Überernährung –
die Grundlage für ein krankes Leben

Hätten unsere Vorfahren schon To-do-Listen gehabt, hätte darauf immer ganz oben »Richtig viel essen« gefolgt von »Fettpolster aufbauen« gestanden. Nur so war ein Überleben eiskalter Winter und trockener Dürreperioden möglich. Und noch immer sind Milliarden von Menschen in ärmeren Regionen auf diese Fähigkeit angewiesen. Während Unterernährung weltweit bei Kindern weiterhin zu den häufigsten Todesursachen gehört, haben sich in den Industrienationen durch den wachsenden Wohlstand die Evolution und die gelebte Realität voneinander entkoppelt. Was früher (und für viele auch heute noch) ein überlebenswichtiger Skill unseres Körpers war, ist heute leider eine unliebsame Eigenschaft geworden. In der Welt des Überflusses, in der wir mit dem Auto zum Supermarkt fahren, um den Kühlschrank wieder vollzumachen, ist das Speichern von Energie in Fettpolstern unnötig geworden und bietet keine Vorteile mehr für das Überleben. Mittlerweile muss man sogar so weit gehen zu sagen, dass ehemals evolutionäre Vorteile in der modernen Welt in gesundheitliche Nachteile umkippen. Übergewicht (= BMI > 25) und Fettleibigkeit (= BMI > 30) haben regelmäßig relevante gesundheitliche Folgen. Bluthochdruck, Blutgefäßverengung, Diabetes, Herzkrankheiten, Organschädigungen und Schlaganfälle führen statistisch gesehen häufig zum vorzeitigen Tod. Laut den aktuellen Zahlen der WHO sind aber trotz dieser bekannten Folgen europaweit 63 Prozent der Männer sowie 54 Prozent der Frauen übergewichtig – Tendenz steigend!

Auch bei Kindern sind die Zahlen nicht weniger erschreckend: Dem RKI zufolge ist in Deutschland jedes sechste Kind übergewichtig oder sogar fettleibig. Wächst sich das mit der Zeit nicht aus? Leider wissen wir aus Studien, dass ein großer Teil der übergewichtigen Kinder auch als Erwachsene übergewichtig bleiben. Bei den Schulkindern sind es 40 bis 60 Prozent, unter den Jugendlichen sogar 70 bis 80 Prozent, die auch noch jenseits des 30. Geburtstags übergewichtig bleiben. In der Kindheit wird also bereits die Grundlage für ein ungesundes Erwachsenenleben geschaffen.

Wie konnte es so weit kommen? Die Ursachen sind vielfältig und neben der Ernährung spielen genetische Faktoren, soziokulturelle Einflüsse, mangelnde Bewegung und zu wenig Sport (dazu später mehr) eine Rolle.

Fokussieren wir hier aber die Ernährung: Wir erzählen Ihnen nichts Neues, wenn wir festhalten, dass Übergewicht dann entsteht, wenn mehr Energie aufgenommen als verbraucht wird. Gerade dann, wenn der Energieverbrauch gering ist, schaltet der Körper relativ schnell in den Speichermodus um. Aber wie kommt das Überangebot zustande? Manchmal ist Quantität das Problem und betroffene Kinder verzehren über den Tag verteilt einfach zu viele Lebensmittel. Viel öfter essen sie aber mengenmäßig gar nicht so viel mehr als ihre Altersgenossen, sondern es ist die Qualität der Speisen, die zu wünschen übrig lässt. Viele industriell erzeugte Lebensmittel sind viel zu dicht an Energie und gleichzeitig oft arm an Vitaminen und Mineralien, um für den alltäglichen Verzehr geeignet zu sein. Damit meinen wir nicht nur Fast Food, Süßigkeiten, Chips und andere Snacks. Es sind auch die vermeintlich gesunden Lebensmittel, in denen sich häufig zu viele Kalorien verstecken.

Ein reales Beispiel: Wir haben einen Patienten betreut, der von Termin zu Termin immer mehr zunahm. Seine Eltern beteuerten, es könne nicht an der Ernährung liegen. Morgens esse er nur eine Schale Müsli und trinke ein Glas Saft, tagsüber esse er in der Schule und abends gäbe es seit Wochen nur noch Salat. Wir ließen ein Ernährungsprotokoll erstellen und baten um die genauen Angaben der Mengen und der verwendeten Produkte. Das Ergebnis war erschreckend (aber nicht überraschend): Zum Frühstück aß der Junge 200 Gramm eines energiereichen Knuspermüslis, dessen Verpackung und Produktname Vitalität suggerierten. Zusammen mit der Vollmilch und dem Glas Orangensaft nahm der Junge morgens 1230 Kilokalorien und somit etwa 55 Prozent seines Tagesenergiebedarfs zu sich. Der abendliche Salat, der mit Croûtons, Fetakäse und einem fertigen Dressing angerichtet wurde, schlug mit weiteren 1000 kcal zu Buche. Somit erreichte der Junge nur mit Frühstück und Abendessen bereits seinen maximalen Tagesbedarf. Die wenig gesunden Mittagessen in der Schule taten ihr Übriges, um das Problem zu manifestieren.

Als wir den Eltern vorrechneten, dass allein das angebotene Frühstück umgerechnet 14 Stück Würfelzucker und damit mehr Kalorien als eine Fertigpizza (der gleichen Marke) hatte, waren sie baff!

Sie finden das Beispiel extrem? Es ist aber leider alltäglich. Im Zentrum des Problems stehen aus unserer Sicht immer wieder diese harmlos aussehenden Produkte, hinter denen sich Energiebomben verstecken. Die Eltern aus dem Beispiel hätten sicherlich nicht 14 Würfel Zucker in das Müsli gerührt, hätten sie es selbst zusammengestellt. Versuchen Sie daher, sich Zeit für die Mahlzeiten Ihrer Kinder zu nehmen. Wo es möglich ist, probieren Sie, auf Fertiges zu verzichten und selbst Herr*in über die Inhalte zu sein. Ihre Kinder sind davon abhängig, welche Lebensmittel Sie auswählen und in den Haushalt einführen. Ausnahmen, zum Genießen oder wenn man es eilig hat, sollen und müssen erlaubt sein, damit Kinder auch damit einen vernünftigen Umgang lernen. Ausnahmen sollten aber nicht zur Regel werden.

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Sie erkennen Ihr Kind vielleicht in diesem Kapitel wieder und möchten das Problem angehen? Der erste Schritt zur Besserung ist ein vernünftiges Ernährungsprotokoll:

  • Schreiben Sie für mindestens eine Woche detailliert auf, was Ihr Kind gegessen und getrunken hat.
  • Wo es möglich ist, versuchen Sie bitte, die Angabe auch so genau wie möglich zu machen, z. B. wie viel Milliliter in einem Glas Saft oder wie viel Gramm in der Schale mit den Frühstücksflocken enthalten waren.
  • Seien Sie ehrlich zu sich und Ihrem Kind – verändern Sie in dieser Woche nicht die Essgewohnheiten. Dokumentieren Sie einen realistischen Alltag, denn nur so kann etwas verbessert werden. Ihr Kind nimmt sich in der Regel einen ordentlichen Nachschlag oder nascht gerne nach dem Essen? Lassen Sie es für den Dokumentationszeitraum zu.
  • Seien Sie selbstreflektiert und bereit für Selbstkritik. Es hilft Ihrem Kind nicht, wenn Sie sich nicht eingestehen möchten, dass es Raum für Optimierungen gibt. Suchen Sie keinen Sündenbock. Vergangenes ist vergangen – schauen Sie in die Zukunft.
  • Stellen Sie sich mit dem Ernährungsprotokoll in der Kinderarztpraxis Ihres Vertrauens zur Beratung vor. Versuchen Sie, auch die Unterstützung einer professionellen Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen.
  • Seien Sie zuversichtlich. Mit Geduld, Durchhaltevermögen und professioneller Begleitung lassen sich schlechte Ernährungsgewohnheiten auflösen. Wir kennen viele Familien und Kinder, denen der gesunde Lebenswandel gelungen ist.