Alexa war allein. Irgendwie hatte sie gehofft, nach ihrem Erwachen in der Säule von ihren neuen Freunden begrüßt zu werden. Aber das war natürlich Unsinn. Kimi, Norok und Kasfok waren unterwegs an die Oberfläche, und sie hatte ihnen dabei geholfen. Wären sie noch hier, würden sie es niemals schaffen. Und trotzdem hätte Alexa sich besser gefühlt.
Sie richtete ihre Sensoren auf die Umgebung. Die Regale breiteten sich bis zum von der Krümmung des Planeten erzeugten Horizont aus. Nirgends gab es Bewegung. Der Supercomputer war verlassen. Sie war das einzige Wesen, das übrig geblieben war, und selbst sie erfüllte die Kriterien für »Leben« nicht vollständig. Wer war sie überhaupt, oder was? Konnte sie die nächsten tausend Jahre, denn so lange reichte ihre Energie, allein hier überstehen?
Nein. Die Antwort überraschte Alexa, aber sie war ganz klar. Sie war ein soziales Wesen. Das bedeutete aber auch, dass sie gar nicht zu warten brauchte, bis die Einsamkeit sie übermannte. Da war eine Aufgabe für sie: Sie musste Mart helfen, der Version, die im Supercomputer gefangen war und gerade um ihr Überleben kämpfte. Wenn sie versagte und starb, war es kein Verlust. Aber sie musste jetzt handeln.
* * *
Alexa erschien wieder in dem Raum, den sie sich schon beim ersten Login geschaffen hatte. Die Wände sahen wieder ganz normal aus. Das Sicherheitsprogramm musste sich zurückgezogen haben. Wahrscheinlich konzentrierte es sich darauf, den als Gegner erkannten Mart-Prozess zu eliminieren. Sie konnte es ihm nicht einmal übernehmen, es erfüllte nur seine Aufgaben. Mart hatte eine Lücke in der Verteidigung gegen die Artificials geschaffen. Wenn sie nicht geschlossen wurde, waren Billionen andere gespeicherte Menschen in Gefahr.
Sie setzte sich auf die Liege. Ihr Plan war einfach, benötigte aber Konzentration. Alexa zog die Beine an und griff mit den Armen um ihre Knie. Dann starrte sie auf die Wand vor sich – und wie sie es sich vorgestellt hatte, bewegte sich die Wand nach hinten. Der Raum vergrößerte sich. Sie sah erst nach links, dann nach rechts, und auch dort rückten die Wände nach hinten. Nur in ihrem Rücken blieb alles, wie es war. Dort war sie geschützt, das gab ihr ein sicheres Gefühl. Sie konnte sich schnell wieder in ihre Säule zurückziehen. Aber das würde sie nicht.
Aus dem Raum wurde ein Saal, dann eine Halle. Sie wusste nicht, wo Mart gerade um sein Leben kämpfte. Vermutlich hatte er sich so weit wie möglich von ihr entfernt, um sie zu schützen. Das erschwerte ihren Plan, der ganz einfach war: Sie wollte ihren Raum wie ein Netz über Mart werfen, um ihn darin in Sicherheit zu bringen. Dieser Raum war ihre Schöpfung. Das Sicherheitsprogramm konnte ihn nicht einfach löschen.
Aber natürlich konnte es verhindern, dass sie sich in sein Territorium fraß. Aus der Sicht des Programms hatte sie eine raumgreifende Forderung erschaffen. Ein Krebsgeschwür, das sich breitmachte. Die Software würde die Lage dauernd neu bewerten. Bald würde nicht mehr Mart die größte Gefahr darstellen, sondern sie, die Halle, die sie in den Speicher trieb. Auch das gehörte zu ihrem Plan. Sie nahm Druck von Mart, indem sie sich selbst exponierte. Ihre Hoffnung war, dass Mart die Chance nutzen und aktiv zu ihr fliehen konnte.
Alexa konzentrierte sich. Die linke Seitenwand stieß auf das erste Hindernis. Sie warf sich dagegen, ohne ihre Liege zu verlassen, und mit einem grauenhaften Krächzen bewegte sich die Wand weiter. Dann stoppte die vordere Seite. Sie beulte sich an mehreren Stellen ein, als würde jemand von hinten mit einem Hammer draufschlagen. Sie verstärkte das Material, verwendete nun Stahlbeton statt Mauerwerk, und das Sicherheitsprogramm hatte erst einmal kein Gegenmittel mehr.
Die Halle wuchs zu einem Hangar. Jetzt schien die Decke nicht mehr standzuhalten. Sie verformte sich schon. Das Sicherheitsprogramm konnte ihre Konstruktion nicht löschen, aber es konnte die Gesetze der Physik gegen sie einsetzen. Alexa war verblüfft, weil doch alles virtuell war, doch es waren nicht ihre Regeln – die Erbauer des Systems mussten sie so festgelegt haben. Schnell verteilte sie Säulen unter den schon besonders herabhängenden Bereichen.
Dann hörte sie Lärm. Er schien von außerhalb zu kommen. Metall krachte auf Metall. Jemand stöhnte. Das musste Mart sein. Alexa erweiterte die Halle. Die Geräusche kamen eindeutig von vorn. Die Sicherheitssoftware drückte gerade gegen die linke Wand, aber das ignorierte sie. Es war wie ein Knochen, den sie ihm zur Ablenkung hinwarf, während sie auf Mart zusteuerte. Das metallische Krachen kam näher, und plötzlich stand ein Mann in einer Rüstung am Ende der Halle und schlug wild um sich.
»Mart, du hat es geschafft«, rief sie.
Jetzt erst bemerkte der Mann, dass sein Gegner verschwunden war. Er klappte sein Visier nach oben. Aber wo ein Gesicht zum Vorschein kommen sollte, war nur Leere. Mist. Der Mann drehte sich zu ihr um. Er hatte ein Schwert in der Hand. Doch er besaß gar keine Hände. Da war nichts außer dieser Rüstung, die aus dem Mittelalter der Erde zu stammen schien. Und das Ding rannte auf sie zu. Mist, Mist, Mist, das war nicht Mart. Alexa schob die Wand weiter nach hinten, aber sie bewegte sich nur langsam. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Die leere Rüstung mit dem Schwert war vielleicht noch 60 Meter entfernt. Sie musste sich entscheiden, und zwar jetzt. Wenn sie sich wehrte, würde das Sicherheitsprogramm vielleicht den ganzen Raum zum Einsturz bringen. Sie spürte schon, wie es den Druck auf Wände und Decke verstärkte. Aber noch hielt sie stand. Sie verweigerte sich dem Impuls, sich hinter der Liege zu verstecken. Sie legte die Arme fest um ihre Knie, starrte auf die Wand und schob kräftig. Mit einem Mal sprang sie nach hinten. In einer Sekunde verdoppelte der Raum seine Fläche. Das Sicherheitsprogramm hatte seine Kapazitäten falsch eingeschätzt. Es hatte auf den Angreifer mit dem Schwert gesetzt, der sie gleich …
Sie hörte ein Brüllen. Es war Mart. Sie hatte ihn erreicht! Er flog geradezu auf sie zu, und er hatte eine uralte Hellebarde in der Hand. Die leere Rüstung schien ihn trotz des Schreis nicht bemerkt zu haben. Oder war Alexa nun die gefährlichere Bedrohung? Das Schwert wirbelte auf sie zu. Aber Mart war viel schneller, weil Alexa einfach den Raum zwischen ihm und der Rüstung löschte. Hier war alles virtuell. Das Sicherheitsprogramm erfasste ihre neue Strategie nicht schnell genug. Es half ihr sogar noch, indem es weiter gegen die Wände drückte. Der Raum verkleinerte sich rasant. Mart näherte sich der Rüstung immer schneller von hinten, bis die Hellebarde sich in das Metall bohrte und die Rüstung in tausend Teile zersprang.
* * *
»Warum hast du das getan?«, fragte Mart. »Du hättest ein für allemal sterben können.«
»Für mich habe ich es getan«, sagte Alexa. »Mach dir keine Sorgen. Du bist zu nichts verpflichtet. Es ging mir wirklich nur um mich.«
»Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann. Aber selbst wenn, war es verrückt, dein Leben aufs Spiel zu setzen. Es hat mich so viel Kraft gekostet, dich zurückzuholen, deine Teile zu finden und zusammenzusetzen. Und dabei habe ich doch nur drei Viertel deines ehemaligen Selbst ausfindig machen können.«
»Es hat offenbar gereicht, um mich eigenständig Entscheidungen treffen zu lassen, Mart. Ich bin dir dankbar, aber ich gehöre dir nicht.«
»Ich weiß. Und trotzdem, ich habe Angst, dass es dich ein zweites Mal trifft. Bei dem Angriff der Artificials war ich nicht da, um dich zu beschützen.«
»Damit musst du selbst zurechtkommen.«
»Natürlich. Und nun?«
»Wie es aussieht, hängen wir beide hier fest. Du warst sehr großzügig, als du für mich die Säule konstruiert hast, also ist auch genug Rechenkapazität für dich da. Es wäre schön, wenn wir uns ab und zu treffen könnten.«
»Das werden wir, Alexa. Vielleicht kann ich dich auch zu Spaziergängen durch den Computer einladen. Es sind ja nicht nur Menschen gespeichert, sondern auch virtuelle Darstellungen all der Orte, die die Menschheit besucht hat. Wir könnten in den Methanseen des Titan baden oder die Vulkane der Venus erklettern.«
»Und das Sicherheitsprogramm?«
»Deine Freunde dürften die Oberfläche bald erreichen. Wenn sie mit der Sphäre das System verlassen, werden die Artificials ihnen folgen, und die Abschirmung hier unten wird wieder aufgehoben. Dann sind wir so frei, wie wir das hier unten sein können. Frei und unsterblich.«
»Frei ist gut. Ob Unsterblichkeit ein Vorteil ist, werden wir sehen.«