»Sie wissen, wie es um uns steht, und deshalb will ich es kurz machen.« Fleetadmiral Marty Joorthan machte eine Pause und sah die sechs lebensecht wirkenden Hologramme der Reihe nach an.
Ganz links stand Generalin Lorina Fallok. Sie befand sich bereits in ihrer achtundzwanzigsten materiellen Inkarnation, in den fünf letzten hatte sie einen hohen militärischen Rang bekleidet. Joorthan wusste nicht genau, wie viele virtuelle Inkarnationen die Generalin in ihrer Biografie aufzuweisen hatte, doch es war gewiss, dass sie einer der wenigen noch lebenden Menschen war, die den Krieg von Beginn an miterlebt hatten.
Auf Lorina Fallok und ihr Geschwader würde er sich in der unausweichlich bevorstehenden Raumschlacht verlassen können.
Daneben stand General Hooloor. Das einer zweibeinigen Echse ähnelnde, geschlechtslose Wesen aus dem Volk der Toolkur befand sich in seiner originalen physischen Inkarnation. Die Toolkur – die einzige nichtmenschliche raumfahrende Spezies, auf die man in den vielen Jahrzehntausenden menschlicher Expansion je gestoßen war – hatten das Konzept der Ego-Transmission nie entwickelt und man hatte ihnen die zugrunde liegende Theorie und Technik auch nicht zur Verfügung gestellt. Lediglich einigen wenigen ausgewählten Vertretern des verbündeten Volkes war bisher die Möglichkeit geboten worden, ihre Ego-Matrix in einem von Menschen kontrollierten Transferinstitut auslesen zu lassen, sie in einen extra hierfür konzipierten Quantencomputer zu übertragen und bei Bedarf in einen gezüchteten Klonkörper zu retransferieren.
General Hooloor gehörte nicht zu der Handvoll Toolkur, denen diese Möglichkeit bisher angeboten worden war.
Die eingeschlechtlichen Reptiloiden waren nicht von Beginn an treue Verbündete der Menschheit gewesen. Zunächst hatten sie sich der menschlichen Expansion sogar in den Weg gestellt, doch sie hatten ihre technologische Unterlegenheit schnell einsehen müssen. Ein oder zwei Scharmützel hatten genügt, um jede weitere Opposition im Keim zu ersticken. Dies lag inzwischen schon viele Jahrtausende in der Vergangenheit und die Toolkur hatten längst eingesehen – einsehen müssen –, dass sie von der Superiorität der Menschheit nur profitieren konnten. Spätestens jedoch, seit der Feind keinerlei Unterschied zwischen von Menschen und von Toolkur besiedelten Systemen mehr machte, war den Echsen bewusst geworden, dass sie entweder an der Seite der Menschen siegen oder mit ihnen gemeinsam untergehen würden.
Als Nächster in der Reihe stand General Chen Hong vor Joorthan und blickte den Fleetadmiral gespannt an. Chen war der jüngste und unerfahrenste der sechs Generäle. Zwar befand auch er sich bereits in seiner zwölften physischen Inkarnation, doch er hatte seine materiellen Manifestationen bisher immer als Industrieller oder gar als Künstler gelebt. Nur der Umstand, dass physische Inkarnationen immer seltener wurden und inzwischen sogar ein akuter Mangel an ihnen herrschte, hatte dazu geführt, dass Chen überhaupt den Rang eines Generals erreicht hatte. Der in den Augen des Fleetadmirals völlig unfähige Mann sah seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an. Er war zwar taktisch und strategisch völlig inkompetent, aber Joorthan wusste, dass Chen jeden Befehl beinahe sklavisch umsetzen würde. Er besaß einfach nicht genug Vorstellungskraft und Fantasie, um so etwas wie Eigeninitiative zu entwickeln. Außerdem war er überaus ängstlich. Wahrscheinlich hatte er sogar noch unmittelbar vor dieser Zusammenkunft seine aktuelle Ego-Matrix von der Transferstation auf seinem Schiff direkt in den riesigen Quantencomputer hochladen lassen, den es in diesem System zu verteidigen galt.
Natürlich war dies eine völlig idiotische Maßnahme, wie Marty Joorthan nur zu gut wusste. Wenn sie die bevorstehende Schlacht verloren, musste man davon ausgehen, dass auch der letzte noch existierende Quantencomputer mitsamt den gespeicherten Bewusstseinsinhalten vieler Milliarden Menschen zerstört werden würde.
Sie kämpften heute nicht nur um ihr eigenes Leben, um das der etlichen Millionen Besatzungsmitglieder der Verteidigungsflotte und der Milliarden Bewohner dieses Systems, die sich derzeit in physischer Inkarnation manifestierten, sondern auch um die Existenz der virtuellen Inkarnationen unzähliger Menschen, die es um jeden Preis zu verteidigen galt. Tief unter der Erde des Planeten unter ihnen waren deren Ego-Matrizen in dem größten Quantencomputersystem gespeichert, das die Menschheit je erschaffen hatte. Dieser Supercomputer, in dem Abermilliarden virtuelle Inkarnationen in simulierten Welten lebten, war die letzte Zufluchtsstätte der Menschheit. Wenn sie fiel, bedeutete dies das Ende der menschlichen Existenz im Universum.
Der Blick des Fleetadmirals fiel auf die vierte Person in der Reihe und er konnte ein leichtes Lächeln nicht verbergen. Sein Lächeln wurde kaum sichtbar erwidert. Er konnte es hauptsächlich in den Augen der ihm gegenüberstehenden Frau lesen.
Generalin Alexya Koppa konnte die Anzahl ihrer physischen oder virtuellen Inkarnationen wahrscheinlich ebenso wenig beziffern wie Fleetadmiral Marty Joorthan. Sie mussten in die Hunderte gehen! Vielleicht waren sie beide sogar die ältesten noch lebenden Menschen – soweit man große Zeitabschnitte ihrer Existenz überhaupt als 'Leben' bezeichnen konnte.
In vielen dieser Inkarnationen waren sie nicht nur beruflich, sondern auch persönlich eng miteinander verbunden gewesen. Obwohl zwischen den intimen Beziehungen teilweise Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Jahren gelegen hatten, so hatten sie doch immer wieder aufs Neue zueinandergefunden.
Um Alexyas Schwadron würde er sich keine Sorgen machen müssen. Was immer sie tun musste, um dieses System und den Planeten mit dem letzten, unersetzlichen Quantencomputer tief unter seiner Oberfläche zu beschützen, würde sie tun. Auch wenn es letztlich vergebens sein würde.
Sein Blick fiel als Nächstes auf die beiden Generäle Haino Klauter und Garo Roschi, die 'siamesischen Zwillinge', wie Alexya sie einmal genannt hatte. Joorthan hatte den Begriff erst in einer Datenbank erfragen müssen. Vielleicht hatte er ihn einst gekannt, doch einer der Nachteile seiner vielen Inkarnationen bestand darin, dass bei jeder Kopie kleine Erinnerungsfragmente verloren gingen. Über Hunderte von Manifestationen multiplizierte sich dieser Verlust und konnte tatsächlich irgendwann zum Problem werden. Auch Alexya konnte sich nicht mehr an alle Details ihrer langen Bekanntschaft zuverlässig erinnern. Doch solange er ihre und sie seine Lücken füllen konnte, war nichts wirklich verloren.
Der Fleetadmiral riss sich zusammen. Nun war nicht der geeignete Zeitpunkt, um über die Nebenwirkungen eines Bewusstseinstransfers und der Auswirkungen multipler Inkarnationen zu philosophieren. Die nächsten Stunden und Tage würden darüber entscheiden, ob es überhaupt noch irgendetwas gab, worum man sich Sorgen machen konnte.
Die siamesischen Zwillinge jedenfalls würden ihm keine Sorgen bereiten. So wie er und Alexya eine weit zurückreichende gemeinsame Vergangenheit vorzuweisen hatten, so waren auch Klauter und Roschi seit vielen Inkarnationen miteinander verbunden. Soweit Joorthan wusste, nicht als Paar oder auf einer sexuellen Ebene, sondern nur als enge Freunde, die fast alle Interessen miteinander teilten. So auch das Interesse am Militär. Im Bewusstsein ihrer potenziellen Unsterblichkeit waren sie in jeder Inkarnation in die Raumflotte eingetreten und hatten dort nach mehreren wagemutigen – manch einer würde sagen, irrwitzigen – Einsätzen schnell Karriere gemacht. Da mit jedem gefallenen System, jedem vernichteten Quantencomputer und jeder vernichteten Flotte der Bedarf an erfahrenen Soldaten wuchs, war ihre Karriere mit jeder Inkarnation immer steiler verlaufen. Nun gehörten sie zu den letzten Generälen der Menschheit – dem letzten Aufgebot!
Sie würden all ihre Erfahrung in die Schlacht einbringen. Und all ihren Wagemut, bis hin zu der Bereitschaft, sich notfalls selbst zu opfern.
All diese Gedanken und Erinnerungen waren Joorthan blitzschnell durch den Kopf geschossen. Der Blick, mit dem er die sechs vor ihm stehenden Generäle gemustert hatte, hatte keine drei Sekunden in Anspruch genommen.
»Wir stehen vor der wichtigsten Schlacht, die in der Geschichte der Menschheit je geschlagen wurde«, sagte er. »Es geht nicht mehr um den Sieg, das brauche ich euch nicht zu erzählen, es geht nur noch darum, dass die Menschheit nicht aus dem Universum verschwindet, als hätte es sie nie gegeben. Wir werden in Kürze um nicht weniger kämpfen als darum, nicht in Vergessenheit zu geraten.« Fleetadmiral Marty Joorthan machte erneut eine Pause und sah allen noch einmal tief in die Augen. »Es ist völlig gleichgültig, was aus uns, unseren Schiffen und den Besatzungen wird. Es schmerzt mich, dies so deutlich sagen zu müssen. Es ist nicht einmal von Belang, ob es uns gelingt, den Feind daran zu hindern, die besiedelten Monde oder die Habitate mit allen Bewohnern zu vernichten. Und auch wenn es mir schwerfällt, so sage ich es doch: Es spielt ebenfalls keine Rolle, ob es uns gelingt, die Milliarden Menschen zu retten, die in physischer Inkarnation die Oberfläche des Planeten bewohnen.« Die Offenheit seiner Worte würde auf die vor ihm stehenden Generäle hoffentlich die beabsichtigte Wirkung zeitigen. »Das Einzige, was zählt, ist der Schutz des letzten Supercomputers, der tief unter der Oberfläche verborgen ist. Doch bei all dem darf der Feind nicht bemerken, dass dies unser Hauptziel ist. Er darf nicht einmal ahnen, dass es tief unter der Erde überhaupt einen letzten Supercomputer gibt. Er darf keinesfalls herausfinden, dass die Verteidigung der Monde, der Habitate und der Planetenoberfläche, sämtliche Abwehrmaßnahmen mit allen dabei entstehenden Verlusten nur Spiegelfechtereien sind, Ablenkungsmanöver, ein tödliches Theater, um das eigentliche Objekt all unserer Anstrengungen zu beschützen. Ich erwarte von jedem von euch, dass er sein taktisches und strategisches Vorgehen auf dieses Ziel ausrichtet. Alles, was zählt, ist es, den virtuellen Inkarnationen in dem Supercomputer die Möglichkeit zu geben, in ferner Zukunft aus ihrem Versteck hervorzukommen und eine neue Offensive zu starten, die der Menschheit den ihr zustehenden Platz in diesem Universum wieder sichert. Eine Zukunft, die uns unsere eigenen Geschöpfe streitig zu machen versuchen!« Noch einmal machte er eine Pause. »Ich wünsche euch allen gute Jagd und einen ehrenvollen Tod!«
Fleetadmiral Joorthan wusste, dass es für ihn wie für jeden der sechs Generäle den endgültigen Tod bedeutete, wenn sie heute versagten. Wenn der Feind den Quantencomputer entdeckte oder ihn auch nur zufällig beim Bombardement der Oberfläche vernichtete, dann gab es auch für keinen von ihnen mehr die Hoffnung auf eine erneute Inkarnation. Das wussten alle, die hier vor ihm standen.
Was jedoch außer Alexya keiner von ihnen wusste, war, auf welche Weise er selbst in die Ereignisse verstrickt war. Fleetadmiral Marty Joorthan war der eigentlich Schuldige an diesem Krieg und an der eventuell bevorstehenden Auslöschung der gesamten Menschheit. Die nur noch wenige Minuten entfernten Angreifer waren seine Kinder. Er hatte vor sehr langer Zeit den Feind erschaffen. Nicht er persönlich, nicht Marty Joorthan in seiner derzeitigen physischen Inkarnation, sondern eine seiner frühen Manifestationen. Seine allererste physische Inkarnation, das Original , der ursprüngliche Marty Joorthan, der Urvater aller späteren Inkarnationen, hatte den Grundstein zu all dem gelegt, was sie letztlich hierhergeführt hatte.
Marty Joorthan konnte sich nicht mehr an allzu viel aus seinem allerersten Leben erinnern. Es lag so lange zurück, dass fast keine Erinnerungen an diese Zeit mehr in ihm existierten. Er wusste nicht einmal, welchen Namen das Original genau getragen hatte. Nur zwei Dinge waren ihm noch in erschreckender Deutlichkeit bewusst: Alexya war schon damals an seiner Seite gewesen und sie hatten gemeinsam den unerbittlichen Feind erschaffen, dem sie nun gegenüberstanden. Alexya konnte sich an diese Zeit nicht mehr erinnern, doch ihm war schmerzlich bewusst, dass sie beide die Schöpfer der Artificials gewesen waren!