5. Zuhn 299

Das Ziel kam näher. Die Inklination der Feldlinien lag schon bei unter zehn Grad. Die Schattenzone musste sich also in unmittelbarer Nähe befinden. Was war mit Kasfok? Er hatte sich seit Stunden nicht mehr gerührt. Kimi schloss kurz die Augen. Sie durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Stattdessen musste sie Geduld beweisen. Alles in ihr drängte danach, schneller zu fliegen, um ihren Passagier zu retten. Doch sie mussten bremsen, schon seitdem sie den Nordpol überflogen hatten. Glücklicherweise half ihnen der Jetstream dabei, eine kalte Luftströmung, die von der dunklen zur hellen Seite verlief. Um ihn zu erreichen, hatten sie die Flughöhe verringern müssen.

Langsam hellte sich der Horizont auf. Oder täuschte sie sich? Einzelheiten waren noch nicht zu erkennen. Sie zog am Tragegurt, und Norok antwortete mit einem kurzen Nicken. Er sah das Licht offenbar auch. Es war also endlich Zeit für den Abstieg!

* * *

Wie die Zähne eines Ichthyos ragten die Ruinen von Hochhäusern unter ihnen auf. Dieser Planet bot nicht viel Platz zwischen den beiden Extremen, umso effizienter hatten die Menschen das Angebot genutzt. Warum hatten sie ausgerechnet Krungthep so ausgebaut? Vielleicht würde Alexa es ihnen sagen können. Sahen alle Planeten der Menschen heute so aus? Welche Tragödie hatte sich hier abgespielt?

Die Stadt unter ihnen war offenbar von einem heftigen Bombardement zerstört worden. Es gab kein einziges Gebäude, das nicht beschädigt war. Die Verwüstung war so systematisch, dass ein System dahinterstecken musste, ein System, das auch im Krieg auf Effizienz achtete. War das ein Merkmal der Artificials? Sie mussten wissen, mit wem sie es zu tun hatten, wenn sie die Zerstörung des Sonnensystems aufhalten wollten.

Der Tragegurt ruckte. Norok bewegte den Schnabel hin und her und stellte die Schwingen leicht an. Es war hell genug, um eine Landung zu wagen. Vor ihnen befand sich eine offene Fläche, die mit Gebüsch bewachsen zu sein schien. Einen besseren Landeplatz würden sie nicht finden, waren doch sonst überall Trümmer verteilt. Kimi neigte sich leicht nach links. So nahm ihr Abstieg eine schraubenförmige Bahn an.

Der Kokon an ihrem Tragegurt schwang kräftig hin und her. Schwingenlänge um Schwingenlänge näherten sie sich dem Boden. Was sie für Büsche gehalten hatten, waren baumhohe Gewächse, die allerdings keinen Stamm hatten. Stattdessen streckten sie den landenden Iks lange Blätter entgegen, die sich in Windrichtung angeordnet hatten. Als sie die Höhe der meisten Häuser erreicht hatten, flaute der Wind ab. Kimi atmete tief durch. Die Luft war gut und roch nach Zitronenmoos wie ein Urwald auf der Heimatwelt. Der Kokon berührte eines der langen Blätter. Wie erwartet, erwies es sich als flexibel. Sie tauchten mit ihrer Last unter das Blätterdach, und der Himmel, der gerade noch grau gewesen war, färbte sich grün.

Der Boden war überraschend kahl. Anscheinend konnten sich im Schatten der dichten Blätter keine anderen Pflanzen halten. Norok zog noch einmal am Tragegurt. Landung! Kimi streckte den Schnabel nach oben, um den Kokon zu schützen. Sie setzte federnd auf, ging in die Knie und setzte den Kokon ab.

»Gschfft.«

Bei diesem Wort rutschte ihr der Tragegurt aus dem Schnabel.

»Endlich«, sagte Norok und hackte auf die Öffnung des Kokons ein.

Kimi half ihm. Der Verschluss war zäh, aber ihren scharfen Schnäbeln hatte er nichts entgegenzusetzen. Sie zerrten den Kokon auf. Direkt hinter der Öffnung lag die Säule mit Alexa. Norok zog sie heraus. Sie war dunkel.

»Kasfok«, rief Kimi.

Norok steckte seinen Kopf in den Kokon.

»…sch …ab …ihn«, hörte sie.

Noroks Kopf zuckte mehrmals hin und her, dann kam er langsam wieder zum Vorschein. Er hatte ein schwarz behaartes Bein im Schnabel.

»Was ist mit ihm?«, fragte Kimi.

»Ich weiß nicht. Er bewegt sich nicht.«

»Wir müssen den Kokon komplett öffnen«, sagte Kimi. »Durch den Einstieg bekommen wir ihn nie und nimmer. Sein Körper ist zu dick.«

Plötzlich bewegte sich der Kokon. An der Seite entstand eine kleine Beule und verschwand wieder. Sie kam zurück und … Kasfok sprach mit ihnen! Kimi folgte gespannt dem Rhythmus.

»Was ist denn jetzt? Hilfst du mir?«, fragte Norok.

»Warte, pssst.«

Kimi durchforstete ihr Gedächtnis. Was hatte Kasfok gerade gesagt? Vielleicht waren das seine letzten Worte! Dann verstand sie ihn.

Ich bin nicht zu dick.

Das waren keine letzten Worte. Wer so eitel war, starb nicht. Kimi lachte, und Norok sah sie seltsam an.

»Keine Sorge, Kasfok scheint es gut zu gehen«, sagte sie.

Ein zweites behaartes Bein zeigte sich in der Öffnung. Der Mendrak klemmte seine Füße um die Öffnung und zog erst seinen Kopf, dann seinen Hinterleib aus dem Kokon.

Kimi tanzte die Schritte der Freude, und Kasfok antwortete mit den Schritten des Danks. Allerdings schienen sich seine Füße noch nicht wieder so schnell wie vor dem Start zu bewegen.

War der Flug anstrengend? , fragte sie.

Ich war dumm , antwortete Kasfok erstaunlich ehrlich. Ich habe gedacht, dass ich die Landung auch überstehen würde, ohne meinen Kreislauf zu verlangsamen. Aber dann ging mir doch die Luft aus. Ich habe es gerade noch so geschafft.

Darüber sind wir sehr froh , sagte Kimi. Wir haben auch nur einen Tag verloren.

Waren wir einen Tag lang unterwegs?

Ja, wir waren am Anfang zu schnell und mussten die dunkle Seite überfliegen.

»Was erzählt ihr denn da?«, fragte Norok. »Geht es Kasfok gut?«

* * *

»Das wird ja auch Zeit«, sagte Alexa.

Gerade waren sie auf die Idee gekommen, die Säule aufzurichten. Kimi hatte schon befürchtet, sie wäre auf dem Flug beschädigt worden. Nun leuchtete Alexa wieder – das schöne Blau sah unter dem grünen Blätterdach allerdings grau aus.

»Kannst du uns sagen, wo wir sind?«, fragte Norok.

»Unter einem Dach aus Gerstenfarn«, sagte Alexa. »Mehr kann ich auch nicht sagen. Ich kann zwar die Umgebung mit den verschiedensten Sensoren untersuchen, aber über diesen Ort weiß ich nicht mehr als ihr.«

»Du hast nicht mal eine Karte?«

»Durch den Krieg hat sich hier alles verändert, Norok. Auch diesen Wald gab es früher nicht. Wie tief in der Schattenzone sind wir denn?«

»Wir befinden uns bei ungefähr acht Grad nördlicher Breite, jedenfalls unter der Annahme, dass die Inklination des Magnetfelds hier keine Anomalie aufweist.«

»Inklination des Magnetfelds?«, fragte Alexa.

»Du weißt nicht, was die Inklination ist?«, fragte Norok.

»Ich habe nur Kasfoks Frage übersetzt. Der Fuß der Säule kann Kasfoks Vibrationen messen.«

»Verstehe. Die Inklination ist ein Maß dafür, wie die Feldlinien zur Oberfläche des Planeten ausgerichtet sind. An den Polen liegt sie bei 90 Grad, hier nahe des Äquators nahe 0 Grad.«

»Danke«, sagte Alexa. »Von Kasfok.«

»Könntest du mit einer anderen Stimme sprechen, wenn du für Kasfok übersetzt?«

»Das ist eine gute Idee, Kimi.«

Alexa senkte ihre Stimme ab.

»Und was nun?«, fragte sie für Kasfok.

»Wir suchen einen Fahrstuhl nach unten«, beantwortete sie die Frage selbst.

»Und wie erkennen wir ihn?«, fragte Norok.

»Daran, dass sich darin eine funktionsfähige Maschinerie verbirgt«, erklärte Alexa. »Der Computer und alle Aufzüge werden aus dem Inneren des Planeten mit Energie versorgt.«

»Also müssen wir in jede Ruine kriechen und nachsehen?«, fragte Kasfok.

»Nein. Ich müsste die Energieabgabe eigentlich von außen erkennen. Wer von euch trägt mich?«

»Ich«, sagte Kasfok. »Hebt mir die Säule auf den Rücken. Ich befestige sie dann selbst.«

* * *

Sie hatten entschieden, zuerst im Süden zu suchen. Alle Himmelsrichtungen waren gleichwertig. Im Nachhinein stellte sich der Park, in dem sie gelandet waren, als wahre Oase heraus. Durch die trümmerübersäten Straßen der Stadt zu marschieren, erwies sich als anstrengend. Nur Kasfok klagte nicht. Ihm schien es sogar Spaß zu machen, seine Kletterfähigkeiten einzusetzen. Kimi wäre am liebsten geflogen, aber das hatte keinen Sinn. Alexa konnte die Gebäude, an denen sie vorbeikamen, nicht schnell genug analysieren. Sie mussten laufen.

»Werden wir im Computer auf Menschen treffen?«, fragte Kimi.

»Das ist sehr unwahrscheinlich«, antwortete Alexa.

»Aber könnten sich nicht einige vor der Bombardierung dort in Sicherheit gebracht haben?«

»Das wäre möglich. Aber seitdem sind 300.000 Umläufe vergangen. Dort unten gibt es keine Nahrung und kein Wasser. Wer auch immer damals in den Computer geflohen ist, musste sich längst wieder an die Oberfläche wagen.«

Kimi betrachtete die zerstörten Häuser der Menschen. Sie hatten alle rechteckige Öffnungen und erinnerten sie an die Behausungen, die sich manche Insektenarten konstruierten. Ob sie wirklich darin gewohnt hatten? Die Häuser wirkten eng, und die Stockwerke waren so niedrig, dass Kimi nur mit gesenktem Kopf darin stehen konnte. Immerhin gab es auf den Flachdächern etwas, das entfernt an Nest-Konstruktionen erinnerte.

Wahrscheinlich hatten die Menschen Flugmaschinen besessen, mit denen sie sich von Haus zu Haus bewegen konnten, ohne erst ganz nach unten und dann wieder nach oben klettern zu müssen. Kimi stellte sich vor, wie die Menschen früher nachts dicht an dicht in diesen primitiven Nestern geschlafen haben mussten. Es war ein Widerspruch, den sie nicht nachvollziehen konnte – einerseits konstruierten sie riesige Raumschiffe, andererseits mussten sie sich so enge Räumlichkeiten miteinander teilen.

»Da drüben«, sagte Alexa.

»Ein Aufzug?«, fragte Norok.

»Eine Telefonzelle.«

»Was ist eine Telefonzelle?«, fragten Kimi und Norok fast synchron.

»Das war ein Scherz, war er so schlecht? Ich weiß nicht, was da drüben ist, aber es gibt Energie ab. Also …«

»… Sollten wir nachsehen«, sagte Norok.

* * *

Alexa hatte auf ein Tor gezeigt, das sich innerhalb der mehrere Spannweiten hohen Außenmauer eines Gebäudes befand. Das Objekt, das Energie abgab, befand sich dahinter. Sie untersuchten das Tor. Norok drückte eine Metallstange nach unten, die als einziger Öffnungsmechanismus in Frage kam, aber das Tor blieb geschlossen. Norok rüttelte an der Stange. Dann versuchte er, das Tor aufzudrücken, doch seine Kräfte reichten nicht aus.

»Hilfst du mir mal?«, fragte er.

Kimi stemmte sich gegen ihn. Sie roch seinen Schweiß und dachte daran, wie lange sie nicht mehr zusammen gewesen waren. Sie drückte mit aller Kraft, aber das Tor rührte sich nicht von der Stelle. Norok trat ein paar Schritte zurück und sah nach oben. Dann nahm er Anlauf und startete. Er flog zwei Runden über das Gebäude, dann kehrte er zu ihnen zurück.

»Ich konnte keinen anderen Eingang finden.«

»Dann ist ausgerechnet dieses Gebäude wohl das einzige weit und breit, das das Bombardement überstanden hat?«, fragte Kasfok.

»Vielleicht hat man es danach noch repariert«, sagte Alexa.

Es wirkte immer noch so, als führte das Programm in der Säule Selbstgespräche.

»Dann muss es sehr wichtig gewesen sein«, sagte Kimi. »Nach so einem Krieg sind alle Ressourcen knapp.«

»Der Zugang zum Supercomputer war für die Menschen extrem wichtig«, sagte Alexa.

»Aber wenn wir hier nicht hineinkommen, vergeuden wir bloß Zeit«, sagte Norok. »Suchen wir besser nach einem anderen Eingang in den Computer.«

»Kann mir mal jemand die Säule abnehmen?«, fragte Kasfok.

»Was? Der Platz auf deinem Rücken ist sehr bequem für mich.«

»Es tut mir leid, aber bei dem, was ich jetzt vorhabe, behinderst du mich.«

Kasfok drehte den Kopf leicht und spuckte einen dünnen Schleim über die Säule.

»Na toll, jetzt muss ich mich auch noch bespucken lassen«, beschwerte sich Alexa.

»Der Schleim löst den Leim.«

Kasfok lachte.

»Warum lachst du?«, fragte Norok.

»Schleim – Leim, du verstehst? Und jetzt nimm mir die Säule ab.«

Norok folgte der Bitte. Kasfok streckte all seine Glieder und kletterte dann in rasendem Tempo die Außenwand empor. Er wirkte wie eine kleine Maschine, so schnell und doch so gleichmäßig bewegte er seine Füße. Auf dem Boden wirkte der Mendrak plump, doch in der Disziplin, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen, war er großartig. Kasfok kletterte senkrecht nach oben bis zum Dachansatz, der leicht nach vorn ragte, dann folgte er diesem nach rechts.

Plötzlich war er verschwunden. Eben hatte es noch so ausgesehen, als taste er mit den Vorderbeinen ein Hindernis ab, da war er auch schon weg. Norok stieg auf. Flatternd untersuchte er die Wand, fand aber offenbar nichts und landete wieder neben Kimi.

»Da oben ist nichts«, sagte er, »außer einer schmalen Ritze zwischen der Mauer und dem ungleichmäßig aufliegenden Dach.«

»Dann muss Kasfok da hindurch gekrochen sein«, sagte Alexa.

»Aber der Spalt ist wirklich schmal. Und Kasfoks Hinterleib ist ziemlich dick.«

»Du hast ihn doch gehört«, sagte Kimi. »Er ist nicht dick. Anscheinend kann er seinen Körper so zusammenpressen, dass er durch die kleinste Lücke passt. Hoffentlich findet er etwas.«

»Wir haben das Tor von außen zu zweit nicht aufbekommen, wie soll er es da allein von innen schaffen?«

»Warten wir es ab«, sagte Kimi.

* * *

Sie warteten. Das Tor öffnete sich nicht, und Kasfok kehrte auch nicht zurück. Die Sonne stand tief. Kimi erwartete dauernd, dass sie bald untergehen würde. Dann würde es dunkel werden, und sie hatten schon wieder einen Tag verloren. Aber der Einfallswinkel des Sonnenlichts änderte sich nicht, und Kimi erinnerte sich, dass der Planet der Sonne stets dieselbe Seite zuwandte.

Ein grelles Quietschen erschreckte sie.

»Das Tor bewegt sich!«, rief Norok.

»Das sehe ich«, sagte Kimi.

»Vielleicht habe ich vorhin eine Zeitschaltung aktiviert«, sagte Norok.

Das war Quatsch. Das Tor bewegte sich nicht freiwillig. Es wehrte sich geradezu dagegen, hielt sich an seinem Rahmen fest und spannte die Angeln an. Es gab nur einen, der dafür verantwortlich sein konnte. Aber woher hatte Kasfok plötzlich solche Kräfte?

»Wir sollten uns beeilen«, sagte Kimi, als das Tor so weit geöffnet war, dass sie hindurch passten.

»Vergesst mich nicht«, sagte Alexa.

Norok griff sich die Säule und verschwand durch die Lücke im Tor, und Kimi folgte ihm. Dahinter war es dunkler als draußen, aber es war immer noch hell genug, um Kasfoks Werk zu bewundern. Es handelte sich wirklich um eine geniale Konstruktion. Der Mendrak hatte mehrere Seile um verschiedene Teile der Dachkonstruktion gewunden und mit der Innenseite des Tors verbunden. So war ein Flaschenzug entstanden, der Kasfoks Kräfte vervielfacht hatte. Der Mendrak erwartete sie; der Stolz war ihm anzusehen.

»Eine tolle Idee«, sagte Kimi.

»Nicht schlecht«, sagte Norok.

»Bloß ein bisschen Mechanik«, wiegelte Kasfok ab.

Kasfok ließ das Seil los, und das Tor schloss sich wieder.

»Entschuldigt, dass es so lange gedauert hat, aber meine Spinndrüse ist nicht mehr so leistungsfähig wie vor 50 Jahren.«

»Hauptsache, wir sind drin«, sagte Kimi.

»Jetzt ist sie ganz heiß«, sagte Kasfok. »Willst du sie mal anfassen? Keine Sorge, sie ist sowieso leer. Ein paar Stunden lang werde ich nicht den kleinsten Faden spinnen können.«

»Ich danke dir für das Angebot«, sagte Kimi, »aber lasst uns lieber die Zeit nutzen und nach dem Fahrstuhl suchen.«

* * *

Alexa wies ihnen den Weg. In der Halle warteten ein paar Fahrzeuge, die anscheinend zum Lasttransport gedient hatten. Ihre Ladeflächen waren leer. An den Wänden standen flache Tische, an denen Werkzeuge befestigt waren. Vermutlich hatten die Menschen diesen Ort zur Instandhaltung der Fahrzeuge benutzt. Alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Kimi musste husten, als Kasfok aus Versehen Staub von einem der Fahrzeuge aufwirbelte. Die Luft roch nach Öl.

Sie verließen die Halle durch eine Tür an der Rückseite, die mit einer Querstange gesichert war. Kimi und Norok mussten die Köpfe einziehen. Dahinter erreichten sie einen gepflasterten Hof. Kein Lüftchen regte sich; an allen vier Seiten hielten hohe Wände den Wind ab. Hier fanden sie den ersten Menschen – oder das, was von ihm übrig war. Über der Lehne einer Bank hing ein helles Kleidungsstück, das vielleicht einmal rosa gewesen war. Darunter reichte ein zweites, blaues Kleidungsstück mit zwei Beinen bis zum Boden.

Kasfok untersuchte die Überreste.

Scheint völlig leer zu sein , trommelte er, und Alexa übersetzte.

Ach nein, hier sind ein paar Metallteile.

»Künstliche Ersatzteile für den menschlichen Körper«, sagte Alexa. »Der Tote muss arm gewesen sein, wenn er sich kein Original leisten konnte.«

Kasfok kroch hinter die Bank und zerrte ein weiteres Stück Stoff hervor. Es war rund und flach.

»Das könnte eine Mütze sein«, erklärte Alexa. »So etwas tragen manche Menschen auf dem Kopf. Trugen.«

Ich schätze, er war etwas größer als Mart , trommelte Kasfok. Oder war es ein Weibchen?

»Zur Geschlechtsbestimmung fehlen mir die Informationen«, sagte Alexa.

Mart war der einzige Mensch, der ihnen je begegnet war. Das wurde Kimi jetzt erst so richtig bewusst. Wie sehr mochten sich die einzelnen Exemplare unterscheiden? Ihr Verhalten deutete auf eine staatenbildende Intelligenz hin, aber was bedeutete das für die Individualität?

»Da drüben!«, sagte Alexa.

Die Außenwand des Gebäudes gegenüber war nicht mit Putz bedeckt, sondern mit einem glatten, organisch anmutenden Stoff, der trotz der 300.000 vergangenen Jahre noch glänzte. Es gab sogar zwei Türen, und keine war abgeschlossen. Innen war es dunkel, aber durch die beiden Türen schien genug Licht herein. Der Raum war etwa so groß wie die Zentrale der Sphäre. In seiner Mitte befand sich ein kastenförmiger Bau aus einem transparenten Material.

»Von dort kommt die Energie«, erklärte Alexa.

Kasfok ging ohne zu zögern voraus. Als er noch eine halbe Schwingenlänge von dem Kasten entfernt war, schaltete sich darin ein weißes Deckenlicht an. Sie hörten ein Quietschen, und ein Teil der Seitenwand schob sich zur Seite, sodass ein Durchgang entstand.

Das muss der Fahrstuhl sein , trommelte Kasfok.

* * *

Vorsichtig trat Kimi auf die weiße, rechteckige Platte, die Kasfok in der Mitte des Glaskastens entdeckt hatte. Da der Boden ebenso weiß glänzte, fiel sie kaum auf. Kasfok hatte allerdings einen dünnen Spalt gefunden, der die Platte abgrenzte. Kimi spürte ein leichtes Kribbeln in den Füßen. Anscheinend bildete die Platte ein elektrisches Feld aus. Die Magnetfeld-Sensoren der Iks waren auch dafür empfänglich.

Norok stellte sich neben sie und platzierte die Säule mit Alexa in der Mitte des Rechtecks. Was würde nun passieren? War das der Aufzug? Es gab in der Kammer nirgends eine Bedienvorrichtung. Handelte es sich überhaupt um das, wofür sie es hielten? Vielleicht hatten sie auch nur eine Art Waage betreten, und das Gebäude war vor langer Zeit mal ein Markt gewesen?

Ein schriller Ton erklang. Kimis Herz pochte. Das musste ein Warnsignal sein. Der Ton wiederholte sich. Die Platte unter ihren Füßen vibrierte deutlich.

Auf einmal schoben sich rund um das weiße Rechteck schwarze Wände nach oben. Sie waren gefangen! Kimi brauchte einen Moment, um festzustellen, was geschah: Es ging abwärts. Sie hatten den Aufzug gefunden.

* * *

Zuerst veränderten sich die Wände. Das matte Schwarz wich natürlichem Gestein, das perfekt glattgeschliffen war. Der Fahrstuhl beschleunigte unmerklich. Trotzdem bewegten sich die Wände immer schneller nach oben. Kimi musste den Blick abwenden, damit ihr nicht übel wurde.

Kurz darauf schoben sich von oben Vorhänge herab, die die Wände verbargen. Nun war nur noch schwer zu bestimmen, wie schnell sie sich bewegten. Wahrscheinlich war das Absicht, um die Passagiere zu schonen. Die Vorhänge füllten sich mit Farben. Kimi sah sich um. Sie fand die Projektoren an der Decke, die die Farbspiele erzeugten. Sie zeichneten abstrakte Muster auf die Vorhänge. Dazu setzte Musik ein. Die Harmonien kamen ihr ungewohnt vor, aber sie wirkten seltsam beruhigend. Die Konstrukteure des Fahrstuhls hatten sich wirklich Mühe gegeben.

Wie tief waren sie schon? Der Luftdruck schien sich nicht wahrnehmbar verändert zu haben. Der Schacht war wohl von der Außenwelt abgeschlossen.

»Kannst du etwas messen, Alexa?«, fragte sie.

»Der Fahrstuhl beschleunigt nicht mehr, aber das ist alles, was ich dir sagen kann.«

»Wie schnell sind wir?«

»Das kann ich ohne den Blick nach draußen nicht messen.«

»Aber du könntest es ausrechnen. Du weißt doch, wie lange wir wie stark beschleunigt haben.«

Alexa seufzte. Kimi war immer noch nicht klar, wie intelligent die Schiffsteuerung war. Aber anscheinend war sie faul.

»Ja, okay, warte. Wir müssten in einer halben Stunde unten ankommen.«

»Danke, Alexa.«

* * *

Der Fahrstuhl bremste schon seit einiger Zeit. Jede Unterhaltung war versiegt, nachdem Kasfok eine stark nach Senfkohl riechende Wolke abgesondert hatte. Der Mendrak hatte sich dafür wortreich entschuldigt, aber die Lüftung der Kabine war an der Wolke gescheitert. Anscheinend bestand sie nicht nur aus Dampf, sondern auch aus Kleinstlebewesen, die sich in der Luft zusammenballten. Als der Fahrstuhl zu bremsen begann, war die Wolke zu Boden gesunken und breitete sich dort nun als feuchter Fleck aus, den niemand betreten wollte.

»Gleich sind wir da«, sagte Norok und zeigte auf die Wand.

Dort zog die Automatik gerade die Vorhänge wieder nach oben. Kimi erhaschte noch einen kurzen Blick auf gewachsenen Fels, dann folgten schwarz verputzte Wände wie kurz nach dem Start. Die Menschen hatten eine Leidenschaft für Symmetrie.

Aber Kimi hatte sich geirrt. Mit einem Mal verschwanden die Wände rundherum. Obwohl sie große Höhen gewohnt war, wurde ihr schwindlig. Kimi hielt den Atem an. Sie waren in eine riesige Höhle getaucht, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Von der Decke aus gewachsenem Fels schickten riesige Strahler weißes Licht nach unten. Es beleuchtete eine Konstruktion, die an ein dreidimensionales Atomgitter erinnerte. Als Atome dienten dabei würfelförmige Gebilde, die Kabel, Rohre und mit Geländern versehene Gehwege verbanden. Die Würfel blinkten rundherum in allen Farben. Aber außer ihnen schien es niemanden zu geben, der das Blinken zu würdigen wusste, deshalb kam es ihr sinnlos vor.

Kasfok näherte sich dem Rand der Kabine und streckte ein Bein nach vorn.

Die Wände sind transparent , trommelte er dann.

Alexa übersetzte mit Verzögerung. Anscheinend war sie damit ausgelastet, die Höhle zu untersuchen. Kimi war erleichtert. Die riesigen Ausmaße der Höhle flößten ihr Respekt ein, wenn nicht gar Angst. Musste die Decke nicht irgendwie abgestützt werden? Sie hatte mit großen Höhen nie ein Problem gehabt, doch dann war der Himmel über ihr immer offen gewesen – nicht bereit, auf sie herabzustürzen und sie unter seinen Trümmern zu begraben.

»Geht es dir gut?«, fragte Norok.

Anscheinend war ihr die Angst anzusehen. Sie schluckte sie hinunter.

»Es ist nur etwas ungewohnt«, sagte sie.

»Ich bin auch nicht gern Passagier«, sagte Norok.

Sie verstand, was er meinte.

Ich bin gern Passagier , trommelte Kasfok. Als ich noch Netzmeister war, mussten mich meine Untergebenen manchmal tragen.

Kimi stellte sich vor, wie vier Mendrak ihren Netzmeister in einer Art Sänfte herumtrugen.

»Jetzt wäre es an der Zeit, eine Suchstrategie zu entwickeln«, sagte Alexa.

»Wir haben dich bis hierher gebracht, aber jetzt dürften wir dir kaum helfen können«, sagte Norok.

Ich hoffe, wir müssen nicht jeden einzelnen Würfel abklappern , trommelte Kasfok.

»Die Würfel sind miteinander verbunden«, sagte Alexa. »Ich brauche bloß ein Terminal.«

»Und wo finden wir das?«, fragte Norok.

»Sicher in der Nähe der Endstation des Fahrstuhls.«

»Aber dann gibt es ja gar kein Problem!«

»Ich hoffe es, Norok.«