Zu viert hoben die Helfer den hageren, beinahe ausgezehrt wirkenden Körper von Martin Jordan aus dem Schwebebett und legten ihn behutsam auf die gepolsterte Transferliege. Einer der Helfer war Tasso, der sich in den nunmehr fast neunzig Jahren, die seit seiner Erschaffung vergangen waren, kaum verändert hatte. Die wenigen Upgrades hatten seinen Körper nur leicht modifiziert, sein Geist hingegen hatte eine deutlichere Entwicklung durchlaufen. Für einen Außenstehenden war Tasso schon lange nicht mehr von einem Menschen zu unterscheiden.
Martin Jordan hatte sich geweigert, den Schritt zu einer virtuellen Inkarnation zu vollziehen, bevor das Verfahren des Ego-Transfers unter seiner Leitung perfektioniert sein würde. Seit Alexandra vor sechs Jahren als Erste ihre körperliche Existenz zugunsten einer virtuellen aufgegeben hatte, waren ihr bereits Tausende gefolgt. Zunächst noch zögerlich, doch schon bald war aus dem langsam tröpfelnden Rinnsal ein reißender Strom geworden. Seit Jordan ein Interface konstruiert hatte, das es den Transferierten ermöglichte, mit den Bewohnern der realen Welt zu kommunizieren, waren mit jedem Monat mehr Angehörige der Eliten vorstellig geworden und hatten sich nach der Möglichkeit eines Ego-Transfers für sich oder ihre älteren Familienmitglieder erkundigt. Noch war das Verfahren zu kompliziert und auch zu kostspielig, um es allen zur Verfügung stellen zu können, die es für sich nutzen wollten, aber Jordans letzte Verbesserungen hatten auch dies in greifbare Nähe gerückt.
Doch nun hatte ihn das Alter eingeholt.
In den letzten Tagen war Martin Jordan trotz der besten medizinischen Versorgung, die man ihm angedeihen lassen konnte, rapide verfallen. Plötzlich einsetzendes multiples Organversagen ließ die Ärzte seine restliche Lebenszeit in Tagen, bestenfalls wenigen Wochen bemessen. Sein einhundertdreißig Jahre alter Körper würde keine weiteren invasivmedizinischen Maßnahmen mehr verkraften. Ein Ersatz der ausfallenden Organe durch kybernetische Implantate verbot sich somit von selbst.
Der Tod wollte sich, zumindest in der realen Welt, nicht länger austricksen lassen.
Als er ins Koma zu fallen drohte, hatte Jordan verfügt, dass man alles für seinen Ego-Transfer vorbereiten solle. Er hatte in erster Linie Tasso mit dieser Aufgabe betraut, der ihm in all den Jahren nicht nur als Assistent gedient hatte, sondern zu einem Freund geworden war.
Er freute sich darauf, Alexandra in der simulierten Welt wiederzusehen, anstatt mit ihr nur mittels einer holografischen Projektion ihres virtuellen Körpers kommunizieren zu können, auch wenn diese Projektion einen durchaus erfreulichen Anblick bot, wie er zugeben musste. Doch er wollte seiner verjüngten, wenn auch virtuellen Gefährtin lieber als ebenfalls virtueller Mittzwanziger begegnen denn als physisch existenter, jedoch gebrechlicher Greis.
Vieles an dem Transfervorgang war in den letzten Jahren automatisiert worden, und so stülpte sich die Tasterhaube ohne äußeres Zutun über Jordans Kopf. Nur der venöse Zugang musste noch von Hand gelegt werden, was Tasso in diesem Moment tat. Martin Jordan spürte kaum etwas von all dem. Es war ihm in den vergangenen Stunden zunehmend schlechter gegangen und die vielen verabreichten Medikamente hatten ihn in eine Art Dämmerschlaf versetzt. Doch er war wach genug, um noch einmal die Augen zu öffnen.
Mit sichtlicher Anstrengung griff er nach Tassos Hand, die damit beschäftigt war, den Infusionszugang in der Ellenbeuge zu fixieren.
»Ich will nicht gehen, ohne dir für die letzten neunzig Jahre zu danken.« Jordans Stimme klang brüchig und war kaum zu vernehmen.
»Ich werde bald wieder mit dir reden können, alter Freund«, antwortete der Roboter. »Sobald du dich in der Simulation eingewöhnt hast, können wir über das Quanteninterface kommunizieren.«
»Ein Hologramm und ein Audiosignal sind ein schwacher Ersatz für echte Kommunikation«, erwiderte der Greis. »Keine Berührungen, keine Gerüche, nichts Reales!«
»Aber du wirst am Leben sein! Das virtuelle Leben ist allemal besser als der reale, endgültige Tod.«
»Ein Leben, das sich dann gar nicht mehr so sehr von deinem unterscheiden wird. Auch mein 'Ich' wird dann nur noch aus einer Quantenmatrix bestehen, so wie deines!«
»Wir werden nie gleich sein, Martin«, sagte Tasso und man konnte fast glauben, eine Spur Trauer mitschwingen zu hören. »Ihr Menschen sagt ja immer, wir Artificials hätten keine Seele. Glaubst du das auch?«
Das Reden strengte Jordan sichtlich an. Er schloss die Augen und antwortete lange nicht auf Tassos Frage. Die Sekunden verstrichen, und der Roboter nahm bereits an, das Betäubungsmittel habe schon gewirkt, als Jordan noch einmal etwas vor sich hin murmelte. Tasso musste die Eingangsempfindlichkeit seiner Audiorezeptoren auf maximale Leistung stellen, um Jordans letzte, von Pausen unterbrochene Worte hören zu können.
»Wir haben … euch Artificials … erschaffen. Wir … sind keine Götter, nur Wissenschaftler … Techniker.« Jordan atmete einmal tief durch. »Nur Götter können … können ihren Geschöpfen Seelen … verleihen. Es … es tut mir leid, mein Freund.«
* * *
Das Erste, was Martin Jordan sah, waren ein paar Dutzend virtuelle Inkarnationen, die ihm begeistert zujubelten. Dankbare Menschen, die ihr Weiterleben als Ego-Simulation seiner Erfindung verdankten.
Seit Alexandras Transfer hatte jeder Nachfolgende gewusst, was auf ihn zukommen würde. Alexandras Erfahrungen hatten allen weiteren Transferwilligen den Weg in die simulierte Realität erleichtert. So musste niemand mehr in einer monochromen Umgebung erwachen. Aus den transferierten Erinnerungen erschuf das Sicherheitsprogramm eine Umgebung, in der sich die virtuelle Inkarnation voraussichtlich wohlfühlen würde. Erst wenn diese Simulation erschaffen war, wurde die virtuelle Inkarnation des Neuankömmlings manifestiert. So geschah es auch in Martins Fall. Ihn willkommen zu heißen war sogar ziemlich einfach, denn Alexandra wusste natürlich, in welcher simulierten Umgebung er sich auf Anhieb wohlfühlen würde.
Das Begrüßungskomitee hatte sich am perfekten, weißen Sandstrand einer Insel versammelt. Die kleinen Wellen des türkisfarbenen Wassers der flachen Lagune reflektierten das gleißende Licht der hoch am Himmel stehenden Mittagssonne in kleinen Lichtblitzen. Martin erkannte sofort, welche Umgebung Alexandra zu seiner Begrüßung manifestiert hatte.
Hier hatten sie ihren ersten gemeinsamen Urlaub verbracht.
Natürlich nicht hier, sondern auf der realen Insel im physischen Universum auf einem echten Planeten , korrigierte sich Martin in Gedanken. In der realen Welt. Dies hier ist nur eine, wenn auch perfekte, Simulation.
Trotzdem freute er sich über die Geste und tatsächlich drehten sich seine ersten Gedanken als virtuelle Inkarnation nicht um sein gerade ein paar Sekunden zurückliegendes körperliches Dahinscheiden und die Tatsache, dass er in Wahrheit nicht mehr am Leben war, sondern um unbeschwerte Momente in glücklichen Zeiten. Zeiten, lange bevor Alexandra und er im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden hatten. Als sie noch ein unbeobachtetes Leben hatten führen können.
Da zu Beginn des kommerziellen Ego-Transfers einige Probanden direkt nach ihrer Erweckung als virtuelle Inkarnation unter starken psychischen Problemen zu leiden begonnen hatten – eine Handvoll hatte sogar ihre sofortige Löschung verlangt – waren Psychologen hinzugezogen worden. Sie hatten übereinstimmend die These vertreten, dass das Wissen um den eigenen Tod starke Depressionen auslösen konnte, denen man am besten mit Erinnerungen an glückliche Momente aus dem realen Leben begegnen konnte. Eine Umgebung, die solche freudigen Erinnerungen auslöste, wurde als Simulation für die ersten Momente in der neuen virtuellen Inkarnation ebenso empfohlen wie die Begrüßung durch vertraute oder geliebte Personen, die den Schritt des Ego-Transfers bereits vollzogen hatten.
Tatsächlich hatte man mit diesen beiden Maßnahmen die psychischen Probleme der Neutransferierten so gut wie beseitigen können.
Auch in Jordans Fall traf beides zu. Alexandra stand vor ihm und strahlte ihn an. Jordan war beinahe schockiert, wie wunderschön sie aussah. Fast schöner, als er sie aus jener Zeit in Erinnerung behalten hatte. Sie trug eine Art halb durchsichtigen Sarong, der ihre Figur eher betonte, als sie zu verhüllen. Er selbst war in einen blütenweißen Anzug aus einem wunderbar leichten Stoff gekleidet.
Ob sie vielleicht ihre virtuelle Erscheinung optimiert hat , fragte er sich unwillkürlich.
Dann musste er innerlich lachen, weil es keine Rolle spielte. In der Simulation konnte jeder zu jedem Zeitpunkt sein Aussehen so verändern, wie er es für angebracht oder vorteilhaft hielt. Alexandra hätte auch als hundertzwanzigjährige Greisen vor ihm stehen können, wenn sie dies gewünscht hätte. Was machte es also für einen Unterschied, wenn sie ihre Haut etwas makelloser, ihre Taille etwas schlanker, ihre Brüste etwas größer und ihre Beine etwas länger gemacht hatte, als es in Wirklichkeit der Fall gewesen war. Auch er konnte jederzeit seine kleinen körperlichen Unzulänglichkeiten verschwinden lassen, wenn ihm danach zumute war.
Er nahm Alexandra unter dem Beifall der Anwesenden lachend in den Arm. Es war erstaunlich, wie real sie sich anfühlte.
»Endlich«, sagte er. »Darauf habe ich zu lange warten müssen.«
»Ich hätte mir jederzeit einen simulierten Martin erscheinen lassen können«, entgegnete Alexandra. »Aber ich wollte das Original und keine simulierte Kopie.«
»Das Original? Ich bin mir nicht sicher, wie 'original' ich bin.« Er deutete auf seine Brust. »Dies ist nur eine Ansammlung von Qbits in einer Quantenmatrix.«
»Es ist der Geist, der zählt, Liebling«, sagte Alexandra, und Jordan erinnerte sich, dass sie genau diese Worte vor sechs Jahren beim Abschied vor ihrem eigenen Ego-Transfer gebraucht hatte. »Und dies ist dein Geist, dies bist du, egal, in welcher Inkarnation du vor mir stehst!«
Martin drückte Alexandra noch einmal fest an sich. Es fühlte sich unglaublich gut an und zu seinem Erstaunen regten sich bei ihm körperliche Gelüste, die er seit Jahrzehnten nicht mehr verspürt hatte.
Alexandra bemerkte es ebenfalls.
»Wenn das keine Pfeife in deiner Hosentasche ist, scheinst du dich sehr darüber zu freuen, mich zu sehen!«
Martin grinste sie an. »Ich bin überrascht, wie stark das Unterbewusstsein auch unsere virtuellen Körper beeinflussen kann.«
»Glücklicherweise ist das so. Stell dir nur vor, wir müssten alles in unserer Umgebung und jede Kleinigkeit unseres hiesigen Alltags ständig bewusst manifest halten. Das wäre mühsam und beinahe unerträglich. Wir kämen zu nichts anderem mehr. So nimmt uns jedoch unser Unterbewusstsein die Hauptarbeit ab, und wir müssen nur noch die Details, die uns wichtig sind, selbst aktiv in Erscheinung treten lassen.«
»Nun, dann weißt du ja jetzt, was meinem Unterbewusstsein im Moment wichtig ist!«
Jordan winkte den vielen ihm größtenteils unbekannten Personen zu, die sich zu seiner Begrüßung eingefunden hatten und sich nun zu zerstreuen begannen. Manche lösten sich auch einfach auf. Wahrscheinlich kehrten sie jetzt in ihre eigenen Simulationswelten zurück. Dann fiel ihm ein, dass sich durchaus virtuelle Inkarnationen unter ihnen befinden konnten, die er zu Lebzeiten gekannt hatte, die sich hier jedoch ein völlig anderes Aussehen gegeben hatten und ihm deshalb als Fremde erschienen. Eine Existenz als virtuelle Inkarnation schien noch verwirrender sein, als er es sich vorgestellt hatte.
Martin blickte sich nochmals um.
»Dhivehi-3«, stellte er fest. »Der von Hunderttausenden kleiner Inseln überzogene Wasserplanet, der wie ein übergroßes Abbild der untergegangenen Malediven aussieht.«
»Der Planet, auf den man damals die überlebenden Einwohner umgesiedelt hatte – und auf dem wir unseren ersten gemeinsamen Urlaub verbracht haben. Ich dachte, das wäre eine passende Umgebung, um dort auch unsere erste gemeinsame Zeit in dieser neuen Welt zu verbringen.«
»Das war ein sehr schöner Gedanke. Gibt es in dieser Simulation und auf dieser simulierten Insel auch die simulierte Strandhütte, in der wir unseren Urlaub verbracht haben?«
Alexandra deutete schweigend auf eine Stelle unter einer Ansammlung von Palmen. Dort stand unverkennbar die Hütte, in der sie damals gewohnt hatten. Jordan konnte sich nicht erinnern, sie zuvor dort gesehen zu haben. Vielleicht hatte Alexandra sie gerade erst manifestiert.
Aber das spielte keine Rolle.
»Steht in dieser Hütte auch das Bett, in dem wir die meiste Zeit verbracht haben?«
Sie nickte grinsend.
»Dann sollten wir schleunigst überprüfen, ob dieser virtuelle Körper genauso gut funktioniert wie damals der physische!«
»Das will ich doch hoffen«, sagte Alexandra, ergriff Martins Hand und zog ihn in Richtung der kleinen, mit Palmwedeln bedeckten Strandhütte.