5. Zuhn 299

Alarm, Alarm, Alarm.

Tolkut schaffte es nicht, die Warnung auszuschalten. Der Übersetzer gab dieses eine Wort in Dauerschleife von sich. Wie sollte er da mit der Schiffssteuerung kommunizieren? Er hatte den Orbit der Sphäre noch ein Stück abgesenkt. Die vier Kreuze rückten seiner Position unaufhörlich näher. Er gab sich noch eine einzige Umkreisung, dann musste er fliehen – oder das Schiff würde vernichtet werden. Tolkut kontrollierte die Koordinaten. Gleich musste er die offene Luke überqueren. Das Radarbild war bereits auf den Boden scharf gestellt.

Und schon kam sie ins Bild. Aber rundherum hatte sich einiges verändert. Jemand hatte eine riesige Knotentafel aufgestellt. Nur Kasfok kam dafür in Frage. Der alte Haudegen! Tolkut las mit, während das Schiff die Schriftzeichen passierte. Wollte Kasfok ihm sagen, wie sie an Bord kommen wollten?

ZIEL, ERDE, HEIMA

Nein. Sein Ziel sollte die Erde sein, der dritte Planet in ihrem Heimatsystem. All seine Härchen stellten sich auf. Sie hatten völlig umsonst viele Lichtjahre zurückgelegt. Hatte Mart sie betrogen, oder hatte er es nicht anders gewusst? Und warum hatte Kasfok ihm diese Erkenntnis nicht persönlich mitgeteilt?

Weil seine Freunde glaubten, nicht mehr rechtzeitig an Bord zu kommen. Sie mussten gemerkt haben, dass Artificials in das System eingeflogen waren. Vielleicht hatte es da unten auch einen Alarm gegeben. Ihre Schlussfolgerung war richtig – und erschreckend. Wenn sie nicht rechtzeitig an Bord kamen, musste er mit der Sphäre abfliegen. Immerhin kannte er nun das Ziel. Er war die letzte Hoffnung der Iks und der Mendrak. Tolkut zitterte am ganzen Körper. Dieser Verantwortung war er nicht gewachsen.

Aber noch war nicht alles verloren. Er würde diese Koordinaten noch ein weiteres Mal überfliegen, und wenn sie dann nicht kamen … er schüttelte den Gedanken ab. Kasfok, Kimi und Norok würden pünktlich sein.

* * *

Jemand klopfte an die harte Schale auf seinem Rücken. Kasfok sprang auf und schob instinktiv angriffsbereit den Unterkiefer vor.

Ganz ruhig , tanzte Kimi, wir sind es nur.

Entschuldige. Meine Instinkte gehen mit mir durch. Schön, dass ihr da seid.

Was ist das denn?

Kimi zeigte auf die riesige Knotentafel.

Eine Botschaft an Tolkut. Das Ziel ist die Erde.

Ob er sie gesehen hat?

Ich weiß es nicht.

Ist das Schiff noch im Orbit?

Ich hoffe es.

»Und, was gibt es?«, fragte Norok.

Kimi übersetzte das Gespräch.

»Dann müssen wir es darauf ankommen lassen«, sagte Norok.

»Wie meinst du das?«

»Wir müssen so schnell wie möglich starten und ihm entgegenfliegen.«

»Aber wir können uns doch gar nicht mit ihm absprechen.«

»Gerade deshalb müssen wir starten. Versetz dich doch in seine Lage. Was würdest du tun, wenn du deine Freunde dringend erwartest, aber nicht mit ihnen kommunizieren kannst?«

»Ich würde den Orbit so weit wie möglich absenken und hoffen, dass sie das Naheliegende tun.«

»Genau, Kimi, und das machen wir jetzt. Wir starten.«

Kasfok zwickte sie ins Bein.

Wir starten, jetzt sofort , tanzte sie.

Gut!

»Aber unsere Relativgeschwindigkeit wird viel zu hoch sein, Norok. Wir werden wie Fliegen gegen das Schiff prallen.«

»Wie können wir das verhindern?«

»Mir fällt nichts ein.«

»Siehst du. Tolkut wird sich in unsere Lage versetzen und auf den gleichen Gedanken kommen.«

»Und was hilft uns das?«

»Er wird sich etwas einfallen lassen. Wir müssen ihm vertrauen.«

* * *

Tolkut zog seine sechs Beine an sich heran und rollte sich zu einem Knäuel ein. Die Sphäre zog ihre Bahn. Er hatte genau eine Chance, seine Freunde an Bord zu holen, und die musste er nutzen. Das Problem war die hohe Geschwindigkeit der Sphäre. Auch wenn sie so tief wie möglich in die Atmosphäre eintauchte, würde sie noch sehr, sehr schnell sein. Wenn die beiden Iks Kasfok und Alexa wieder in einem Kokon transportierten, mussten sie von vorn kommen, und die Sphäre musste sie auffangen. Aber dabei würden sie zerquetscht werden wie ein Insekt am Schutzschirm eines landenden Raumschiffs.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Warum hatte er nicht früher daran gedacht?

Moment.

Er faltete sich wieder auseinander und kroch zu der Säule, die er als erstes untersucht hatte. Mit einem dieser Schalter hatte er die Sauerstoffkonzentration im Schiff erhöht. Wie weit würde er damit wohl kommen? Er untersuchte die Skala. Sie bezog sich nur auf die Zufuhr, nicht auf die Gesamtmenge an Sauerstoff. Tolkut schob den Hebel bis an den Anschlag. Jetzt strömte Sauerstoff in das Innere der Sphäre. Die Atmosphäre würde dichter und dichter werden, und was gab es Besseres, um seine Freunde aufzufangen, als ein dichtes Kissen aus Luft? Wenn er eine Außenluke öffnete, würde ein Teil davon abgeblasen. Er musste also die Klappe öffnen, kurz bevor sie eintrafen. Dann würde die ausströmende Atmosphäre zusätzlich bremsend wirken.

Einen kleinen Nachteil hatte seine Idee allerdings. Der hohe Sauerstoffanteil war brandgefährlich. Ein Funke würde genügen, um die Sphäre zu entzünden. Er bezweifelte, dass das Schiff das aushalten würde.

Das durfte einfach nicht passieren. Er musste es doch wenigstens versuchen!

* * *

Kimi schlug mit den Flügeln. Die Todesangst gab ihr zusätzlich Energie. Es war eine tollkühne Idee. Aber es gab keine Alternative. Sie versuchten gerade, sich von einem Raumschiff einfangen zu lassen, dessen Kapitän nichts von ihrem Plan wusste. Nein, schlimmer noch, dessen Kapitän verschwunden war und das von einem Passagier gesteuert wurde, der bis vor kurzem nicht einmal von der Existenz dieses technologisch weit überlegenen Schiffes gewusst hatte.

Verrückt, völlig verrückt. Oder war es der Grad an Verrücktheit, den man in eine schier ausweglosen Situation brauchte? Wurde die Welt denn sonst nicht von vernünftigen Individuen gerettet, die einen klugen Plan gefasst hatten und ihn konsequent verfolgten? Kimi trieb sich an. Die oberste Wolkenschicht lag schon unter ihnen. Aber sie mussten noch weiter hinauf. Hier war die Atmosphäre noch viel zu dicht. Die Sphäre war alles, was sie noch hatten, um ihre Völker zu retten, also war sie viel wertvoller als Norok, Kasfok und sie zusammen.

Kasfok klammerte sich auf Noroks Rücken fest. Zum Spinnen eines großen Kokons war keine Zeit mehr gewesen. Der Mendrak hatte ihnen aber versichert, es eine Zeitlang auch mit wenig Luft auszuhalten. Nach Noroks Berechnungen würden sie höchstens zehn Minuten so weit oben verbringen müssen, dass Kasfok keine Luft mehr bekam. Damit würde er zurechtkommen, hatte er behauptet. Und dann würde ja sowieso die Sphäre auf sie zurasen, und sie würden ihre jämmerliche Existenz an ihrer Außenhaut beenden.

Es würde ein schmerzhafter, aber sehr schneller Tod sein.

Sie sah sich um. Sie flogen nach Norden, denn von dort musste das Schiff kommen. Norok war ein paar Schwingenlängen unter ihr. Er hatte darauf bestanden, Kasfok allein zu befördern. Aber zumindest trugen sie diesmal keine Leine in den Schnäbeln und konnten sich unterhalten.

»Wie lange?«, rief sie.

»Wir müssten es bald sehen.«

Oh. Hier oben war die Luft herrlich klar, und der Blick ging schon weit um den Planeten herum. Aber die Sphäre war so schnell, dass sie nur noch wenige Augenblicke Zeit haben würden, wenn sie sie erst einmal sahen. Wie würde Tolkut sie empfangen? Sie gingen davon aus, dass eine Luke geöffnet sein würde. Wenn sie das aus ausreichender Entfernung sahen, konnten sie darauf zusteuern. Und dann? Das war Tolkuts Phantasie überlassen. Kasfok hatte spekuliert, Tolkut könnte vielleicht die Absorptionswannen umfunktioniert haben. Sie waren zwar zum Druckausgleich gedacht, aber wie sollten sie sie bei diesen Relativgeschwindigkeiten treffen? Das würde nicht funktionieren.

Am Horizont war ein blauer Punkt zu sehen, der sich rasend schnell näherte.

»Die Sphäre!«, rief Norok.

Kimi atmete tief durch. Kasfok würde nicht ersticken. Er würde wie sie alle ungebremst auf das Schiff klatschen.

Der Punkt verwandelte sich in eine Kugel. Dann öffnete sich eine schwarze, rechteckige Fläche darin.

»Die Schleuse!«, rief Norok.

Kimi korrigierte ihren Kurs und steuerte darauf zu. Sie würden also an der Innenwand des Schiffes zerquetscht werden.

Da schloss sich die Schleuse auch schon wieder. Kimi drehte sich zu Norok um, der dicht hinter ihr war. Er bewegte ratlos den Schnabel auf und ab. Was sollten sie tun?

»Und nun?«, rief sie.

»Nichts. Es hat keinen Sinn«, antwortete Norok. »Es war schön mit dir.«

Ja, es war schön gewesen mit ihm. Und ihre Kinder würden aufwachsen, ohne sie je gesehen zu haben. Falls Tolkut die Welt überhaupt würde retten können. Gleich mussten sie auf die Außenhülle der Sphäre …

Das Schiff riss sein schwarzes Maul auf. Ein heftiger Luftstrom drang heraus, versuchte, sie aufzuhalten, aber sie verschwanden in seinem Rachen. Kimi sah nichts mehr. Sie torkelte in der Finsternis, überschlug sich, eine Kraft versuchte, ihr die Flügel herauszureißen. Sie schlang sie um sich, so gut sie konnte, während sich die Luft in Watte verwandelte. Oben und unten gab es nicht mehr. Sie prallte gegen etwas Glattes, drehte sich um ihre Achse, bis ihr speiübel wurde. Kimi übergab sich im Flug. Sie verlor völlig die Kontrolle. Das war keine Luft mehr, in die sie stürzten, es schien wie eine zähe Masse. Wieder ein Schlag, der ihren rechten Flügel traf. Der Schmerz brauchte einen Augenblick, und dann radierte ihn der nächste, noch heftigere Schlag aus. Was passierte mit ihnen? Tolkut musste die Sphäre in einen Höllenmaschine verwandelt haben, die sie grün und blau schlug und zerquetschte. Kimi verlor das Bewusstsein.