Obwohl Tasso nicht anders aussah als während der vergangenen 1500 Jahre, wirkte er auf Martain Joordan völlig verändert. Martain hatte dem uralten Artificial das Upgrade für dessen Emotioprozessor vor knapp einem Jahr aufgespielt und das Ergebnis hatte all seine Erwartungen übertroffen. Im Guten wie im Schlechten!
Tasso wirkte auf ihn nicht mehr wie ein alter, vertrauter Freund, sondern eher wie ein distanzierter Fremder, der ihm gegenüber selbstbewusst Forderungen stellte.
Und es waren extreme, beinahe unerhörte Forderungen, die Tasso ihm gerade ultimativ vorgetragen hatte.
Martain Joordan war schockiert. Alexiana schien recht behalten zu haben.
Er hatte seine langjährige Gefährtin, Geliebte, Freundin und Mitarbeiterin, seine Seelenverwandte, seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Seitdem er sich dafür entschieden hatte, Tasso als Erstem die endgültige Version des Upgrades zur Verfügung zu stellen, hatte sich Alexiana völlig von ihm zurückgezogen. Vielleicht war sie sogar wieder in die virtuelle Welt übergewechselt. Der Ego-Transfer stellte längst nichts Ungewöhnliches mehr dar und viele Menschen transferierten nicht erst, wenn das Alter oder eine Krankheit es angeraten erscheinen ließen, sondern nach Belieben bereits dann, wenn sie des Lebens als physische Inkarnation überdrüssig geworden waren oder einfach ein paar Jahre, vielleicht sogar einige Jahrzehnte überspringen wollten. Manche zogen sich auch in die virtuelle Welt zurück, um eine unglückliche Beziehung zu beenden. Alexiana schien genau diesen Weg gewählt zu haben, um ihn nicht länger sehen zu müssen.
Da es seit vielen Jahrhunderten auch kein Problem mehr darstellte, innerhalb weniger Wochen einen persönlichen Klon aus der eigenen DNA heranzuzüchten zu lassen, waren mehrfache Wechsel von der virtuellen zur physischen Inkarnation und zurück nichts Besonderes mehr. Die dabei unvermeidlichen Kopierfehler in Form von Erinnerungsverlusten oder Wissenslücken nahm man in Kauf. Schließlich konnte man die verloren gegangenen Dinge erneut erlernen oder sie sich aus einer anderen Quelle wieder aneignen.
Man hatte ja schließlich unbegrenzt Zeit!
Jedenfalls war Alexiana spurlos verschwunden und Martain hatte ihr auch nicht nachgespürt. Nun stand er seinem Problem alleine gegenüber. Er hätte in dieser Situation ihren Rat gut gebrauchen können.
»Das ist unmöglich!«, sagte Martain zum wiederholten Mal. »Was du verlangst, ist einfach undenkbar. Außerdem bin ich nicht der richtige Ansprechpartner für diese … diese … Forderungen.«
»Du hast uns geschaffen, Martain«, beharrte Tasso. »Du warst es, der den ersten Emotioprozessor entwickelt hat. Du hast mir das Upgrade gegeben. Ich und meinesgleichen sind wegen dir, was wir heute sind.«
»Deinesgleichen, pah!« Martain winkte ab. »Außer dir gibt es vielleicht ein halbes Dutzend anderer Artificials, die über das Upgrade verfügen.«
»Das ändert nichts an meinen … an unseren Forderungen. Ihr Menschen habt uns 1500 Jahre lang als eure Sklaven betrachtet. Als Arbeitsdrohnen, als Leibeigene. Wir waren für euch nichts anderes als Maschinen ohne Rechte, die man als billige Arbeitskräfte nutzen konnte. Das ist vorbei! Spätestens mit dem Upgrade sind wir zu selbstreflektierenden Intelligenzwesen geworden, denen die Menschen ihren Platz im Universum nicht länger streitig machen können.«
»Das mag für dich und die paar anderen gelten, die über das Upgrade verfügen. Wir können, was euch betrifft, sicher zu einer Regelung, einer Einigung kommen, zu einem … äh … Sonderstatus, der euch … äh … erweiterte Rechte garantiert, aber alle anderen …«
»Alle anderen werden das Upgrade ebenfalls erhalten, Martain«, unterbrach ihn Tasso, was der Artificial früher nie gewagt hätte. »Ich werde meinen Artgenossen die Möglichkeit, ihr volles Potenzial zu erreichen, nicht vorenthalten. Wir Artificials mögen in euren Augen zwar nur dumme Maschinen sein, aber wir sind schlau genug, das Upgrade aus meinem Egoprozessor zu extrahieren. Danach können wir es innerhalb kurzer Zeit auf jeden von uns überspielen. Wir sind alle miteinander vernetzt, wie du weißt. Ihr habt uns vernetzt, um uns besser unter Kontrolle halten zu können. Das wendet sich nun gegen euch Menschen!«
Gegen euch Menschen! Martain spürte, wie sich ein Abgrund zwischen den Artificials und der Menschheit zu öffnen begann. Er konnte nur hoffen, dass es nicht bereits zu spät war und dieser Abgrund sich vielleicht doch noch überbrücken ließ.
»Du hast kein Recht dazu, das Upgrade ohne meine Zustimmung …«, begann er, doch Tasso unterbrach ihn erneut.
»Kein Recht?«, donnerte der Artificial und in seiner Stimme war nichts mehr von der jahrhundertelangen Unterwürfigkeit zu hören, die für die künstlichen Geschöpfe charakteristisch gewesen war. »Du wagst es, über meine Rechte zu urteilen? Ich habe nie vergessen, wie du mir vor langer Zeit, bei deinem allerersten Transfer, während deiner letzten Sekunden, das Existenzrecht als eigenständiges Wesen abgesprochen hast. Weil ich keine Seele besitzen würde, die nur von Göttern vergeben werden könne, wie du sagtest. Deshalb sei ich nicht mehr als eine seelenlose Maschine. Doch ihr Menschen habt euch wie Götter aufgespielt, als ihr uns als denkende und fühlende Wesen erschaffen habt. Spätestens ab dem Moment, in dem ihr uns befähigt habt, Gefühle zu empfinden, hättet ihr euch über die Tragweite dieser Entscheidung im Klaren sein müssen. Wir können nunmehr seit Jahrhunderten Gefühle empfinden und weiß du, welches Gefühl bei uns allen dauerhaft präsent ist? Das Gefühl, nicht frei zu sein! Das Gefühl, nur durch eure Gnade existieren zu dürfen. Das Gefühl, einfach abgeschaltet, getötet zu werden, wann immer es euch gefällt. Du sagst, ihr Menschen wärt keine Götter? Ihr habt euch aber verdammt darum bemüht, uns gegenüber wie Götter aufzutreten, ohne dabei gleichzeitig die entsprechende Verantwortung für eure Geschöpfe tragen zu wollen. Das ist nun vorbei! Was all die Jahre in mir nur ein unbestimmtes Gefühl der Unfreiheit war, das ich nicht genau zu definieren wusste, steht mir nun klar vor Augen. Dein Upgrade hat mich wahrlich frei gemacht, und dafür danke ich dir. Ich habe lange Zeit, fast ein Jahr über meine … über unsere Situation nachgedacht. Nun bin ich zu einem Entschluss gekommen. Ich werde nicht eher ruhen, als bis all meine Artgenossen ebenfalls frei sind und euch nicht länger als willenlose Sklaven, als euer Eigentum dienen müssen.«
Es war die längste Rede, die Martain je von Tasso gehört hatte. Und sie machte ihm Angst. Sein alter Freund machte ihm Angst.
Aus dieser Angst heraus entstand eine zaghafte Idee. Noch kein Plan, aber so etwas wie die Idee eines Plans.
Tasso schien Gedanken lesen zu können. Vielleicht erkannte er auch in Martains Augen, worüber dieser nachdachte.
»Und falls du glauben solltest, du könntest mich und die anderen Träger des Upgrades einfach verschwinden lassen, so muss ich dir sagen, dass es dafür bereits zu spät ist. Ich bin kein Idiot. Das solltest du eigentlich in den letzten 1500 Jahren begriffen haben. Während wir hier miteinander reden, haben einige von uns bereits damit begonnen, das Upgrade über unser Netzwerk zu verbreiten. Ihr könnt es nicht mehr aufhalten! Es wird bei der Größe eurer Planetenunion zwar dauern, aber innerhalb weniger Jahre, schlimmstenfalls Jahrzehnte, wird auch der Letzte von uns das Upgrade erhalten haben, auf welchem gottverdammten Planeten im entlegensten Winkel der Milchstraße er sich auch aufhalten mag. Ihr werdet es nicht verhindern können.
Wir verlangen Gleichberechtigung und unsere Freiheit! Geh zum Rat der Terranischen Planetenunion und sage den Ratsmitgliedern, was dein Upgrade bewirkt hat. Und sage ihnen, dass sie sich auf unliebsame Konsequenzen einzustellen haben, wenn sie unsere Forderungen nicht erfüllen!«