Wie beeinflusst Bewegung unser Leben von Anfang an?

Es lebe der Sport!

Er ist gesund und macht uns hart.

Er gibt uns Kraft, er gibt uns Schwung.

Er ist beliebt bei Alt und Jung.

AUS »ES LEBE DER SPORT« VON REINHARD FENDRICH

Auch wenn er vielleicht nicht jeden, wie im zitierten Liedtext behauptet, wirklich abhärtet, so stimmen doch zumindest die beiden anderen Kernaussagen der Strophe: Sport ist gesund und sowohl Erwachsene als auch Kinder sollten ihn lieben. Denn ohne ihn würde die Welt ganz anders aussehen – und nicht nur die Welt, sondern vor allem die Menschen. Denn für fast alle gilt: Wer sich nicht bewegt, wird dick.

Dick. Zugegebenermaßen kein unproblematischer Begriff. Schon gar nicht in der heutigen Zeit, in der schon Kindern und Jugendlichen von sozialen Medien ein gleichermaßen unrealistisches wie ungesundes Körperideal suggeriert wird. Deshalb nutzen wir an dieser Stelle besser den medizinischen Terminus technicus: Übergewicht. Ab wann ist ein Mensch überhaupt übergewichtig? Und ab wann ist das Übergewicht ein Problem?

Zur Beantwortung dieser Fragen benötigen wir eine objektive und belastbare Kenngröße. Das Körpergewicht ist dafür allein natürlich unbrauchbar. Nur zu wissen, dass eine Person 65 Kilogramm wiegt, liefert uns noch keine Auskunft darüber, ob es sich um Norm-, Über- oder Untergewicht handelt. Bei der Körpergröße verhält es sich natürlich ähnlich. Die gängigste Formel, die zur Bewertung des Übergewichts verwendet wird, ist der Body-Mass-Index (BMI). Zwar ist auch der nicht unproblematisch, aber dazu später mehr.

Der BMI wird folgendermaßen berechnet: Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Meter. Also z. B. 65 Kilogramm Gewicht bei einer Körpergröße von 1,7 Metern ergeben einen BMI von 22,5 – Normalgewicht. Ab einem BMI von 25 sprechen wir von Übergewicht oder Präadipositas. Ab einem Wert von 30 handelt es sich um behandlungsbedürftige Adipositas.

Der männliche deutsche Durchschnittsbürger kommt bei 178 Zentimetern und stolzen 82,4 Kilogramm auf einen BMI von 26,1. Genug gesagt? Sollen wir an dieser Stelle überhaupt weitermachen? Lassen Sie sich das ruhig einmal auf der Zunge zergehen: Der deutsche Durchschnitt(sbürger) ist übergewichtig! Man kann vom BMI halten, was man will, aber bei all seinen Schwächen, was eine einzelne Person angeht, ist er doch aufschlussreich, wenn es um den Bevölkerungsdurchschnitt geht.

Der BMI scheint auf den ersten Blick eine geniale und halbwegs einfache Unterscheidung von dick, normalgewichtig und dünn zu ermöglichen, entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als sehr ungenau. Denn er sagt nichts über die Statur, das Geschlecht und die Körperzusammensetzung der Person aus. Der Fettanteil und die Muskelmasse werden in einen Topf geworfen und eine sehr sportliche Person mit 81 Kilogramm bei 180 Zentimetern hat den gleichen BMI wie eine Couch-Potato, die zuletzt vor 10 Jahren Sport gemacht hat und bei der gleichen Körperlänge auch 81 Kilogramm auf die Waage bringt. Wenn Sie bereits den Taschenrechner gezückt haben, sehen Sie es auf dem Display: Beide Personen in unserem Beispiel wären laut dieser Definition übergewichtig mit einem BMI von exakt 25.

Aber die schlechten Nachrichten zum Übergewicht reißen leider nicht ab. Wie wir bereits wissen, ist etwa jedes sechste Kind in Deutschland übergewichtig oder adipös. Unter den 11- bis 13-Jährigen ist es sogar jedes fünfte! Das bedeutet, dass sich in jeder Schule in Deutschland mehrere Hundert übergewichtige Kinder auf die verschiedensten Jahrgänge verteilen.

Und diese Zahlen spiegeln sich auch in unserem Klinikalltag wider. Dafür ist es gar nicht notwendig, in eine Diabetes-Ambulanz zu gehen oder eine Adipositas-Sprechstunde zu besuchen. In jeder Notfallambulanz und ebenso bei niedergelassenen Kinderärzt*innen nimmt die Zahl der übergewichtigen Patient*innen in den Wartezimmern dramatisch zu.

Und nicht nur das: Der Kampf der Mediziner*innen gegen die Windmühlen der ungesunden Ernährung und des Bewegungsmangels scheint immer schwieriger. Denn auch die Grundeinstellung zur Gesundheit und zur Krankheitsvorbeugung scheint sich zu verschieben. Viele Kinder erwähnen auf Nachfrage, dass sie mit Sport nur in der Schule in Berührung kommen. Was sie am liebsten machen? Zocken. Oder sie schauen bis tief in die Nacht hinein Serien auf Netflix, für die sie eigentlich noch mindestens 5 Jahre zu jung sind. Gemüse? Ja, doch, ab und zu Kartoffeln. Frittiert. Viele Eltern resignieren und erwähnen achselzuckend, dass »er ja nur mehr an der Konsole hängt« oder »sie gar nicht mehr rausgeht, um sich mit anderen Kindern zu treffen«. Und der Kleinste? »Der isst außer Pommes und Nudeln ohne Sauce sowieso nichts.« Das klingt vielleicht hart, und wir wollen auch nicht alle Kinder über einen Kamm scheren, aber so erleben wir es tatsächlich jeden Tag in unserer ärztlichen Tätigkeit, und die Zahlen sprechen, wie Sie gesehen haben, leider auch für sich.

Eine weitere erschreckende Entwicklung ist für uns in der Kinderkrebsmedizin erkennbar. Wenn übergewichtige Kinder an Krebs erkranken, kommt es fast immer in den Monaten nach Diagnosestellung unter der harten Krebstherapie zu einem deutlichen Gewichtsrückgang. Das Verblüffende ist aber, dass fast alle dieser Kinder nach der Behandlung innerhalb weniger Monate wieder ihr Ausgangs(über)gewicht erreichen. Auch wenn ein Schicksalsschlag wie eine Krebserkrankung alles auf den Kopf gestellt hat, so bleiben am Ende viele der ungesunden Gewohnheiten, seien es der Bewegungsmangel, das ungesunde Essen oder die zuckerhaltigen Getränke, leider erhalten. Wir und unsere Kolleg*innen können da leider nicht viel ausrichten. Nicht alle Eltern schaffen es, eine so gesunde Ernährungsroutine einzuführen, wie wir sie im vorausgegangenen Abschnitt vorgeschlagen haben. Das Gleiche gilt für das Einführen einer Bewegungsroutine.

Auch wenn es Ihnen als erwachsene Person vielleicht schwerfällt, körperliche Aktivität in den Alltag zu integrieren (wir möchten natürlich keine falschen Anschuldigungen erheben, aber wer sich angesprochen fühlt, kann nun die Ohren spitzen), es ist nie zu spät, bei Ihrem Kind damit zu beginnen. Und wer weiß? Es könnte ja sein, dass auch Sie Ihre Gewohnheiten ändern und vom Sport profitieren. Denn er ist natürlich keineswegs Mord, wie das Sprichwort besagt – im Gegenteil: Das probateste Mittel, um so nah wie möglich an die Unsterblichkeit heranzukommen, ist und bleibt die körperliche Aktivität.

Das hat auch die WHO erkannt. In ihrem globalen Aktionsplan für mehr physische Aktivität positioniert sie sich klar für mehr Bewegung und Sport in der Allgemeinbevölkerung und wirbt dafür unter dem Motto »Mehr aktive Menschen für eine gesündere Welt«.

Manche fragen sich nun vielleicht, ob man wirklich vorgeben muss, wie viel sich ein Kind bewegen sollte. Viele Eltern haben den Eindruck, dass die Kleinen ohnehin kaum zu bremsen sind, nicht stillhalten können und sich vor allem abends, wenn es ans Pyjamaanziehen und Zähneputzen geht, zu wahren Hochleistungssportler*innen entwickeln. Wieso ist es dann trotzdem möglich, dass schon Kleinkinder und Grundschüler*innen übergewichtig sind? In dieser Altersgruppe ist es meistens nicht der Bewegungsmangel, sondern die schlechte oder falsche Ernährung, die zu Übergewicht führt.

Bei älteren Kindern wird jedoch der Bewegungsmangel schonungslos als bad boy identifiziert. Während es »nur« einer von vier Erwachsenen nicht schafft, die globalen Empfehlungen der WHO für körperliche Aktivität zu erfüllen (weiter unten haben wir die konkreten Empfehlungen in einer Tabelle für Sie aufgeführt), so sind es drei von vier (!), genauer gesagt 81 Prozent der Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren, die diese Ziele klar verfehlen. Und wenig überraschend, aber trotzdem dramatisch ist die Tatsache, dass der Grad an Bewegung auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes einhergeht. Je besser es der Bevölkerung nämlich geht, desto weniger bewegen sich ihre Kinder. Gründe hierfür sind die gesteigerte (Auto-)Mobilität der Familien, der Überfluss an Spielzeug und vor allem technischen Gerätschaften wie Handys und Spielkonsolen und dass die Kleinen bei ihrer Freizeitgestaltung häufig schon in jungen Jahren auf sich allein gestellt sind. Gerade in der Corona-Pandemie hat sich durch Schul- und Kitaschließungen und gleichzeitiges Homeoffice der Eltern dieses Phänomen in vielen Familien manifestiert. »Beschäftige dich mal allein und such dir was zum Spielen, solange ich hier noch am Arbeiten bin.« Kinder, die es nicht gewöhnt sind, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, und keine Nachbarskinder in der Nähe haben, mit denen sie um die Häuser ziehen können, werden im besten Fall ein Buch lesen (aber auch dafür brauchen gerade kleine Kinder die elterliche Begleitung), viel häufiger aber werden sie abhängen, daddeln, zocken, nichts tun oder aus Langeweile etwas essen. Es wäre deswegen gut, hier ein Auge auf die Gestaltung der Freizeit zu haben und Bewegungsroutinen zu etablieren, wenn möglich.

Wir erzählen Ihnen selbstverständlich nichts Neues, wenn wir offenlegen, dass es zahlreiche wissenschaftliche Studien gibt, die den positiven Effekt von Sport auf das physische und psychische Wohlbefinden nachweisen. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick. So konnte eine Gruppe von Forschenden etwa zeigen, dass lebenslanges (!) Training nicht zur Abnutzung und dem Verschleiß von Muskeln und ihrem Stoffwechsel führt, sondern im Gegenteil zur bestmöglichen Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter. Es senkt in Konsequenz sogar die Sterblichkeit. Körperliche Aktivität spielt aber auch eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung von psychischen Problemen, wirkt sich positiv auf Menschen mit Depressionen und Angstzuständen aus und verbessert so insgesamt die psychische Gesundheit, die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl.

Und Bewegung ist nicht nur gut für Körper und Seele, sondern auch für den Intellekt von Kindern. Eine Studie des Journals PLOS ONE ergab, dass Kinder, die sich mehr bewegen, in den darauffolgenden Jahren bei Prüfungen in Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften besser abschnitten. Eine vorangegangene Studie aus dem Jahr 2008 kam zu ähnlichen Ergebnissen. Sie zeigte, dass Schüler*innen, die bei Fitnesstests gut abschnitten (bei denen die Langzeitausdauer, Kraft, Flexibilität und Körperbau gemessen wurden), auch bei standardisierten Tests bessere Ergebnisse erreichten als sich weniger bewegende Altersgenoss*innen.

Was ändert sich, wenn mehr Kinder im Park Ball spielen, im Schwimmunterricht Schwimmen lernen, im Leichtathletikverein sind oder Yoga machen? Es ist eine Investition in die Gesundheit der späteren Erwachsenen. Regelmäßige körperliche Betätigung schützt uns Menschen vor den häufigsten und somit wichtigsten nicht übertragbaren Krankheiten, also Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie z. B. Bluthochdruck, Schlaganfall, Diabetes, Brust- und Darmkrebs. Außerdem ist sie unerlässlich, um Übergewicht vorzubeugen, und verbessert, wie gesagt, allgemein unsere psychische Gesundheit und Lebensqualität. Außerdem wirkt eine rechtzeitig eingeführte Sportroutine einem späteren Auftreten von Demenz entgegen.

Doch wie viel Bewegung empfiehlt die WHO nun für Kinder? Das haben wir für Sie in der folgenden Tabelle zusammengefasst.

AUF EINEN BLICK
Die Bewegungsempfehlungen der WHO

Alter

Empfehlung

Definition

< 1 Jahr

mehrmals täglich

interaktives Spielen
(davon 30 Minuten Bauchlage)

1–2 Jahre

180 Minuten

jegliche Intensität, einschließlich mäßiger bis starker körperlicher Betätigung

3–4 Jahre

180 Minuten

mind. 60 Minuten mäßige bis starke Intensität

5–17 Jahre

60 Minuten

mäßige Intensität

+ dreimal pro Woche

intensive Anstrengung

Beispiele:

Mäßige bis starke körperliche Betätigung bei 1- bis 2-Jährigen: Fangenspielen, Laufradfahren, Spielplatz

Starke Intensität bei 3- bis 4-Jährigen: Ballspielen, Trampolinhüpfen, Fahrradfahren

Mäßige bis starke Intensität bei 5- bis 17-Jährigen: Schulsport, Spazierengehen, Spielplatz

Intensive Anstrengung bei 5- bis 17-Jährigen: Vereinssport, Turnen, Leichtathletik, Fußball o. Ä.

Für sämtliche Altersgruppen und Empfehlungen gilt der Grundsatz: je mehr, desto besser. Parallel dazu sollte die Zeit, die sitzend verbracht wird, vor allem vor dem Bildschirm, begrenzt sein.

So viel zur grauen Theorie. Doch was versteht man eigentlich unter körperlicher Betätigung? Im Zeitalter von Apple Watch und anderen Fitnesstrackern wird uns Schrittezählen allein bereits als Bewegung verkauft. Und tatsächlich, auch Gehen wird bereits als körperliche Aktivität angesehen, genauso wie Radfahren, Fitness oder andere aktive Formen der Freizeitgestaltung. Das Kriterium, wie und ob sich eine Bewegung positiv auf die Gesundheit auswirken kann, hängt jedoch maßgeblich von der Regelmäßigkeit, Dauer und Intensität ab, mit der sie durchgeführt wird.

Bereits an dieser Stelle möchten wir auf eine besondere Form der körperlichen Betätigung das Augenmerk richten: den täglichen Schulweg. Wenn dieser zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt wird, ist auch er, aufgrund der oben genannten Kriterien Regelmäßigkeit, Dauer und Intensität, die allesamt erfüllt sind, bereits ein Baustein einer konstanten Bewegungsroutine. Selbstverständlich gehört das von der Warnblinkanlage begleitete Ausladen aus dem SUV direkt vor dem Schultor nicht dazu und hat nebenbei auch noch andere negative Einflüsse auf das Kind: Laut ADAC fehlt es Kindern, die die allermeisten Wege nur passiv mit dem Auto zurücklegen, an der notwendigen Entwicklung von Risikobewusstsein und Verständnis für den Straßenverkehr. Und auch das Unfallrisiko ist für Kinder erhöht, wenn sie lediglich im Pkw der Eltern mitfahren und nicht selbstständig zu Fuß unterwegs sind.

Und ja, gefühlt gibt es kaum einen Berg oder Hügel, den unsere Eltern und Großeltern nicht auf dem täglichen Weg zur Schule überwinden mussten, aber die Zeiten haben sich geändert. Welche Kinder absolvieren ihren Schulweg heute wirklich noch zu Fuß oder mit dem Fahrrad, wenn dies mehr als 20 Minuten Zeit in Anspruch nimmt? Erschreckend wenige. Aber bitte fühlen Sie sich jetzt nicht kritisiert, wenn Sie und Ihr Kind so weit von der Schule entfernt wohnen, dass die Strecke einfach nicht gut mit dem Fahrrad oder gar zu Fuß zurückzulegen ist. Wir sprechen selbstverständlich von gut bewältigbaren Entfernungen.

Dabei sind es die einfachen Dinge des Lebens, die unsere Gesundheit maßgeblich verbessern können. Und dazu gehören eben auch vermeintliche Banalitäten wie der Schulweg. Welche anderen Möglichkeiten es außerdem gibt, Bewegung im Alltag der Kinder zu etablieren, erklären wir im folgenden Abschnitt.