56. Nahn 299

Kimi streckte sich. Es war eine kurze Nacht gewesen, und sie hatte schlecht geschlafen. Nirgends war eine Schlafstange aufzutreiben gewesen. Statt bequem auf der Stange zu sitzen, hatte sie versucht, auf ihren Knien zu schlafen. Aber sie hatte keinen guten Platz für ihren Schnabel gefunden und dauernd die Stellung wechseln müssen. Deshalb war sie richtig froh gewesen, als Alexa sie endlich geweckt hatte.

Jetzt eine Sanddusche, das wäre perfekt, um die Müdigkeit aus den Federn zu vertreiben. Aber darauf würde sie wohl für immer verzichten müssen – wenn Norok recht hatte und sie all ihren Hyperraum-Treibstoff bei der Suche nach den Artificials verschwendeten.

»Guten Morgen, Liebste!«, rief ihr Norok zu, der gerade mit dem Schnabel voraus an ihrer Tür vorbeischwebte.

Oh, er hatte sich wohl beruhigt, eine Sorge weniger. Sie durfte nicht an die andere Sorge denken, die sie plagte.

»Abflug in 30 Minuten«, klang es aus dem Lautsprecher.

Ein Schauder lief über ihren Rücken. Tausend kleine Vibrationen wanderten unsichtbar durch den Raum. Erst nach ein paar Augenblicken verstand sie den Grund dafür: Alexa kommunizierte mit den Mendrak in deren eigener Sprache.

… versammeln in Zentrale … , verstand sie.

Kimi stand auf und schüttelte sich, als hätte sie gerade ein Staubbad genommen. Vielleicht fiel ihr Körper auf diesen Trick herein. Sie erinnerte sich an das erste Sandbad, zu dem Norok sie eingeladen hatte, bevor sie ein Paar geworden waren. Es war schön gewesen, so umworben zu werden. Sie schüttelte die Federn. Kurz schien es ihr, als würde Sand herausrieseln, aber es konnte sich doch nur um Schuppen handeln.

* * *

»Alexa, gibt es auf Krungthep Sand? Warmen Sand?«, fragte sie.

Die virtuelle Figur in der Säule saß im Schneidersitz. Jetzt richtete sie sich auf.

»Das kann ich bestätigen«, antwortete Alexa. »Der Sand in der Solara-Wüste erhitzt sich auf bis zu 1200 Standard-Grad.«

»Am Morgen oder am Abend?«, fragte Norok und keckerte.

Dieser Witzbold. Ob Alexa wohl Humor verstand?

»Auf Krungthep gibt es keinen Tag-Nacht-Zyklus. Der Planet befindet sich in gebundener Rotation.«

»Und die Fabriken?«, fragte Kimi. »Die Menschen werden sie wohl kaum bei 1200 Grad Umgebungstemperatur errichtet haben?«

»Die Fabrikviertel befinden sich in der Zone der Dämmerung. Die mittlere Temperatur liegt dort knapp über dem Gefrierpunkt von Wasser.«

»Das klingt doch ganz angenehm«, sagte Norok.

»Ich verstehe das Konzept von ›angenehm‹ nicht«, sagte Alexa. »Mart fand es dort immer viel zu windig. Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob ihr ähnlich empfindet.«

»Wir auch nicht«, sagte Norok.

»Es wird dann Zeit, in die Absorptionswannen zu steigen«, sagte Alexa.

»Bitte sag uns, dass sie mit warmem Sand gefüllt sind«, sagte Kimi.

»Sie sind mit warmem Sand gefüllt.«

Der Boden vibrierte. Kasfok bewegte unwillkürlich die Beine zum Tanz der Abneigung.

»Bitte nicht bewegen«, sagte Alexa.

Das war leichter gesagt als getan, denn die Vibrationen gaben ihr in der Schwerelosigkeit einen leichten Impuls zur Decke. Kimi versuchte, mit den Schwingen Halt zu finden. Dabei stieß sie mit dem linken Flügel gegen die Säule. Sofort war der stechende Schmerz wieder da. Tolkuts unkonventionelle Behandlung wirkte nicht mehr.

»Mein Flügel ist verletzt«, sagte Kimi.

»Kein Problem, das erledigen die Wannen gleich mit«, beruhigte sie Alexa.

Gleich mit? Was erledigten sie denn sonst noch so?

»Wozu brauchen wir denn die Wannen?«, fragte Norok.

»Vor dem Eintritt in den Hyperraumtunnel und nach dem Austritt muss die Sphäre stark beschleunigen«, erklärte Alexa. »Das überstehen eure physischen Körper ohne die Wannen nicht.«

»Sie wirken also wie Polster?«

»Der Vergleich passt nicht, Norok. In den Wannen werden eure Körper quasi aufgelöst. Jedes einzelne Atom bekommt ein kleines Korsett, das es an Ort und Stelle hält. Nach dem Austritt werden die Stützen wieder entfernt.«

»Schlafen wir dabei?«

»Ihr seid bei Bewusstsein. Nur so kann ich euch überwachen. Ich prüfe dauernd, ob eure Reaktionen noch im Normbereich liegen.«

»Und wenn nicht?«

»Diesen Fall gab es noch nicht auf diesem Schiff.«

* * *

Kimi drehte sich um, weil sie das Gefühl hatte, dass hinter ihr jemand stand. Aber dort gab es keine Person. Eine schwarze Wanne hatte sich aus dem Boden der Zentrale geschoben. Sie war etwa ein Drittel größer als sie selbst. Ähnliche Wannen waren auch hinter den anderen zu sehen.

»Warum ist sie so groß?«, fragte Kimi.

»Durch die atomaren Stützen dehnen sich eure Körper um etwa 30 Prozent aus«, sagte Alexa. »Keine Sorge, nach dem Austritt werdet ihr wieder normal groß sein.«

»Werden wir etwas spüren?«, fragte Tolkut.

»Ich würde diese Frage lieber nicht beantworten«, sagte Alexa.

»Bitte beantworte sie«, sagte Kimi.

»Wenn du es willst … Ja, ihr werdet Schmerzen spüren. Starke Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen. Euer Nervensystem ist diese Belastung nicht gewöhnt. Die Schmerzen lassen erfahrungsgemäß nach dem zehnten Hyperraumsprung deutlich nach.«

»Danke, Kimi, auf diese Informationen hätte ich lieber verzichtet«, sagte Norok.

»Seid ihr bereit?«, fragte Alexa.

»So bereit, wie man sein kann«, sagte Kimi.

Sie dachte an ihre Kinder, deren Überleben von ihr abhing. Die Wanne öffnete sich. Unter der Abdeckung kam eine schwarze, leicht ölige Flüssigkeit zum Vorschein.

»Es ist ja doch kein Sand«, sagte Kimi.

»Das habe ich nie behauptet«, sagte Alexa.

»Du hast …«

Nein, Alexa hatte nur ihren Befehl ausgeführt. Entweder sie war doch nicht besonders klug, oder ihr Humor war so schwarz wie die Wannen. Warum musste hier alles schwarz sein? Die Wannen waren wohl schwarz, weil die Flüssigkeit diese Farbe hatte.

Norok hob vorsichtig das rechte Bein über den Wannenrand und senkte es in die Flüssigkeit. Er verzog das Gesicht.

»Es ist kalt«, sagte er.

»Das tut mir leid. Die Absorptionsflüssigkeit war bis gestern bei nahe null Grad gelagert.«

»Die Wannen wurden wohl sehr lange nicht mehr eingesetzt?«, fragte Norok.

»Seit über 300.000 Jahren nicht mehr.«

Vor 300.000 Jahren musste allerhand passiert sein. Und Mart musste damals seinen physischen Körper eingebüßt haben. Hoffentlich nicht in einer der Wannen.

»Der letzte Einsatz, lief er planmäßig ab?«, fragte Tolkut.

»Ich würde diese Frage lieber nicht beantworten«, sagte Alexa.

»Bitte beantworte sie … nicht«, sagte Kimi.

Wenn sie noch mehr schlechte Nachrichten hörte, würde sie gar nicht mehr in die Wanne steigen. Sie rief sich ihre Eier in Erinnerung. Für sie tat sie, was sie tun musste. Sie hob wie Norok das rechte Bein in die Wanne. Die Flüssigkeit war erstaunlich zäh. Kimi musste an den Schlamm aus den Kormoran-Sümpfen denken. Er war als Heilmittel eingesetzt worden. Das war doch mal eine schöne Parallele. Auf der Heimatwelt hatten sich Patienten freiwillig in diese schwarze Brühe gelegt.

Sie stieg ganz in die Wanne und setzte sich auf ihre Knie.

»Das reicht nicht«, sagte Alexa. »Die Abdeckung muss sich über dir schließen lassen.«

Kimi seufzte. Sie stand noch einmal auf und legte sich auf den Rücken. Durch die Schwerelosigkeit drückte ihr Körper zumindest nicht schmerzhaft auf den Ansatz der Schwingen. Aber den verletzlichen Bauch zu zeigen, kam ihr falsch vor. Kein Iks würde sich je freiwillig vor Fremden so präsentieren. Wie kamen eigentlich die Mendrak zurecht? Bis eben hatte Kimi noch Echos ihrer Gespräche untereinander vernommen. Wahrscheinlich lagen sie nun in ihren Wannen, die keine Vibrationen nach draußen übertrugen.

»Der Schnabel, Kimi.«

»Was ist damit?«

»Er ragt aus der Absorptionsflüssigkeit.«

»Wenn ich ihn nach unten nehme, ersticke ich.«

»Nein, das wirst du nicht. Die Absorptionsflüssigkeit ist mit Sauerstoff angereichert. Du kannst in ihr atmen.«

»Ich bin doch kein Ichthyo.«

Die Ichthyos waren Lebewesen ihrer Heimatwelt, die unter Wasser atmen konnten.

»Glaub mir, du musst kein Ichthyo sein. Lass die Flüssigkeit überall eindringen. Das ist okay. Es muss so sein.«

Noch während Alexa das beschrieb, spürte sie es. In ihrem Unterleib machte sich Kälte breit. Das musste die Flüssigkeit sein. Aber oben, das ging doch nicht. Sie öffnete den Schnabel. Die schwarze Brühe stieg in ihm auf, obwohl sie doch so zäh war. Bestimmt handelte es sich um einen Kapillar-Effekt. Oder hatte es mit der Oberflächenspannung der Flüssigkeit zu tun? Sie versuchte, sich an die Formeln zu erinnern. Hydrodynamik gehörte bei den Iks zu den Kernfächern, die in jeder Ausbildung gelehrt wurden, wirkte sie sich doch auf die tägliche Fortbewegung aus.

Die kalte Flüssigkeit erreichte ihre Kehle. Jetzt gelang es ihr nicht mehr, sich mit dem Grübeln über physikalische Problemen abzulenken. Sie musste eine Entscheidung treffen. Iks konnten in ihrem Schnabel Wasser über weite Strecken transportieren, weil der Schließmuskel so gut funktionierte. Nun aber musste sie ihn freigeben. Sie musste schlucken.

Die Kälte rann ihre Speiseröhre hinunter. Das Zeug schmeckte furchtbar salzig. Das konnte doch nicht gesund sein? Was, wenn Alexa sie alle vergiften wollte? Aber das war Unsinn. Alexa hätte ihnen doch bloß den Sauerstoff abzudrehen brauchen. Kimi schloss trotzdem den Schluckmuskel. Aber es half nichts. Die schwarze Flüssigkeit hatte anscheinend ihre Kehle so benetzt, dass sie weiter in ihre Speiseröhre fließen konnte. Es ging nur langsamer, und das war das letzte, was Kimi wollte. Sie zwang sich dazu, all ihre Muskeln zu entspannen.

Norok! Sie hatte sich gar nicht von ihrem Freund verabschiedet. Wahrscheinlich war er von dem, was hier geschah, genauso überrascht wie sie. Kimi schickte einen Gedanken in seine Richtung.

»Ist doch gar nicht so schlimm, oder?«, sagte Alexa.

Sie befand sich direkt in ihrem Kopf. Kimi versuchte zu antworten, aber ihr Schnabel reagierte nicht.

»Du solltest jetzt nicht antworten«, sagte Alexa. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich die ganze Zeit bei dir bin. Die Stützatome haben einen winzigen Lautsprecher in der Nähe deines Hörorgans konstruiert und mit der Außenwelt verbunden. So kann ich mit dir sprechen.«

Na toll, jetzt hatte sie auch noch eine Stimme im Kopf, die nicht zu ihr gehörte. Aber irgendwie war es auch beruhigend, nicht allein zu sein, denn um sie herum war es vollständig dunkel geworden. Sie konnte ihre Lider nicht mehr bewegen. Kein einziger Muskel reagierte mehr auf ihre Befehle.

»Du hast bis zum Verlassen des Tunnels keine Kontrolle über deinen Körper«, sagte Alexa. »Das ist völlig normal und besser so für dich. Du könntest sonst versuchen, die Wanne zu verlassen oder dich selbst zu verletzen.«

Es fühlte sich aber nicht besser so an. Vor allem, wenn auch noch eine Stimme in ihrem Kopf war, die da nicht hineingehörte.

»Den anderen geht es gut«, sagte Alexa. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Steckte die Stimme auch in den Köpfen der anderen? Wie mochte sich das für die Mendrak anfühlen, die ja gar nicht wie sie hören konnten?

»Das Schiff muss gleich stark beschleunigen«, sagte Alexa.

Dann war ihr Körper also schon um ein Drittel angeschwollen? Für Kimi fühlte sich alles normal an. Ihr Selbstbild hatte sich nicht verändert.

»Dabei wirst du wahrscheinlich Schmerzen empfinden. Wir können deine Neuronen nicht vollständig ausschalten, sonst verlierst du dein Bewusstsein. Ich meine damit nicht, dass du kurzzeitig bewusstlos wirst. Nein, dein Bewusstsein würde sich auflösen.«

Das war nachvollziehbar. Auch die Iks waren zu der Erkenntnis gelangt, dass das Bewusstsein einen dynamischen Prozess in ihrem Nervensystem darstellte. Schaltete man es komplett aus, musste es im Nichts verschwinden. Hoffentlich konnte die Wanne das bei ihr verhindern. Sie war schließlich für die Physiologie der Menschen konstruiert worden. Was, wenn deren Nervensystem in gewissem Ausmaß stabiler war als das der Iks?

Ein starker Druckschmerz setzte ein. Es war, als wäre ihre Flügelspitze in ein sich schließendes Schott geraten – mit dem Unterschied, dass ihr gesamter Körper auf diese Weise wehtat. Kimi wollte den Schnabel schließen, aber er reagierte nicht. Der Schmerz war grausam. Das würde sie nicht lange aushalten. Sie musste hier raus. Sie musste Schluss machen. Sofort. Sie musste … sie würde … nichts würde sie. Sie konnte nicht weinen und nicht klagen. Nicht einmal das Bewusstsein zu verlieren stand ihr frei. Sie war Alexa und der Sphäre ausgeliefert. Der Schmerz nahm zu. Ihr ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Wenn Mart ihn ebenso gespürt hatte, kannte sie nun den Grund, warum er vor 300.000 Jahren seinen physischen Körper abgelegt hatte. Es war unmöglich, sich an diesen Schmerz zu gewöhnen. Er wütete nicht in ihr, sie war der Schmerz.

»D… h…st … b…ld …schafft«, hörte sie eine Stimme.

Alexa hörte sich an, als riefe sie aus weiter Ferne und habe ein Tuch vor dem Mund. Bald geschafft? Der Schmerz hatte wohl mitgehört, denn er überfiel sie noch einmal. Fühlte es sich so an, wenn ihr Körper in sämtliche seiner Atome zerrissen wurde?

»Nu … no … einen …ag«, meldete sich Alexa.

Nur noch was? Einen ganzen Tag? Wollte Alexa sie auf den Arm nehmen? Es gab wirklich bessere Zeiten dafür. Seit dem Start war vielleicht eine halbe Stunde vergangen. Diesen Schmerz noch zwanzig Mal so lange ertragen zu müssen – es kam ihr wie ein Todesurteil vor, ausgeführt als eine langgezogene Hinrichtung, bei der man nicht sterben konnte.