatten Angst davor, dass sich ein Jude an den ursprünglichen Text eines Liedes über einen Rom erinnern würde, der in ein rumänisches oder unga545risches Mädchen verliebt ist, einen Text, der den rechtschaffensten aller Männer in Versuchung führen, Der Name schütze uns, und ihn dazu bringen könnte, etwas zu vergießen, das wir nicht einmal beim Namen nennen sollten, möge der Himmel uns beschützen.

Oy vey, vey, vey.

Ja. Keine weißen Engel, keine heiligen Rebbes, kein Moses, kein Abraham und kein Esel. Nur Roma. Können Sie sich das vorstellen?

Zurück in meinem Hotel, google ich ein wenig und stelle fest, dass Chaim recht hat. Es ist ein Romalied.

Aber keine Sorge. Wir, Juden, haben Heilige Rebbes.

O ja!