Impfungen – das »Bootcamp« für unser Immunsystem

Nachdem wir uns jetzt die Grundlagen der Funktionalität des Immunsystems angeschaut haben, ist der beste Zeitpunkt gekommen, sich einem weiteren zentralen Thema dieses Buches zu widmen – sprechen wir endlich über Impfungen!

Die Entdeckung und Verbreitung von Impfungen im 20. Jahrhundert ist vielleicht einer der Hauptgründe, warum Sie gerade gemütlich mit einem Tee auf der Couch sitzen und dieses Buch in den Händen halten können. Klingt drastisch? Entspricht aber statistisch gesehen der Wahrheit. Schauen wir uns dafür einmal die Daten zur Sterblichkeit in Deutschland durch die Viruserkrankung Poliomyelitis im letzten Jahrhundert an.

Anfang der 1950er-Jahre kam es zu weitreichenden Polio-Epidemien in Deutschland. Zehntausende infizierten sich, fast 10 000 Todesfälle wurden registriert. Insbesondere Kinder und Jugendliche waren betroffen. Mit Einführung der Schluckimpfung gegen das Poliovirus im Jahre 1960 in der ehemaligen DDR und im Jahre 1962 in der BRD konnten die Zahlen rapide gesenkt werden. Steckten sich beispielsweise in der BRD 1960 und 1961 noch zwischen 4000 und 5000 Menschen jährlich an, waren es 1964 und 1965 nur noch 40 bis 50 Fälle. Das entspricht einem Rückgang von 99 Prozent in wenigen Jahren – eine Quote, von der wir heute bei der Erforschung neuer Therapien nur träumen können! Der letzte Todesfall durch eine Poliomyelitis in Deutschland ereignete sich in den 1980er-Jahren und war eine absolute Ausnahme.

Das ist nur eines von vielen Beispielen für Impfungen (auf die wir gleich auch noch genauer eingehen werden), die maßgeblich zum Rückgang der Kindersterblichkeit in Europa beigetragen haben. Man möchte es sich gar nicht vorstellen, aber ohne diese medizinische Revolution wären sicher einige unserer Großeltern oder Eltern schwer an Polio, Tetanus oder Diphtherie erkrankt und vielleicht daran verstorben.

Aber wie funktioniert dieses Wunderwerk der Medizin? Wie entfalten Impfungen im Körper ihre Wirkung? Um diese Fragen zu klären, tauchen wir erneut in die mikroskopische Ebene unseres Immunsystems ein. Bitte anschnallen!

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Wie entfalten Impfungen ihre Wirkung?
Oder: Was haben eigentlich Impfungen und Milchmädchen gemeinsam?

Es war ein englischer Landarzt namens Edward Jenner, der bereits im 18. Jahrhundert etwas Faszinierendes feststellte: Milchmädchen, die sich bei Kühen mit den harmlosen Kuhpocken ansteckten, waren immun gegen die gefürchteten Menschen-Pocken. Dieser regelrechte Lifehack war unter Bäuerinnen und Bauern bereits bekannt, als Ärzt*innen noch keinen Schimmer hatten.

Bis dahin wusste man lediglich von einer Praktik namens Variolation, die bereits im Mittelalter in Asien und später im Orient durchgeführt wurde. Bei der Variolation wurde einem Menschen, der die Pocken überstanden hatte, Material aus den übrig gebliebenen Pusteln entnommen und einer gesunden Person auf eine kleine herbeigeführte Wunde aufgetragen. Was aus heutiger Sicht ganz schön eklig erscheint, war damals genial und revolutionär. Es gab aber einen Haken! Bei der Variolation verblieb ein relativ hohes Risiko, durch Reaktivierung der Viren selbst wieder schwer zu erkranken. Daher hatte sich die Methode in Europa nicht flächendeckend durchgesetzt.

Nachdem Jenner den Zusammenhang mit den Kuhpocken bemerkt hatte, fiel ihm auf, dass bei Pocken-Ausbrüchen nicht nur die Milchmädchen, sondern alle, die zuvor an harmlosen Kuh- oder Pferdepocken erkrankt waren, verschont blieben. Am geschichtsträchtigen 14. Mai 1796 impfte er dann den Sohn seines Gärtners mit Kuhpockenviren, die er zuvor aus der Pocke an der Hand einer Erkrankten gewonnen hatte. Dabei wusste er selbstverständlich noch nichts von den kleinen Mikroorganismen in den Bläschen, denn die Viren selbst wurden erst viel später entdeckt. Doch dies war die namensgebende Geburtsstunde der Vakzination (von lateinisch vacca – Die Kuh). Als Jenner den Jungen sechs Wochen später gefährlichem menschlichem Pockeneiter aussetzte, blieb dieser gesund. Gleich darauf vollzog er die gleiche Prozedur erfolgreich bei seinem eigenen Sohn und anderen Kindern. Ehrenhafterweise verzichtete Jenner auf ein Patent, damit alle Menschen Zugang zu dieser wichtigen Immunisierung erhalten konnten. Liebe Pharmafirmen, bitte eine Scheibe davon abschneiden!

Anerkennung erhielt Jenner für seine Arbeit später von historischen Größen wie Napoleon, der sein ganzes Heer nach dieser Methode impfte, oder Thomas Jefferson, dem Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika. Edward Jenner wurde zum ersten großen Impfluencer.

Was er damals entdeckte, ist noch immer das grundsätzliche Prinzip aller Impfungen: Dem Immunsystem wird zunächst etwas Körperfremdes in einer harmlosen, nicht ernsthaft krank machenden Form präsentiert. Von der Harmlosigkeit weiß das Immunsystem aber gar nichts. Es geht davon aus, dem waschechten Feind gegenüberzustehen, und antwortet mit einer umfangreichen Immunreaktion. Es werden Antikörper gebildet, man merkt sich den Übeltäter, und das Immungedächtnis wird erweitert.

Weil der Körper davon ausgeht, die Situation sei real, wird er sein Allerbestes geben und dabei ziemlich ins Schwitzen kommen, auch wenn ihm gar keine echte Infektion droht. Danach ist er gut auf den Ernstfall vorbereitet. Für manche Krankheiten reichen ein paar Testdurchläufe, um gerüstet zu sein. Für kniffligere Situationen muss die Übung in regelmäßigen Abständen wiederholt und die Kenntnisse sollten aufgefrischt werden.

Es gibt verschiedene Wege, das Immunsystem durch Impfungen zu trainieren. Einerseits existieren Totimpfstoffe, bei denen dem Körper entweder ganze, abgetötete Erreger oder nur einzelne Bestandteile zugeführt werden. Das geimpfte Material ist dann nicht in der Lage, sich im Körper zu vermehren. Eine neue, indirekte Variante der Totimpfung sind die im Rahmen der Coronavirus-Pandemie eingeführten mRNA-Impfstoffe. Dabei wird statt eines direkten Erregerbestandteils eine sogenannte Messenger-RNA injiziert. Die mRNA ist ein Bauplan, der in den Körperzellen abgelesen wird, um den Erregerbestandteil selbst vor Ort herzustellen. Das ist vergleichbar mit den Bauplänen für einen 3D-Drucker: Anstatt sich einen Gegenstand zu kaufen, wird er mittels eines Bauplans bequem zu Hause hergestellt. So macht es auch die Körperzelle, die anhand dieses Plans den Virusbestandteil selbstständig herstellt. Bei SARS-CoV-2 besteht die mRNA- Impfung beispielsweise aus dem Bauplan des Spike-Proteins. Spike-Proteine sitzen außen auf der Hülle des SARS-CoV-2-Virus, das damit an menschliche Körperzellen andockt und seinen Angriff einleitet.

Was ist der Vorteil von mRNA- gegenüber klassischen Totimpfstoffen? Bezogen auf ihre Wirksamkeit sind mRNA-Impfstoffe nicht besser oder schlechter als ihre klassischen Vorgänger. Die Herstellung des Impfstoffs ist aber deutlich einfacher und günstiger und kann bei Bedarf, zum Beispiel bei einer neuen Virusvariante, schnell nachgebessert werden.

Lebendimpfstoffe dagegen enthalten vermehrungsfähige und lebendige Erreger, die zuvor aber abgeschwächt worden sind. Sie können deshalb die gefürchtete Erkrankung nicht mehr auslösen, in seltenen Fällen aber zu einer milden und harmlosen Light-Variante der Erkrankung führen. Am bekanntesten sind die Impfmasern in Folge einer Masernschutzimpfung, die zwar nervig, aber vollkommen ungefährlich sind. Als Ausnahme müssen hier Kinder mit einer Immunschwäche, z. B. einem angeborenen Immundefekt, genannt werden. Für sie kann eine Lebendimpfung problematisch sein und darf nicht ohne Rücksprache mit Expert*innen auf dem Gebiet der Immunologie verabreicht werden.

Letztendlich führen diese verschiedenen Impfmöglichkeiten alle zur gleichen Reaktion des Immunsystems: Die körperfremden Stoffe – ob tot, lebendig oder im Labor hergestellt, ist egal – werden von Spähern des Immunsystems aufgenommen und ihren Immunsystem-Kollegen auf der Zelloberfläche präsentiert. Mit den Fundstücken geschmückt wie ein Paradiesvogel, erregen sie die Aufmerksamkeit bestimmter T-Lymphozyten, der sogenannten T-Helfer-Zellen. Diese Zellen helfen, indem sie Bericht über die Lage an noch unbekümmerte B-Lymphozyten erstatten, welche bisher gemütlich aus der Ferne zugeschaut haben. Das aktiviert die B-Lymphozyten, die daraufhin sofort mit der Produktion von Antikörpern und der Abspeicherung des Immungedächtnisses beginnen. Tada! – die Scharade ist perfekt und das Immunsystem ist unserem Trick mit den harmlosen Erregern auf den Leim gegangen. Es bildet direkt eine standesgemäße Immunantwort aus, ohne jemals ernsthaft gefährdet worden zu sein. Wie Pilot*innen, die im realistischen Simulator ins Schwitzen kommen, kann natürlich auch das Immunsystem dabei ordentlich aufflackern. Deswegen fühlen wir uns in manchen Fällen krank oder entwickeln vorübergehendes Fieber. Das ist der kleine, aber unbedenkliche Preis für dieses hyperrealistische Training.

Nimmt man alle Impfungen im Kindesalter zusammen, entspricht das einem schweißtreibenden Bootcamp, durch das wir das Immunsystem jagen. Das harte Training lohnt sich aber allemal, denn danach ist es auf (fast) alle Bösewichte da draußen bestens vorbereitet. Es ist uns dabei wichtig zu betonen, dass diese Impfungen sehr viel berechenbarer und sicherer sind, als sich mit all diesen Kinderkrankheiten ganz real anzustecken. Bei manchen Eltern hält sich hartnäckig die Auffassung, dass ein Kind »da durchmüsse«, um das Immunsystem zu trainieren. Das stimmt teilweise, aber eine akute Infektion, die immer das Risiko für einen schweren Verlauf oder auch später auftretende Komplikationen birgt, darf nicht unterschätzt werden. Die Impfung ist hier auf jeden Fall die bessere Wahl für Kind und Immunsystem. Um Ihnen das noch verständlicher zu machen, folgt nun ein kleiner Ausflug in die Geschichte verschiedener Infektionskrankheiten, die wir dank Impfungen schon fast vergessen haben.

Impfungen sei Dank – die Geschichte (zum Glück) vergessener Infektionskrankheiten

Mit den Pocken (weltweit trat der letzte Todesfall 1978 auf) und der Poliomyelitis (Europa wurde 2002 für Polio-frei erklärt) haben wir bereits zwei absolute Erfolgsgeschichten der Impfhistorie kennengelernt. Damit aber nicht genug! Es gibt weitere schaurige Krankheiten, die auch wir als Kinderärzte glücklicherweise (fast) nur noch aus Geschichts- und alten Lehrbüchern kennen. Als wichtigste Vertreter dieser Kategorie besprechen wir hier Tetanus, Diphtherie und die Masern. Achtung – es könnte gruselig werden!

TETANUS

Die meisten von uns haben erfreulicherweise im Leben noch nie einen Menschen mit einem Wundstarrkrampf (Tetanus) gesehen. Diese Erkrankung, die unbehandelt immer zum Tod führt, wird durch das allgegenwärtige Bakterium Clostridium tetani ausgelöst. Der deutsche Name der Erkrankung beschreibt ihren Ablauf sehr bildhaft: Durch eine Wunde treten die Bakterien in den Körper ein und scheiden dort Giftstoffe (Toxine) aus, die einige Tage bis Wochen nach der Ansteckung in das zentrale Nervensystem eindringen und zu schwersten Krämpfen der Körpermuskulatur führen. Diese Krämpfe sind sehr schmerzhaft, können durch das extreme Überstrecken des Rückens zu Wirbelkörperbrüchen führen und sogar einen Atemstillstand verursachen. Nach Einführung der ersten Impfung mit einem abgeschwächten Toxin im Jahr 1924 konnte die Tetanusrate in den Industrienationen rasch um über 90 Prozent gesenkt werden. Heutzutage ist Tetanus in Europa zur Rarität geworden und tritt nur bei Menschen auf, die noch nie geimpft wurden oder deren Impfung unzureichend aufgefrischt worden ist. Ein Leben ohne Tetanusschutz gleicht also einer Motorradfahrt ohne Helm und Schutzkleidung. Jede noch so kleine Wunde kann lebensgefährlich sein.

Was aber gilt es zu tun, wenn sich Kinder bei noch nicht abgeschlossener Impfserie oder Erwachsene bei vergessener Auffrischung eine Wunde zuziehen? Keine Sorge, in diesem Fall kann eine sogenannte Simultanimpfung durchgeführt werden. Dabei erhält man sowohl eine klassische Tetanus-Auffrischungsimpfung (eine aktive Immunisierung) als auch eine Injektion mit bereits fertigen Tetanus-Antikörpern (eine passive Immunisierung), die aus dem Blut freiwilliger, gesunder Spender*innen gewonnen werden. Richtig gehört! Das sind leider zwei Spritzen gleichzeitig, die auch mindestens einem der Autoren dieses Buches (welchem, wird nicht verraten) wegen einer Kopfplatzwunde im Kindesalter in die linke und rechte Pobacke gedonnert wurden. Nicht angenehm, aber sehr wirksam!

DIPHTHERIE

Den Begriff Diphtherie nehmen wir regelmäßig im Zusammenhang mit der Impfung in den Mund, ohne je selbst mit dieser furchtbaren Erkrankung konfrontiert worden zu sein.

Nach Ansteckung durch einen anderen Menschen mit dem Corynebacterium diphteriae kommt es nach wenigen Tagen zunächst zu unspezifischen Beschwerden wie Halsschmerzen, einer Lymphknotenschwellung und Fieber. Nicht selten kann die Erkrankung durch einen bellenden Husten, wie bei einem Pseudokrupp, begleitet sein. Das Heimtückische: Auch diese Bakterien produzieren ein gefährliches Toxin! Der Giftstoff führt zu einem raschen Absterben oberflächlicher Schleimhautzellen, die sich von den darunter liegenden Schichten lösen. Steigt die Entzündung in den Bereich des Kehlkopfes hinab, können sich große Areale losgelöster Schleimhaut beim Einatmen auf den Kehlkopf legen. Im schlimmsten Fall kann dies zum Ersticken führen. Nicht ohne Grund wurde die Erkrankung in früheren Generationen auch Würgeengel der Kinder genannt.

Im Gegensatz zu den Pocken ist es bisher nicht gelungen, die Diphtherie auszurotten. In Deutschland erkranken noch immer etwa zehn bis zwanzig Kinder im Jahr daran und müssen meistens intensivmedizinisch behandelt werden. Der Durchbruch in der Behandlung der Diphtherie gelang bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch die Entwicklung eines Immunserums aus Antikörpern. Diese wurden in einer komplizierten Prozedur aus dem Blut von Pferden gewonnen, die vorher mit abgeschwächten Diphtherie-Bakterien geimpft worden waren. Genauso wie die Antikörper-Therapie gegen Tetanus wurden auch diese Diphtherie-Antikörper von dem deutschen Arzt Emil von Behring entdeckt. Übrigens: Diese großartige Leistung gelang ihm in enger Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Paul Ehrlich unter Aufsicht seines Chefs Robert Koch – beide sind durch die nach ihnen benannten Institute heute jedem bekannt. Emil von Behring erhielt für seine Forschung den Nobelpreis für Medizin und die Presse gab ihm auch noch den Titel Retter der Kinder. Kinderärzt*innen sind ihm zu großem Dank verpflichtet!

MASERN

Um ein Haar hätten es die Masern nicht in dieses Kapitel geschafft. Doch leider sind sie gar nicht so vergessen, wie es uns lieb wäre. Noch im Jahr 2015 ereilte Europa eine gefährliche Masernwelle mit über 4000 gemeldeten Fällen. Traurigerweise belegte Deutschland mit einem Anteil von 63 Prozent aller Fälle den unrühmlichen Spitzenplatz. Schuld daran waren wahrscheinlich einerseits unzureichend geimpfte Erwachsene, aber auch zu spät geimpfte Kinder. Die empfohlene zweite Masernimpfung für den Zeitraum zwischen dem 15. und 23. Lebensmonat haben in Deutschland nach aktuellen Daten weniger als 70 Prozent der zweijährigen Kinder erhalten. Zudem gibt es regional eklatante Unterschiede zwischen einzelnen Landkreisen, teilweise liegen die Impfquoten sogar weit unter 50 Prozent. Für das von der WHO ausgerufene Ziel der erfolgreichen Eliminierung der Masern wären jedoch flächendeckend 95 Prozent notwendig.

Sind die Masern vielleicht aufgrund vergangener Impferfolge hierzulande in Vergessenheit geraten? Schauen wir uns noch einmal an, was diese Fieslinge eigentlich bewirken können.

Die Infektion mit Masernviren selbst ist bereits alles andere als banal. Die Erkrankung läuft in zwei Phasen ab. In der ersten, die bis zu fünf Tage andauert, bestehen unspezifische Symptome mit hohem Fieber und Halsschmerzen. Ganz charakteristisch können weißliche, nicht abwischbare Flecken der Wangenschleimhaut sein, die auch Koplik-Flecken genannt werden. Wenn das Fieber sinkt und man glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben, folgt eine zweite Phase mit massivem knallrotem fleckigen Ausschlag, sehr hohem Fieber und einem allgemein sehr schweren Krankheitsgefühl. Damit aber leider noch immer nicht genug: Die überstandene Maserninfektion hinterlässt ihre Spuren in Form einer allgemeinen Immunschwäche, die über Wochen und Monate, vereinzelt auch Jahre andauern kann. In dieser Phase sind Kinder besonders anfällig für masernassoziierte eitrige Mittelohr- oder Lungenentzündungen. Am schlimmsten, aber zum Glück selten, ist eine Komplikation, die subakute sklerosierende Panenzephalitis genannt wird. Diese Art der Maserninfektion heißt auch Slow-Virus-Infektion, weil sie erst spät nach der offensichtlichen Masernerkrankung auftritt. Der Körper wird dabei die Viren nicht mehr los, die sich dann schleichend im Bereich des zentralen Nervensystems ausbreiten und zu irreparablen Schäden an den Nervenfasern führen. Diese Komplikation kann man nicht aufhalten und der Verlauf ist immer tödlich.

Sehr kritisch ist eine Maserninfektion außerdem während der Schwangerschaft, denn sie gefährdet sowohl das ungeborene Kind als auch die Mutter. Masernviren können über die Plazenta zum Kind gelangen und eine schwere Infektion mit einem hohen Risiko für eine Fehl- oder eine Frühgeburt auslösen.

Seit dem 1. März 2020 gilt in Deutschland aufgrund der schlechten Impfquoten, und um vermeidbare Komplikationen zu umgehen, erfreulicherweise eine Masernimpfpflicht. Sie betrifft einerseits alle Kinder, die ab dem ersten Geburtstag Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen besuchen, andererseits sinnvollerweise auch das betreuende Personal. Zudem gilt die Pflicht in medizinischen Einrichtungen. Es wäre schön, wenn wir dank solcher Maßnahmen bald die Ausrottung dieser vermeidbaren und gefährlichen Krankheit erreichen würden.

STIKO-Impfkalender – der (fast) perfekte Plan

Zunächst möchten wir der ständigen Impfkommission (STIKO) ein Lob für ihre gute Arbeit aussprechen! Wussten Sie, dass alle Gremiumsmitglieder der STIKO ausschließlich ehrenamtlich tätig sind? Eine Gruppe aus höchstqualifizierten Expert*innen berät die Bevölkerung wissenschaftlich fundiert und gratis zum Schutze des Allgemeinwohls, damit wir uns im besten Fall nicht mit Entscheidungen herumschlagen müssen, deren Auswirkungen wir meist gar nicht überblicken können. Und trotz der enormen Tragweite dieser Arbeit erhalten die Mitglieder der Kommission als Gegenleistung lediglich Respekt und Anerkennung (wenn überhaupt)! Wo gibt’s denn so was? Das STIKO-Gremium ist wahrscheinlich der einzige Rat in Berlin, der in feuchten Händedrücken bezahlt wird. In anderen Branchen wäre das wohl schwer vorstellbar und ist deswegen umso bemerkenswerter.

Was aber macht die STIKO genau? Sie wurde 1972 gegründet, gehörte zunächst zum ehemaligen Bundesgesundheitsamt und wurde 1994 an das Robert-Koch-Institut (RKI) angegliedert. Die ersten Impfempfehlungen sprach die STIKO 1974 aus (zur Masernimpfung), 1976 folgte der erste offizielle Impfkalender, der seitdem ständig weiterentwickelt wird. Die Aufgabe der STIKO besteht darin, vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse auszuwerten und, anhand der Daten, allgemeingültige Impfempfehlungen auszusprechen. Dabei sollen nur die medizinische Wirksamkeit und die Risiken, ohne Berücksichtigung von Kosten, abgewogen werden. Aufgrund der großen Bedeutung der STIKO wurden ihre Existenz und Rolle 2001 gesetzlich im Infektionsschutzgesetz verankert. Kenntnisse über den aktuellen Impfkalender der STIKO gehören zum absoluten Grundwissen aller Kinderärzt*innen. Änderungen werden mit Spannung erwartet und im Rahmen der regelmäßig erscheinenden Epidemiologischen Bulletins erläutert. Dabei lohnt es sich immer, einen sehr gründlichen Blick hineinzuwerfen – sowohl für medizinisches Personal als auch für interessierte Eltern.

Den Impfkalender möchten wir an dieser Stelle nicht inhaltlich auseinandernehmen, da er sicherlich vielen Leser*innen bekannt ist und zudem regelmäßigen Updates unterliegt. Wir haben im Titel des Kapitels aber bewusst angedeutet, dass der Plan aus unserer Sicht nur fast perfekt ist. Es folgt eine kleine Manöverkritik.

EXKURS

MENINGOKOKKEN-B-IMPFUNG

Einer Aussage der STIKO geht immer eine äußerst sorgfältige und nüchterne wissenschaftliche Analyse voraus, sodass die erteilten Empfehlungen stets absolut wasserdicht sind. Gleichzeitig bringt dieses Vorgehen aber eine verzögerte Reaktionszeit mit sich. Bis nämlich genug schlagkräftige Daten in verschiedenen Studien veröffentlicht wurden, die man dann prüfen kann, dauert es mitunter eine ganze Weile. Das fühlt sich manchmal so an, als würden wir in Deutschland erst einmal die anderen die Pionierarbeit machen lassen, während wir aus sicherer Ferne beobachten.

Bitte nicht falsch verstehen! Kinder sind keine Versuchskaninchen und es ist sehr gut, zunächst wissenschaftliche Erkenntnisse abzuwarten. Bei Themen wie der Meningokokken-B-Impfung fragen sich aber immer mehr Kinderärzt*innen und Eltern, wann wir uns denn endlich aus der sicheren Beobachtung hervorwagen. Falls diese Impfung, während Sie das hier lesen, bereits in den Kalender aufgenommen wurde (denn wir sind sicher, dass es irgendwann geschehen wird), sind wir äußerst erfreut darüber.

Meningokokken sind ganz üble Gesellen – egal ob Typ C oder B! Auch uns sind solche Fälle bereits in der Notaufnahme oder Intensivstation begegnet. Zum Glück aber sehr selten.

Meningokokken können nämlich eine Hirnhautentzündung (medizinisch Meningitis genannt) auslösen, die einen schweren Verlauf nehmen und zu lebenslangen Folgeschäden wie Hörverlust, Lähmungen oder Blindheit führen können. Als wäre das nicht ernst genug, besteht zusätzlich die Gefahr einer Ausbreitung der Bakterien über die Blutbahn. Eine solche Überschwemmung des Körpers mit Bakterien nennt man Sepsis. Die Sepsis mit Meningokokken schreitet besonders schnell und gnadenlos voran, sodass die helfenden Maßnahmen meist nur noch hinterherrennen. Oft ist der Verlauf durch ein mögliches Organversagen tödlich und die überlebenden Kinder zahlen, aufgrund begleitender schwerer Durchblutungsstörungen, mit dem Verlust einer oder mehrerer Gliedmaßen häufig einen hohen Preis. Darum ist die Impfung gegen Meningokokken sehr wichtig, denn schwere bis tödliche Verläufe der Infektion können vermieden werden.

Im Jahr 1999 führte Großbritannien als erstes Land eine flächendeckende Impfung gegen Meningokokken vom Typ C ein. Es war der erste Typ, gegen den erfolgreich ein wirksamer Impfstoff entwickelt werden konnte. Die STIKO folgte diesem Schritt mit einer Empfehlung im Jahr 2006. Leider sind Meningokokken vom Typ C in Deutschland aber nicht die häufigste Form und nur an jedem fünften Krankheitsfall schuld. Es waren vielmehr Infektionen mit dem Typ B, der hierzulande dominiert, die uns in den letzten Jahren in der Klinik immer wieder begegneten. Die Entwicklung des Impfstoffes gegen diese Form war langwieriger, aber er ist bereits seit 2013 in Europa zugelassen.

Sie fragen sich, warum es die Impfung aber bislang nicht in den STIKO-Impfkalender geschafft hat? Die STIKO führt die Entscheidung auf eine bisher unzureichende Datenlage zurück. Dabei gibt es mittlerweile zahlreiche Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffes, insbesondere aus Großbritannien. Mittlerweile empfehlen in Deutschland deswegen über 90 Prozent der Kinderärz*tinnen die Impfung gegen Meningokokken-B und führen sie auch durch. Im Januar 2019 schlossen sich die drei großen deutschen kindermedizinischen Fachgesellschaften zusammen und sprachen sich für die Impfung aus. Das können wir nur mit Nachdruck unterstützen, denn mit jedem Jahr, das ohne offizielle Empfehlung der STIKO vergeht, bleiben Kinder gegen diese vermeidbare Erkrankung ungeschützt.

Besonders ärgerlich ist, dass einige Krankenkassen die Kosten der Impfung ohne STIKO-Empfehlung nicht übernehmen. Das hat unweigerlich zur Folge, dass einige Kinder aus finanziellen Gründen ungeschützt bleiben. Geld sollte hier keine Rolle spielen! Man munkelt zwar, dass die allermeisten Krankenkassen die Kosten mit etwas Nachhelfen übernehmen, das ist aber natürlich keine Lösung.

Unser eindeutiger Appell: Schützen Sie Ihr Kind auch vor Meningokokken vom Typ B!

Mythbusters: vom »unreifen« Immunsystem bis zu Impfschäden

Mythen und Verschwörungstheorien rund ums Impfen sind so alt wie Impfungen selbst. Raten Sie mal, was der erste Mythos war, der in Bayern kurz nach Einführung der Pockenimpfpflicht am 26. August 1807 die Runde machte? Ein Tipp: Mu(h)tmaßen Sie nicht zu lange! Weil das Vakzin – wie Sie schon gelernt haben – aus harmlosen Kuhpockenviren hergestellt wurde, machte sich schnell die Sorge breit, die geimpfte Person könne sich daraufhin selbst in eine Kuh verwandeln! Was sich wie die Fortsetzung von Kafkas Die Verwandlung anhört, war tatsächlich eine weitverbreitete Erzählung, und zwar europaweit. Über 200 Jahre und einige Epidemien und Pandemien später haben sich zwar die Motive gewandelt, die Mythen sind aber weiterhin präsent.

IMPFMYTHOS #1

»Ich habe gehört, dass das Immunsystem bei Babys im 1. Lebensjahr noch nicht ausreichend entwickelt ist. Es ist bestimmt gefährlich, so früh zu impfen!«

Diese Sorge ist weitverbreitet und begegnet uns oft im klinischen Alltag, gehört aber noch zu den harmloseren Mythen. Zunächst einmal steckt darin eine wahre Aussage: Das Immunsystem von Säuglingen ist tatsächlich noch nicht vollständig entwickelt. Aber nur, weil das Immunsystem noch unreif ist, bedeutete das nicht, dass man es vor Impfungen bewahren muss! Genau umgekehrt: Ein unreifes Immunsystem dürstet förmlich nach Erfahrungen und Ausbildung, um einen ausreichend starken Schutzschild für das Kind bilden zu können. Vergleicht man das Immunsystem zweier Kinder an ihrem ersten Geburtstag – eines nach STIKO-Empfehlung geimpft, das andere nicht –, dann hat das geimpfte Immunsystem die Nase um Längen vorne. In seinem Blut tummeln sich bereits Antikörper gegen gefährliche Krankheiten wie Diphtherie, Tetanus, Polio, Hepatitis B oder Meningitis. Das ungeimpfte Kind hat hoffentlich keinen einzigen dieser Antikörper. Warum hoffentlich? Es müsste diese schrecklichen Krankheiten bereits durchgemacht (und überlebt) haben, um beim Antikörpervergleich mithalten zu können. Impft man ein Kind im 1. Lebensjahr nicht, unterstützt man damit die Unreife und Anfälligkeit des Immunsystems also umso mehr.

IMPFMYTHOS #2

»Impfungen sollen Autismus und andere Langzeitschäden verursachen. Das ist durch Studien belegt worden!«

Bei diesem Mythos öffnet sich ein dunkles Kapitel der medizinischen Wissenschaft. Im Jahr 1998 veröffentliche die prestigeträchtige medizinische Zeitschrift The Lancet eine Studie des mittlerweile unter Berufsverbot stehenden britischen Arztes und Chirurgen Andrew Wakefield. In dieser Publikation stellten Wakefield und weitere Autor*innen die Behauptung auf, dass die Masern-Mumps-Röteln-Impfung im direkten Zusammenhang mit chronischen Darmentzündungen und dem Auftreten von Autismus stehe. Die Studie erregte großes Aufsehen und führte in Großbritannien und anderen Ländern zu einem deutlichen Abfall der Impfquoten. In mehreren groß angelegten Überprüfungsstudien konnten die Ergebnisse von Wakefield in der Folge jedoch nicht reproduziert und somit eindeutig widerlegt werden.

Im Nachhinein wurde durch Nachforschungen des investigativen Journalisten Brian Deer bekannt, dass Wakefield bereits zwei Jahre vor Veröffentlichung seiner kontroversen Studie insgesamt etwa 500 000 Pfund als private Zahlung von einer Anwaltskanzlei erhalten hatte. Die Kanzlei vertrat Eltern autistischer Kinder und versuchte, eine Verbindung zwischen Impfungen und Autismus herzustellen, um die Hersteller des Impfstoffes auf hohe Schadenssummen verklagen zu können. Wakefield sollte die wissenschaftliche Grundlage liefern, damit die Klage Erfolg hat. Diese Gelder und Zusammenhänge legte er den Co-Autor*innen seiner Studie und der medizinischen Zeitschrift aber nicht offen, und zehn der 13 Autor*innen distanzierten sich nachträglich von dem Artikel, The Lancet zog die Studie vollständig zurück. Gegen Wakefield wurde wegen unethischer Praktiken ein lebenslanges Berufsverbot ausgesprochen. Er lebt mittlerweile in den USA und wurde zuletzt mit Ex-Präsident Donald Trump in Verbindung gebracht, der sich in seinem Wahlkampf Wakefields Narrative bediente.

Es besteht also keinerlei Zusammenhang zwischen Autismus und Impfungen.

IMPFMYTHOS #3

»mRNA-Impfstoffe verändern die Gene!«

Hierbei handelt es sich um den jüngsten Mythos im Bunde, der insbesondere seit der Coronavirus-Pandemie und der Einführung von mRNA-basierten Impfstoffen zu hören ist.

Wie bereits zuvor erklärt, ist mRNA eine abgelesene Kopie der DNA, die bei der Herstellung von Eiweißen als Bauplan dient. Angenommen, die menschliche Zelle wäre eine Fabrik, in der Proteine produziert werden: Der äußerst wichtige und wertvolle Originalbauplan (die DNA) wird in diesem Szenario in einem Tresor (dem Zellkern) aufbewahrt und darf nicht herausgenommen werden. Es wäre fatal, wenn er verloren ginge oder verschmutzt würde. Wird eine Bauanleitung benötigt, geht jemand in den Tresor und macht vorsichtig eine Kopie des Bauplans (die mRNA), die er dann in die Fabrikhalle (außerhalb des Zellkerns) zur weiteren Produktion mitnimmt. Es wäre unsinnig, die Kopie nach getaner Arbeit wieder zurück in den Tresor zu bringen und zu dem Original zu heften. Stattdessen wird sie nach dem Gebrauch einfach weggeworfen (die mRNA wird abgebaut).

Genauso läuft es auch in der Realität ab. Eine mRNA wird nicht zurück in den Zellkern gebracht und in das Erbgut eingebaut. Dieser Mechanismus existiert in der Natur zwar und wird von einigen heimtückischen Viren wie HIV zur Reproduktion genutzt. Dafür bringen diese Viren aber spezielle Enzyme mit, die sie für das Knacken des Tresors brauchen. Bei einer mRNA-Impfung ist das nicht möglich, weil solche Enzyme im Impfstoff nicht enthalten sind.

Impfungen sind also ein sehr sicheres Instrument, das man jedem gesunden Kind zumuten kann und auch sollte, um es von sehr unangenehmen Kinderkrankheiten verschont zu wissen. Es ist aber ganz natürlich, dass wir beim Thema Impfungen ins Grübeln kommen, und sehr wichtig, den Prozess genau zu verstehen. Im Zweifel sind Kinderärzt*innen nicht böse, wenn Sie bei Unsicherheiten nachfragen, das gehört zu unserem Beruf. Lassen Sie sich alles in Ruhe erklären. Wenn Sie zusätzlich recherchieren möchten, tun Sie das mithilfe von Quellen, die anhand wissenschaftlicher Studien nüchtern die aktuelle Datenlage wiedergeben. Wir können Ihnen hierfür ganz besonders die Internetpräsenzen des Robert-Koch-Instituts (www.rki.de) und des Paul-Ehrlich-Instituts (www.pei.de) ans Herz legen. Am Ende wollen wir alle – auch die Impfskeptiker*innen – für unsere Kinder nur das Beste. Das Wichtigste ist, und da wiederholen wir uns gerne: Stellen Sie Ihre Fragen an erster Stelle in Ihrer Kinderarztpraxis.

Fragen Sie vor einer Impfung auch immer, mit welchen Reaktionen zu rechnen ist. Jede Impfung kann allerdings anders verlaufen. Wurde die erste ohne Probleme weggesteckt, kann auf die nächste trotzdem mit Fieber und Krankheitsgefühl reagiert werden – und das ist okay so! Wie schon beschrieben, tut sich etwas im Immunsystem, und das ist absolut gewünscht. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass ein gewisses Krankheitsgefühl und ein Temperaturanstieg gute Indikatoren dafür sind, dass die Impfung ihren Sinn und Zweck erfüllt. Das Ausbleiben von Symptomen heißt aber andererseits auch nicht, dass keine Wirkung eintritt! Steigt das Fieber über 39 Grad an, fallen an der Haut Ausschläge wie die zuvor erwähnten Impfmasern auf oder wirkt die Einstichstelle entzündet, sollten Sie das aber stets noch einmal anschauen lassen. Auch die Gabe eines fiebersenkenden Medikaments ist nach ärztlicher Rücksprache zu befürworten.