Warten auf das Ende

»Wie lange noch?«

Fleetadmiral Marty Joorthan saß in seinem Pneumosessel auf dem erhöhten Kommandopodest in der Mitte der rückwärtigen Wandung der Brücke des Ultraschlachtschiffes Genia , von wo aus er einen perfekten Überblick über das beinahe fünfzig Meter durchmessende Halbrund vor sich hatte, in dem an Dutzenden von Konsolen und Arbeitsstationen die Offiziere der Schiffsführung die letzten Vorbereitungen für die Schlacht trafen.

Die Frage wurde von dem Akustikfeld vor seinem Mund aufgefangen, ihr Inhalt umgehend an die Schiffspositronik weitergeleitet und von ihr analysiert. Anschließend wurde die Frage an den Empfänger weitergegeben, der die nach Ansicht der Positronik größte Kompetenz in dem entsprechenden Fachgebiet aufwies.

Die Schiffspositronik entschied, dass sie selbst es war, die nicht nur über die notwendige Kompetenz zur Beantwortung der Frage verfügte, sondern dadurch auch am wenigsten von ihrer derzeitigen Arbeit abgelenkt werden würde. Die Frage genoss keine besonders hohe Priorität und war somit nicht wichtig genug, andere Mitglieder der Schiffsführung des Ultraschlachtschiffes in der momentanen Situation damit zu belästigen. Fleetadmiral Joorthan hatte sie außerdem in den letzten paar Millionen Basiszeiteinheiten, was etwa dreißig Minuten Schiffszeit entsprach, bereits mehrfach gestellt.

Der gesamte Vorgang beanspruchte nur wenige Millisekunden.

Direkt vor dem Admiral erschien der holografische Avatar der Schiffspositronik, die Figur einer jungen Frau, die der Fleetadmiral bei seinem Amtsantritt als Oberbefehlshaber der menschlichen Flotte – oder dessen, was noch von ihr übrig geblieben war, als Avatar festgelegt hatte. Es handelte sich um das lebensechte Abbild seiner beim Angriff auf Harjahan-4 ums Leben gekommenen, vierundzwanzigjährigen Tochter.

Zusammen mit dem Planeten war auch ihre in dem dortigen Quantencomputer gespeicherte virtuelle Manifestation untergegangen. Es war somit ausgeschlossen, ihr eine neue physische Inkarnation zu ermöglich. Der Avatar der Schiffspositronik blieb für den Fleetadmiral somit die einzige Möglichkeit, zumindest hin und wieder mit einem beinahe lebensechten Abbild seiner Tochter zu kommunizieren, auch wenn das Hologramm bis auf das Aussehen und ein paar andere körperliche Eigenschaften nichts mit ihr gemeinsam hatte.

Seit der Frage war noch keine halbe Sekunde verstrichen und Fleetadmiral Marty Joorthan hatte noch nicht einmal den Mund geschlossen, als bereits die Antwort erfolgte.

Die Schiffspositronik versetzte ein paar Kubikzentimeter Luftmoleküle in Schwingung. Die Stimme schien nicht nur direkt aus dem Mund des Avatarholos zu kommen, das natürlich lippensynchron projiziert wurde, sie war auch exakt auf die genauen Frequenzen und persönlichen Eigenheiten der Stimme der verstorbenen Tochter des Flottenkommandanten einjustiert.

»Die Hyperscanner zeigen die Tachyonen-Wellenfronten der ersten Feindschiffe im Hypertunnelanflug noch etwa siebzehn terranische Standardminuten entfernt.«

Wie immer, wenn Fleetadmiral Marty Joorthan mit dem Schiffscomputer kommunizierte, befiel ihn eine seltsame Mischung aus widersprüchlichen Gefühlen. Er empfand Trost bei dem Gedanken, seine geliebte Tochter sehen und ihre Stimme hören zu können, Ekel bei dem Wissen, dass es sich nur um eine unzulängliche Simulation handelte, Hass auf diejenigen, die ihren Tod zu verantworten hatten, und Abscheu vor sich selbst, weil er der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sie wenigstens als zweitklassigen Avatar auferstehen zu lassen.

Und doch war es ihm nicht möglich, diesen Avatar zu löschen und durch einen anderen zu ersetzen.

Siebzehn Minuten bis zur Entscheidung über das Schicksal der Menschheit.

Natürlich hätte Fleetadmiral Joorthan die gleiche Information auch einfach erhalten können, indem er einen Blick auf die langsam rückwärts laufende Zeitanzeige im zentralen Holotank auf der Brücke der Genia geworfen hätte, wo sie über der holografischen Darstellung des Systems, seiner Planeten, Monde und Habitate und der hier aufgestellten Verteidigungsflotte eingeblendet wurde. Doch er empfand es als beruhigend, die angenehme Altstimme seiner Tochter zu hören, denn natürlich hatte er gewusst, dass die Schiffspositronik selbst die Beantwortung der Frage übernehmen würde. Sie hatte es auch die vier Male zuvor bereits so gehalten.

Der Fleetadmiral nickte dankend, was die Schiffspositronik als Zeichen wertete, den Avatar wieder auflösen zu können.

Das lebensecht wirkende Abbild von Joorthans Tochter verschwand.

Rechts neben dem Fleetadmiral saß sein Erster Offizier, Flottengeneralin Medina Hokranow, auf ihrem Pneumosessel. Die grünhäutige Frau vom schon lange vernichteten Planeten Lorinoor warf ihrem Vorgesetzten einen verstohlenen Blick zu, den ein Außenstehender vielleicht sogar missbilligend genannt hätte. Die nicht zu übersehende Nervosität stand dem Oberbefehlshaber der letzten Flotte der Menschheit nicht gut zu Gesicht. Und sie war schlecht für die Moral, falls es außer ihr noch jemand anderes auf der Brücke bemerken sollte.

»Captain Welkins, stellen Sie mich zu den Abschnittskommandanten durch!«

Joorthans Befehl galt dem Flotten-Captain, der die Kommunikationskonsole befehligte. An der hufeisenförmigen Station waren drei Offiziere – der Captain saß in der Mitte – damit beschäftigt, ständigen Kontakt mit den Schiffen der Flotte zu halten.

Wieder vernahm die Schiffspositronik den Befehl. Da er dieses Mal einen direkten Adressaten hatte, musste sie nicht den Inhalt des Befehls analysieren, um festzustellen, wohin sie ihn weiterleiten sollte.

Der Angesprochene hörte die Anordnung über zwei von der Positronik direkt neben seinen Ohren erzeugte Akustikfelder, kaum dass Fleetadmiral Joorthan sie ausgesprochen hatte.

»Aye, Sir!«, gab er zurück und stellte mittels Gestensteuerung die gewünschten Verbindungen her.

Unmittelbar vor Fleetadmiral Joorthan bildeten sich nur wenige Sekunden später die holografischen Abbilder der sechs Abschnittskommandanten aus, die das System verteidigen sollten.

Es sollte die letzte Besprechung sein, bevor der Kampf um das System und um das Leben seiner vielen Milliarden menschlichen Bewohner entbrennen würde, ob virtueller oder physischer Natur.

Auf einer kleinen freien Fläche vor dem Kommandopodest erwachten flackernd nacheinander sechs Hologramme zum virtuellen Leben. Es waren die lebensgroßen Abbilder der sechs Generäle, in deren Händen das Überleben der Menschheit liegen würde. Oder dessen, was von der Menschheit nach einem jahrhundertelangen Krieg noch übrig geblieben war. Es ging schon lange nicht mehr darum, diesen Krieg noch zu gewinnen. Es ging einzig darum, nicht völlig ausgelöscht zu werden und das, was von einem einst die halbe Galaxis umfassenden Sternenreich der Menschen noch übrig geblieben war, nicht auch noch zu verlieren.

Es würde in der anstehenden Schlacht mit dem unerbittlichen, nur noch wenige Minuten entfernten Feind um nicht weniger gehen als um den Fortbestand der letzten noch existierenden Menschen. Und um ein in diesem System verborgenes Geheimnis, welches das Erbe der Menschheit auch dann noch bewahren sollte, wenn die Menschen selbst nicht mehr als eine ferne Erinnerung sein würden.

Ein Geheimnis, dessen Ursprung weit in der irdischen Vergangenheit lag und das untrennbar mit diesem Konflikt zusammenhing – ihn vielleicht sogar ausgelöst hatte.